Kategorien
Seiten
-

RWTH-Schreibzentrum

Archiv für November 2014

ZKS Story – Goldener Fisch

20. November 2014 | von

ZKS - Story (logo)

Ein frisch verheiratetes Paar, aber unglücklich? Und ein Fischer, der im venezianischen Abwasser nach Fischen sucht? Wie das zusammenpasst, erzählt Lars Heukens in seiner packenden und ironischen Kurzgeschichte „Goldener Fisch“, die in unserem Kurs: Kreatives Schreiben entstanden ist. Wir wünschen euch viel Spaß beim Lesen!

 


Goldener Fisch

von Lars Heuken

Roberto schnippte seine Zigarette in den Kanal. Sie landete mit leisem Zischen auf der braunen Brühe, sog sich langsam mit Wasser voll und verschwand unter der Oberfläche. Früher hatte er auf der Stufe neben der steinernen Brücke im Osten Venedigs immer Erfolg gehabt. Ja früher hatte Roberto eimerweise Fische gefangen.

Heute lag der einzige Fang des Tages in einer weißen Plastiktüte neben ihm auf dem Boden. Ein kleiner silbernen Fisch war eine magere Ausbeute für einen ganzen Tag angeln, rauchen und schnippen.

„Ich habe ein Zimmer reserviert, Fusco mein Name.“ „Willkommen im Hotel Venezia Senior Fusco, ach ja die Hochzeitssuite, sehr gerne“, antwortete der hagere Mann hinter der Rezeption auf die Frage des stilvoll gekleideten Mannes, welcher betont lässig an der Empfangstheke lehnte. „Dritte Etage links, einen schönen Aufenthalt und angenehme Flitterwochen wünsche ich Ihnen.“ „Danke“, grummelte der Gast und zog seine frisch angeheiratete Frau hinter sich her in Richtung des luxuriösen Aufzugs.

Mit leisem Surren holte Roberto die Schnur seiner Angel immer wieder ein. Auswerfen und einholen, einen ganzen Tag lang. Seine dreckigen klobigen Füße baumelten knapp über der Wasseroberfläche wie die Wurzeln eines alten knorrigen Baumes. Der modrige Duft des Salzwassers vermengt mit dem Gestank des Mülls und des Taubendrecks der Stadt stieg ihm in die Nase. Die herunterbrennende Abendsonne hatte seinen Armen eine Farbe wie die der beige-braunen Bogenbrücke neben ihm verliehen. Er stopfte sich lustlos eine neue Zigarette in den Mundwinkel und zündete sie an. Das Streichholz schnippte er in Richtung einer schwimmenden Ente, die er knapp verfehlte.

„Guck mal Darling, wie gut mein Ring zum Aufzug passt“, sagte die frisch Verheiratete zu Herrn Fusco. Dabei wedelte sie mit ihrer Hand vor seinem Gesicht. „Wenigstens ist er aus echtem Gold, 18 Karat“ murmelte er, während er versuchte den weißen Knopf mit der Aufschrift „Drei“ möglichst leger zu drücken. Die Tür schloss sich und der Aufzug setze sich in Bewegung. Ihr weißes Sommerkleid war am Morgen mit viel Sorgfalt ausgewählt worden und passte perfekt zu ihren Schuhen, welche mit einer kleinen Schleife verziert waren. Auf ihrem Zimmer ordnete sie ihre Haare und formte sie auf kunstvolle Weise zu einem Turm, während er den Fernseher testete und ihn voreingenommen als „Schrott“ bezeichnete. „Bin ich so fein genug für eine Erkundung der Stadt?“, fragte sie, während sie aus einer Flasche üppig Parfum auf sich und um sich verteilte. „Muss ich ja wohl, habe ja mit ‚Ja ich will‘ geantwortet“ sagte er und blickte teilnahmslos aus dem Fenster.

Boote waren die Feinde eines jeden Anglers in Venedig. Meist fuhren sie zu schnell und verursachten noch höhere Wellen, als sie ohnehin schon gemacht hätten. Mit ihren Motoren verpesteten sie die Luft, manche hinterließen einen leichten Ölfilm auf dem Wasser. Roberto hasste Boote. Er ging stets zu Fuß durch die engen Gassen, ein Boot hatte er sich nie leisten können, aber er hätte auch keins gewollt. Immer wenn ein Wasserfahrzeug an der Stufe neben der Bogenbrücke vorbeifuhr, bildeten sich viele Wellen. Nahezu unaufhörlich schwappten sie in Robertos Richtung. Manche waren hoch genug, um seine Füße zu erreichen. Sauberer wurden sie dadurch nicht. Oft blieb ein Stück Müll zwischen seinen Zehen hängen, welches er dann zum Ausruf eines Schimpfwortes abschüttelte.

Wie ein Gentleman half Herr Fusco seiner Frau auf ein kleines Ruderboot an einem Pier hinter dem Hotel Venezia. Ihr entging dabei nicht, dass er währenddessen nur Augen für eine zierliche Kellnerin im angrenzenden Straßencafé hatte. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren, so sehr ruhten seine Augen auf dem Hüftschwung der Espresso servierenden Schönheit. Sein Gesichtsausdruck war fast traurig, als das Boot ablegte und der Touristenführer es von der Steinkante in die Mitte des Kanals manövrierte.

Laut schnatternd schüttelte sich die Ente und flog mit schnellem Flügelschlag davon.

Diesmal hatte Roberto mit seinem brennenden Streichholz getroffen. Zufrieden wippte er mit seiner Angel, als ein Ruderboot in einiger Entfernung auftauchte. Direkt erlangte das weiße Sommerkleid seine Aufmerksamkeit.

Mit kräftigen Schlägen ruderte der Bootsführer das hölzerne Boot durch Venedig. Nebeneinander zu sitzen, hatte Herr Fusco mit einem „Nee ist mir zu eng so“ abgewimmelt, also saß das Ehepaar getrennt hintereinander. Laut und eindringlich klingelte das Mobiltelefon von Herr Fusco. Hektisch stützte er sich nach hinten, um es aus der Tasche seiner immer perfekt sitzenden Anzughose zu holen. Durch die schnelle Bewegung geriet das Boot aus dem Gleichgewicht, es schwankte und überraschte den Bootsführer mitten in seiner Bewegung. Die frisch Verheiratete verlor die Orientierung und plumpste unter lautem Geschrei in den stinkenden Kanal. Herr Fusco nahm seinen Anruf entgegen. Wild rudernd versuchte sich seine Frau über Wasser zu halten, ihre Frisur war ruiniert und erst ihr Kleid…

Roberto hatte die tragische Szene beobachtet. Er lächelte müde und erklärte den Angeltag für beendet. Seine letzte Zigarette flammte auf, und er schob seine Füße in ein Paar ausgetretene Badeschlappen. Den Fisch legte er in der Tüte zurecht und begann die Angel einzuholen.

Der Bootsführer ergriff die Initiative und streckte seinen Arm aus, um die Frau zu retten. Herr Fusco sah das nur aus dem Augenwinkel, sein Telefonat hatte höhere Priorität. Mit großer Anstrengung zog der Bootsführer die nasse Frau an Bord. Ihre Haare hingen ihr ins Gesicht, einige Plastikreste hatte sich darin verfangen. Ihr Blick senkte sich auf ihre Hand. „Neeein, der Ehering ist weg!“, schrie sie erbost. Sie begann zu weinen. Herr Fusco beendete das Telefonat in diesem Moment und antwortete kühl: „Naja, vielleicht hat es nicht sollen sein.“
Die letzte Zigarette ging zu Ende, Roberto schnippte sie in den vom Sonnenuntergang beleuchteten Kanal. Mit leisem Surren glitt die Schnur durch in die Rolle seiner Angel.

Er griff zur Tüte mit dem Tagesfang und schulterte die Rute. Fast hätte Roberto das goldene Schimmern an seinem Haken übersehen.

ZKS Story – Der Auftakt

11. November 2014 | von

ZKS - Story (logo)„Es war einmal… „, so klassisch fangen unsere Kurzgeschichten wohl nicht mehr an! Die neue Storyreihe des ZKS lässt sich eher mit: Studentisch, kreativ und definitiv lesenswert beschreiben! In regelmäßigen Abständen liefern wir euch ab sofort die schönsten Kurzgeschichten. Und das Beste: alles ist selbstverfasst von unseren Studierenden!

„Der gefährlichste Flugabschnitt“, so heißt die erste unserer Kurzgeschichten von Amelie Bender.

Also: Boarding started – wenn ihr bereit seid, geht’s los!


Der gefährlichste Flugabschnitt

„Passagiere für den Flug AB4389 nach München bitte zu Gate 13, das Boarding startet jetzt.“

Aufgeregt stellte ich mich in die Schlange am Gate an und konnte es kaum erwarten der Stewardess mein Flugticket zu zeigen. Als ich schließlich vorne stand, hätte ich es vor Aufregung fast fallen gelassen. Die Stewardess lächelte mich freundlich an, checkte mein Ticket und wünschte mir einen guten Flug. Durch einen relativ langen Finger näherte ich mich dann dem Flugzeug, das mich nach München bringen sollte: mein erster Zwischenstopp. Vor dem Eintreten berührte ich kurz mit den Fingern die weiße Außenwand, sie fühlte sich stabil und kühl an. Drinnen war der Flieger schon gut gefüllt: Deutsche, englische, sogar dänische Wortfetzen drangen an mein Ohr. Neben mir auf den Plätzen 14b und c saß ein junges Pärchen, das verträumt aus dem Fenster starrte. Minuten später rollten wir zur Startbahn. Ich setzte mich gerade hin und versuchte mich auf die Stewardessen zu konzentrieren, die uns Passagiere auf die Sicherheitsvorkehrungen hinwiesen. Doch wir durften noch nicht abheben. Schnell schob ich mir noch ein Kaugummi gegen den Ohrendruck in den Mund und richtete meinen Blick auf die ausgeklappten Bildschirme, welche die Startbahn vor uns zeigten. Unzählige Signale blinkten am Boden. Wer sollte denn da durchblicken? Kurz darauf setzten wir uns in Bewegung, erst langsam, dann immer schneller. Die Sekunden zogen sich in die Länge, der Lärm der Turbinen dröhnte in meinen Ohren und das Fahrbahnende kam beängstigend schnell näher. Heb endlich ab! Der Pilot schien auf meine Ängste gehört zu haben, denn in diesem Moment hob sich die Nase des Fliegers und ich spürte, wie ich in meinen Sitz gedrückt wurde. So schnell, als wollte ich ein Wettessen gewinnen, kaute ich auf meinem Kaugummi herum, schob es von einer Mundseite zur anderen und starrte auf den blauen Himmel auf dem Bildschirm. Ich hasste das Gefühl von einer scheinbar unsichtbaren Macht in den Sitz gedrückt zu werden, ich hasste den Druck auf den Ohren und vor allem hasste ich die Ungewissheit, ob wir den Abflug schaffen würden.

 

Hatte ich aus dem Augenwinkel gerade einen Vogel am Fenster vorbeifliegen sehen? Plötzlich ruckelte der Flieger samt Inventar, Crew und Passagieren. Ängstlich drückte ich gegen meine Rückenlehne, doch sie hielt stand, sie war nicht abgerissen. Auch der Sitz schien noch fest am Boden montiert und versuchte mir Halt zu geben. Dennoch war der Ruck nicht nur mir durch Mark und Bein gefahren. Wirre Wortfetzen drangen an mein Ohr. Kinder schrien. Irgendwo klingelte leise ein Wecker, den ein Gast wohl im Handgepäck verstaut hatte. Erneut durchfuhr mich ein Ruck. Bildete ich mir das nur ein oder hörte sich die Turbine an meiner Seite irgendwie ungesund? Ein Blick aus dem Fenster konnte mir jedoch nicht helfen, denn draußen herrschte grauer Einheitsbrei. Wo ist das schöne Wetter hin? Schnell wandte ich den Blick ab und rutschte unruhig in meinem Sitz hin und her. Auch wenn ich draußen nichts hatte erkennen können, das Gefühl in meinem Bauch trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Mit feuchten Händen umklammerte ich die Lehne und starrte auf den Bildschirm. Sind wir noch schnell genug? Allerdings zeigte der Bildschirm weder unsere Geschwindigkeit noch unsere Höhe an. Mein Atem rasselte als würde ich persönlich hinter dem Flugzeug herlaufen und es anschieben. Mein Gefühl sagte mir, dass wir immer langsamer wurden. War es dafür nicht noch viel zu früh? Wir konnten unsere Flughöhe noch nicht erreicht haben. Wieder ruckelte es. Ich wurde heftig im Sitz hin und her gerissen, stieß mit dem Kopf gegen die Kabinenwand und sah erstmal gar nichts mehr. Tränen schossen mir in die Augen, während ich nach der Wunde tastete. Um mich herum schrien die Menschen. „Wir stürzen ab!“ Noch bevor mein Kopf die Worte verarbeiten konnte, reagierte mein Bauch. Mein Frühstück widersetzte sich der Natur und bewegte sich wie eine Lawine meine Speiseröhre bergauf, denn wir verloren an Höhe. Schnell. Zu schnell. Ich presste meine Lippen aufeinander. Durch den Tränenschleier blitzte es rot auf. Irgendwas Hartes streifte meine Schulter. Ich klammerte mich mit aller Kraft an den Sitz. Der Sicherheitsgurt bohrte sich in meinen Bauch. Der Lärm schwoll an. Bis alles in einem ohrenbetäubenden Erdbeben unterging und schwarz wurde.

Der Wecker klingelte. Sofort saß ich aufrecht im Bett und schnappte nach Luft. Nachdem ich ein paar Mal tief eingeatmet und wieder ausgeatmet hatte, galoppierte mein Herz immer noch in meiner Brust. Der Flieger war nicht abgestürzt, er war noch nicht einmal gestartet. Ich befand mich noch immer in meinem Bett in Hamburg. Ich gönnte mir ein paar weitere Sekunden Erholung, bevor ich aufstand, um pünktlich am Flughafen zu sein. So stand ich eine Viertelstunde später in der Küche und frühstückte eine Schale Müsli. Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger vor lauter Aufregung, aber ohne Frühstück ging ich nie aus dem Haus. Da die Autobahn zu dieser frühen Stunde noch kaum befahren war, kam ich schneller als gedacht ans Ziel. In der noch leeren Abflughalle suchte ich mir einen Platz in der Nähe der Fenster und betrachtete die Flugzeuge vor der Scheibe, die im elektrischen Licht wie große weiße Kraniche strahlten. Welches wohl mein Flieger sein würde? Wie durch einen Nebelschleier nahm ich wahr, dass sich die Plätze um mich herum langsam füllten. Allmählich begann es vor dem Fenster zu dämmern, ungeduldig wippte ich mit den Beinen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich auf die Uhr geschaut hatte, als endlich mein Flieger aufgerufen wurde: „Passagiere für den Flug AB4389 nach München bitte zu Gate 13, das Boarding startet jetzt.“

Die Schlange am Gate war schon erstaunlich lang, als ich ihr Ende erreichte. Es gab immer genug Leute, die in der Gate-Nähe nur darauf warteten, dass das Boarding begann und sie wie eine Horde wilder Pferde losstürmen konnten. Als ich den Kopf der Schlange bildete, zeigte ich mit zittriger Hand dem Bodenpersonal mein Ticket. Die junge Frau lächelte mich an, checkte das Ticket und wünschte mir einen guten Flug. Ein langer Finger führte mich und die anderen Passagiere zum Flieger. Dieser stand sicher auf dem Boden und wies keine großen Makel auf, wie ich feststellte, als ich seine Außenwand kurz berührte. Dennoch war ich unsicher, als ich durch die Tür eintrat. Ich atmete tief durch und ging zu meinem Sitz 14a. Ich schluckte, setzte mich hin und schnallte mich sofort an. Es war nur ein Traum. Mit feuchten Händen verfolgte ich wie die Stewardessen die Sicherheitsvorkehrungen durchgingen, nachdem die Türen geschlossen worden waren, und starrte anschließend auf den ausgeklappten Bordbildschirm vor mir. Das Kaugummi, das ich mir in den Mund schob, hatte keine Chance gegen meine Zähne, die zur Hochleistungsbearbeitung des Kaugummis ansetzen. Nebenbei versuchte ich gleichmäßig zu atmen und krallte die Finger doch in die Armlehnen. Wir rollten los, aber nur bis zum Ende der Startbahn, dort hielten wir erneut an. Wieder keine direkte Abflugerlaubnis. Ich wünschte, wir wären schon da.

Dann setzte sich der große, weiße Vogel in Bewegung. Um mich abzulenken, stellte ich mir gerne vor, wie wir zuerst ein Känguru, dann einen Leoparden und zuletzt einen Geparden überholten, bevor das Flugzeug schließlich abhob. Parallel zu meinem Gedankenspiel hob sich die Nase des Flugzeugs und wir hoben tatsächlich ab. Die gefährliche, unsichtbare Macht presste mich in die Polster. Ich schob das Kaugummi von einer Backe in die andere – Außenstehende hätten meinen können, ein Flummi würde in meinen Backen hin und her springen. Gleichzeitig dachte ich im Gleichtakt mit meinem Atem: einatmen, ausatmen. Es ruckelte. Bitte nicht schon wieder. Es ruckelte noch einmal. Ich kniff die Augen zu und wartete auf Schreie, doch das Flugzeug beruhigte sich wieder etwas. Weitere Minuten wurden wir leicht durchgeschüttelt, bevor der Himmel das Flugzeug aufnahm und wir uns ungestört vorwärts bewegen konnten. Ich hingegen entspannte mich wesentlich langsamer. Erst nachdem die

Anschnallsignale ausgeschaltet wurden und der Pilot uns begrüßt hatte, beendete mein Herz seinen Sprint. Wir hatten einen der gefährlichsten Flugabschnitte überstanden: den Start. Das Mädchen neben mir lächelte mich mitfühlend an.

„Keine Angst, der Flug ist nicht lang. Wir sind schneller wieder unten, als du denkst.“

Das waren nicht gerade die Worte, die mich aufmunterten.

„Ich glaube, die Stewardess wird unsere Reihe besonders betreuen müssen.“

Sie wies auf die zwei jungen Frauen auf der anderen Seite des Gangs. Die Gesichtsfarbe der Rothaarigen war käsig, dennoch starrte sie mit funkelnden Augen auf den Bildschirm vor ihr. Ihre Sitznachbarin hingegen hatte keinen Blick übrig für das Geschehen außerhalb des Fliegers, da ihr Kopf in einem Spuckbeutel steckte. Sie machte jedoch keine Geräusche. Ich lächelte meine Nachbarin an und erzählte ihr mit leiser Stimme von meinem Traum der letzten Nacht. Sie beruhigte mich, dass es nur ein Traum gewesen sei und wir sicherlich gut in München landen würden. Ich nickte. Dann wandte sie sich ihrem Freund zu, der auf ihrer anderen Seite saß, und gemeinsam betrachteten sie breit lächelnd die Wolkenformationen vor dem Fenster. Mit den großen Wolkenbergen wollte ich mich jetzt lieber nicht befassen. Mit Wolken verband ich Turbulenzen und an die wollte ich gerade definitiv nicht denken.

Also nahm ich mir meinen Australien Reiseführer aus der Sitztasche und blätterte ziellos hin und her. Ich wusste, dass ich mich nicht mit meiner Angst beschäftigen sollte. Es würde nur schlimmer werden. Dahingegen stellte der Reiseführer etwas Schönes dar, denn er sollte mir helfen das nächste Jahr in Australien glücklich zu leben. Mein Blick blieb an einem Bild, der gefährlichsten Spinne der Welt hängen, die in Australien lebte. Ich wusste über die Gefahren Bescheid, die dieses Land barg: angefangen bei den giftigen Zähnen der Spinnen und Schlangen bis zu den kräftigen Fäusten der roten Riesenkängurus. Dennoch fürchtete ich mich weniger vor der Natur als vor dem Ungewissen. Wie wird mein Leben dort aussehen? Ich allein am anderen Ende der Welt ohne einen Plan für das nächste Jahr? Das war nicht meine Art, aber ich wollte etwas Neues wagen und außerdem wollte ich schon so lange mal nach Australien, in mein Traumlandparadies.

Die Stewardess riss mich aus meinen Träumen, als sie neben mir mit Papiertüten raschelte. Erleichtert vernahm ich aber weiterhin keinen unangenehmen Geruch. Das Mädchen auf der anderen Seite des Gangs hatte die Papiertüte im Schoß liegen und hielt ein Glas Wasser mit beiden Händen fest umklammert. Nachdem die Stewardess weitergegangen war, bot ich ihr meinen Reiseführer zum Ablenken an – ich hatte schließlich noch genug Zeit ihn während meiner Flüge zu lesen. Lächelnd nahm sie ihn entgegen. Wir redeten kurz über unsere Reiseziele, bevor sie sich dem Buch zuwendete.

Ich schloss die Augen und dachte an mein Ziel. Ein leichter Wind wehte. Ich roch das Salz des Meeres, spürte den warmen Sand unter meinen Füßen und fühlte die wohlig warme Sonne auf meiner Haut. Dann nahm der Wind zu, zerrte an meiner Kleidung und schleuderte mir meine vom Salz verkrusteten Haare ins Gesicht. Ich roch Feuer. Schnell riss ich die Augen auf, bevor mein Tagtraum komplett außer Kontrolle geriet.

Vorsichtig schnupperte ich. Kein Feuer, aber es roch nach verbranntem Toast und der Wind war auch nicht erträumt, es ruckelte schon wieder. Ich atmete tief ein und wagte einen Blick aus dem Fenster.

Das hätte ich besser bleiben gelassen. Es hatte sich nicht nur zugezogen, es war pechschwarz draußen. Wir flogen mitten durch ein Gewitter. Die Anschnallsignale blinkten schlagartig auf, was für mich keine Handlung bedeutete – ich war noch angeschnallt. Wieder krallte ich meine Finger in die Sitzlehnen, die meine Sitznachbarin glücklicherweise nicht benötigte, da ihr Freund ihre Hände in den seinen hielt. Wir wurden durchgeschüttelt. Es nahm überhaupt kein Ende. Jeder Blick aus dem Fenster hielt mir vor Augen, dass noch keine Besserung in Sicht war. Dann musste sich selbst noch die Crew hinsetzen. Am liebsten hätte ich aufgeschrien. Warum war ich ausgerechnet heute bei diesem Wetter in das Flugzeug gestiegen? Vielleicht hätte ich meinen Traum als Omen sehen sollen? Nein, ich war nicht abergläubisch. Eigentlich passierte bei Turbulenzen in der Luft auch nur äußerst selten was. Start und Landung waren viel gefährlicher. Einatmen, ausatmen. Neben mir knisterte es. Ich entdeckte braune Haare, die aus einer Papiertüte zu wachsen schienen. Die Rothaarige neben ihr hatte ihr eine Hand auf den Rücken gelegt, sah aber aus wie ein Zombie, genauso wie ich mich fühlte. Mein Reiseführer befand sich in Sicherheit in ihrer Sitztasche, wo ich ihn allerdings nicht erreichen konnte, um mich abzulenken.

Mein Traum würde sich erfüllen, in etwas mehr als einem Tag würde ich erstmals australischen Boden betreten. Ich freute mich auf die Erfahrungen, die Landschaft, die netten Australier – zumindest hatte ich schon von vielen gehört, wie hilfsbereit die Menschen dort waren. Plötzlich verloren wir ein paar Meter, fielen wie in ein Loch und mein Frühstück drohte mir aus meinem Magen. Ich schluckte, während ein paar Kinder weinten und ihre Mütter versuchten sie zu trösten. Meine Fingernägel bohrten sich wie Krallen in den Stoff der Lehnen und stießen auf das Plastik darunter. Ich wusste, dass so ein Flugzeug stabil in der Luft lag; würde es hingegen zum Aufprall kommen, würde es wie ein Spielzeug zerbrechen. Keine schöne Vorstellung.

„Bitte bleiben Sie angeschnallt an Ihren Plätzen. Wir setzen nun zur Landung an und es kann turbulent werden.“, ertönte die Stimme des Co-Piloten aus den Lautsprechern.

Dürfen die bei den Bedingungen überhaupt landen? Ist das nicht zu gefährlich? Ich hoffte inständig, dass der Pilot wusste, was er tat. Andererseits durfte nur ein Pilot mit viel Erfahrung einen derartigen Flug übernehmen, ich musste ihm vertrauen.

Hatte ich gerade das Gefühl, wir wären durchgeschüttelt worden, so lernte ich nun, was das wirklich hieß. Ich knallte gegen alle möglichen Ecken, während ich die Grenzen des Sicherheitsgurtes ungewollt austestete, der den wilden Kräften zwar standhielt, mich ihnen aber auch aussetzte. Als ich mit dem Kopf gegen die Kabinenwand knallte, dröhnte nicht nur mein Kopf, sondern auch mein Herz. Es schlug so laut wie nie zuvor. Es verdeutlichte mir den Lärm im Flieger, während ich durch einen Tränenschleier kaum etwas sehen konnte. Zum Erholen blieb mir jedoch keine Zeit, da ich bereits wieder nach hinten gerissen wurde. Ungeschickt tastete ich nach meiner Schläfe. Der Aufprallort pochte, als säße mein Herz direkt hinter meiner Schläfe, doch Blut fühlte ich keins. Meine Sitznachbarn hatten sich vornübergebeugt und an ihre Vordersitze gelehnt. Ich kannte die Pose von Bildern. Sie versuchten sich vor dem Absturz in eine sichere Position zu bringen. Nein, nein, nein. Um mich herum schrien die Leute. Angst hört sich in jeder Sprache gleich an, ob englisch, deutsch oder dänisch. Eine Handtasche streifte meine Schulter und verfehlte meinen Kopf um Zentimeter. Ich zuckte zusammen.

Ein Blitz riss meine Aufmerksamkeit zum Fenster. Draußen war es für einen Augenblick heller als drinnen. Doch der Anblick all der Wolken und der zitternden Flügel ließ mich schlucken. Wie will der Pilot bei den Bedingungen die Landebahn treffen? Ich zog meinen Sicherheitsgurt enger, auch wenn er sich dann in meinen Bauch bohrte, so verlor ich wenigstens nicht so schnell das Bewusstsein. An Australien denken half nicht mehr, es klappte auch nicht mehr, die Realität beanspruchte mich und meine Gedankenwelt. Im Sekundentakt traf uns eine neue Windwelle und riss das Flugzeug wie ein Schiff auf hoher See gefährlich hin und her. Krampfhaft spannte ich meine Muskeln an und versuchte den Kollisionen mit Flugzeuginventar oder Handgepäck aus dem Weg zu gehen. Doch es klappte nicht allzu gut, da mir mein Körper nicht voll gehorchte. Ich zitterte. Als ein nasser Fleck auf meinem Bein entstand, realisierte ich, dass mir Tränen aus den Augen liefen. Mit meinem Ärmel wischte ich sie weg.

Wenn ich gesund landen sollte, wusste ich nicht, ob ich jemals wieder in ein Flugzeug steigen würde, auch nicht nach Australien. Neben mir erklangen Würgegeräusche. Auch mein Mageninhalt pochte nun kräftiger gegen meine Speiseröhre. Ich versuchte ihn runter zu schlucken, doch wir verloren an Höhe, was mein Vorhaben nicht begünstigte. Ich versuchte mir einzureden, dass es normal sei bei der Landung Höhe zu verlieren, aber mein Herz ließ sich nicht beruhigen. Es schlug unglaublich schnell. Zu schnell für meinen Geschmack. Ich presste meine Lippen aufeinander. Irgendwas Hartes streifte meinen Kopf. Ich klammerte mich mit aller Kraft an den Sitz. Der Sicherheitsgurt bohrte sich in meinen Bauch. Der Lärm schwoll an. Bis alles in einem ohrenbetäubenden Erdbeben unterging und schwarz wurde.

Hell und dunkel. Irgendwo musste Licht sein. Rauschen drang an mein Ohr. Ich spürte das weiche Bett unter meinen Fingern. Traum oder Realität? Wortfetzen erreichten mein Gehirn, ergaben aber keinen Sinn. Ich öffnete die Augen. Weiß strahlte die Decke im Tageslicht und blendete mich. Warum steckt ein Schlauch in meiner Hand? Dann kam der Schmerz und ich presste die Augen wieder zu. Meine Fragen waren beantwortet. Vorerst.