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RWTH-Schreibzentrum

Kategorie: ‘Journalistisches Schreiben’

Aachens erster Insektenburger – überraschend saftig und nussig

19. September 2018 | von

Joel Teichmann: Revolution aus der Tiefkühltruhe – der Insektenburger

Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 im Kurs Journalistisches Schreiben

veröffentlicht in der AZ/AN im Teil Lokales


 

Revolution aus der Tiefkühltruhe – der Insektenburger

 

„Bitte probieren Sie!“ Vorsichtig begutachtet die junge Frau das handbeschriebene Schild auf der Kühltruhe. Na, was denn probieren? Ihr Blick schweift vom Papier-Schildchen zu den kleinen braunen Stückchen, die jeweils von einem Holzstäbchen durchstochen sind. „Deutschlands erster Insektenburger“, steht großgeschrieben darüber. Die Augen der Frau weiten sich, unsicher macht sie einen Schritt zurück. Ein letztes Mal blickt die Dame auf die Probestücke, bevor sie sich angewidert schüttelt und in Richtung Kasse flüchtet.

DEUTSCHLAND, KOELN, 09.10.2017, ifood conference 2017 auf der ANUGA, Boris Oezel und Max Kraemer © Joerg Sarbach

 

Die Larven des Getreideschimmelkäfers haben den Weg in die Aachener Supermärkte gefunden. Seit April dieses Jahres verkauft Rewe Reinartz in seinen beiden Filialen in Eilendorf und an der Lütticher Straße den Insektenburger. Zwar greift nicht jeder Kunde zur neuen Rindfleisch-Alternative. Dennoch: Schon nach wenigen Wochen war der Burger ausverkauft. Allerdings vergingen Jahre der Entwicklung und Tüftelei, bevor die Larven-Bulette in der Kühltruhe landen konnte.

Die Geschichte beginnt im Jahr 2013 in Südostasien: Baris Özel schlendert mit seinem Sandkastenfreund Max Krämer durch die Straßen Bangkoks. Vorbei an Händlern, die ihre Ware am Straßenrand verkaufen. Der Duft gebratenen Essens liegt in der Luft. Vor einem Straßenhändler halten sie an und blicken in eine Pfanne, randvoll gefüllt mit Insekten. Die zwei Urlauber sind neugierig, probieren die kleinen Tierchen. „Es überkam uns“, sagt Özel später. „Obwohl nicht alles schmeckte.“ Und so wird dieser Tag die beiden Freunde zu künftigen Geschäftspartnern machen. Zu den Erfindern des ersten Insektenburgers in Deutschland.

Die Insektenzucht sei ein wichtiger Baustein zur nachhaltigen Nahrungssicherung, konstatiert die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen bereits vor fünf Jahren. Im Vergleich mit der klassischen Rindfleischproduktion benötigen sie gerade einmal ein Zehntel der Futtermittel und produzieren ein Hundertstel der Treibhausgase, wirbt der Insektenburger auf seiner Verpackung. Besonders in Asien kommen Wurm und Käfer daher bereits jetzt täglich auf den Tisch. Rund zwei Milliarden Menschen ernähren sich weltweit von den krabbelnden Lebewesen – ein Drittel der Menschheit. Warum also nicht in Deutschland?

Zu Beginn ist die Geschichte des Insektenburgers eine Geschichte des Scheiterns. Özel und Krämer, damals Studenten der Geographie und BWL, bestellen sich essbare Insekten im Internet. Der WG-Mixer soll die Tierchen in einen homogenen Klumpen verwandeln. Auf den Versuch folgt prompt die Enttäuschung: „Unser Burger sah noch nicht gut genug aus“, erklärt Özel. Mithilfe des deutschen Instituts für Lebensmitteltechnik gelingt schließlich der Durchbruch: Der Insektenburger kommt im Oktober 2015 in zwei belgischen Gastronomiebetrieben auf die Speisekarte, die beiden Freunde gründen das Unternehmen „Bugfoundation“. Ein Verkauf in Deutschland bleibt hingegen untersagt. Insekten sind kein Essen, heißt es. Eine Ausnahmegenehmigung und zahlreiche strenge Auflagen wären beim Verkauf zu beachten. Ein EU-weites Lebensmittelgesetz Anfang des Jahres 2018 ändert diese Einstellung. Seitdem dürfen auch hier die Krabbeltierchen verspeist werden. „Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder“, erinnert sich Özel. Der Weg für Deutschlands ersten Insektenburger war frei.

Schnell wird die WG zu klein und die Larven-Zucht zum niederländischen Unternehmen „Protifarm“ ausgegliedert. Vier bis sechs Wochen liegen die Würmchen dort zwischen tausenden Artgenossen in riesigen Behältern herum. „Massentierhaltung ist für die Larven das Paradies“, erläutert Özel. Schließlich sei das ihr gewohnter Lebensraum, sagt er. Nach der Brutzeit werden die Larven in eine Kühlkammer gebracht, wo sie in Schockstarre fallen und sterben. Ein Wärmebad soll anschließend die verbliebenden Keime abtöten. Etwa tausend solcher Larven formen einen Burger-Patty.

Zielgerichtet steuert ein dunkelhaariges Mädchen auf die Probestückchen im Rewe-Markt zu. „Bitte probieren Sie“, liest sie und blickt in die Truhe. Insekten also. Die Jugendliche zögert kurz, greift dann aber zu. „Schmeckt wie Falafel“, sagt sie grinsend. Ob sie es kaufen würde? Das Mädchen nickt eifrig. Nächstes Mal vielleicht.

Der Insektenburger, er schmeckt also. Zumindest waren sich darin sechs Tester und Testerinnen einig. „Wir haben den Fokus auf den Geruch und Geschmack gesetzt“, erklärt Erfinder Baris Özel. Getreu dem Motto: Die Nase isst mit. Neben den Buffalowürmern beinhaltet ein Patty unter anderem Soja, Tomatenmark, Ei, Zwiebeln und Gewürze. Generell soll es ein hochwertiges und seriöses Produkt sein, keine Mutprobe. „Es ist eben kein Lutscher mit sichtbaren Insekten“, betont Özel. Dschungelcamp und Insektenburger – das seien zwei völlig verschiedene Welten, so der Entwickler.

Und Erfolg scheint der Burger bisher auch zu haben. Die Tiefkühltruhe im Supermarkt an der Lütticher Straße ist zur Hälfte gefüllt. Im April sah das noch anders aus. Der Aachener Supermarkt war der erste Markt bundesweit, der ernsthaftes Interesse an dem Insektenburger zeigte. Und folglich auch dessen erste Verkaufsstätte in Deutschland – die Aufmerksamkeit dementsprechend hoch. Ausgerechnet am ersten April verkündete das Unternehmen den Verkauf des neuen Produkts. Ein Aprilscherz? Fehlanzeige. „Der eigentliche Scherz war, dass es kein Scherz war“, erläutert Bastian Neumann, Leiter der Filiale an der Lütticher Straße.

400 Packungen wurden zur Premiere bestellt, innerhalb von zwei Wochen waren sie ausverkauft. „Ein überragender Wert“, erklärt Michael Reinartz, Betreiber der beiden Rewe-Filialen. Von tiefgekühlten Rindfleisch-Pattys würden hingegen gerade einmal fünf bis sechs Packungen wöchentlich über die Ladentheke rutschen. 5,99 Euro kostet eine Insekten-Packung: gefüllt mit zwei großen oder alternativ sechs kleinen Pattys. „Klingt erstmal viel“, sagt Neumann. „Liegt aber im gehobenen Rindfleischniveau“. Der Grund: Derzeit sind die Rohstoffpreise der Krabbeltierchen sehr hoch, die Insektenindustrie ist noch klein. Im September automatisiert Züchter „Protifarm“ seine Anlage – vielleicht der erste Schritt zu einem preiswerteren Burger.

Der Erfolg in Aachen kommt aber nicht von ungefähr. Mit Plakaten warb der Rewe anfangs massiv für das neue Produkt – am Templergraben, Ponttor, rund um die Universität und generell dort, wo sich Studierende aufhalten könnten. „Sie sind eine mögliche Zielgruppe“, meint Neumann.

Inzwischen können jedoch nicht nur Aachener den Insektenburger im Supermarkt kaufen. Der gesamte Rewe Süd – mehr als hundert Filialen – sind nachgezogen. Auch dort komme der Burger überdurchschnittlich gut an, berichten die Entwickler. Ganz ohne Werbung.

Dennoch mag sich nicht jeder an Insekten im Lebensmittelbereich gewöhnen. Besonders in sozialen Netzwerken häuft sich auch Kritik. „Es ist für unsere Breitengrade nicht typisch“, war mehrfach zu lesen. Michael Reinartz lässt sich davon nicht beeindrucken. „Was ist denn typisch? Blutwurst?“, fragt er und runzelt die Stirn. „Wohl eher nicht.“ Schließlich zähle das vor allem bei den jüngeren Leuten keineswegs zu den Lieblingsspeisen. Der Erfolg gibt dem Rewe-Betreiber Recht.

Bislang seien es vor allem jüngere Leute, die den Insektenburger probieren, erklärt Reinartz. Selbst der Filialleiter sieht überrascht aus, als eine ältere Dame anstandslos auf die Probestückchen zusteuert. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt gewusst, was genau dort ausliegt, dann wäre sie wie viele ihrer Vorgänger an den Würfelchen vorbeigehuscht, wird sie später zugeben. Doch sie probiert – unwissend. „Ich dachte, das sei Schokolade“, lacht sie und bemerkt selbst: „Das war es wohl nicht“. Dass es stattdessen Insekten waren? „Schmeckt man nicht“, sagt sie. Denn der Insektenburger schmeckt überraschend. Überraschend normal. Nussig und saftig.

 

 

 

Menschenhilfe Hautnah und aus erster Hand

06. September 2018 | von

Ina Thomas: Eine Führung durch das Caritas-Werk in Imgenbroich

Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 im Kurs Journalistisches Schreiben

veröffentlicht in der Zeitung Ausgabe Nordeifel


Eine Führung durch das Caritas-Werk in Imgenbroich

Von Ina Thomas.

Till sitzt hinter einer Glasscheibe am Empfangstresen. Sobald jemand die „Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH (kurz: CBW)“ in Imgenbroich betritt ist Till zur Stelle: Alle Anrufer von auswärts kommen zunächst bei ihm an, er leitet diese dann in Absprache mit seinen Kollegen weiter. Genauso bei einer wichtigen Bekanntgabe, wie zum Beispiel, wenn der Fußballkurs ausfällt: Till hält die Taste auf dem Telefon und spricht die Durchsage. Der seh- und gehbehinderte junge Mann ist bereits seit 2005 im Werk in Imgenbroich. Der Empfangstresen ist sein absoluter Lieblingsarbeitsplatz.

Von hier aus übernimmt Christina Borg, Sozialarbeiterin der CBW, die Führung durch das Werk. Sie hat Soziale Arbeit studiert und arbeitet seit 2014 in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
In der Städteregion Aachen gibt es insgesamt sechs Standorte der Caritas GmbH, dabei sind unter anderem Wäschereien, Schreinereien, Nähereien und Druckereien. Das Werk in Imgenbroich hingegen besteht hauptsächlich zur Metallverarbeitung. Dazu gehört neben dem heilpädagogischen Arbeitsbereich, die „Metallwerkstatt“, in der wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet wird, die „Stanz-/Montage-Abteilung“ und den Arbeitsbereich der „Montage und Verpackung“. Hier arbeiten vor allem Menschen, die schwer eingeschränkt sind oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Auch Till und Juliane waren zuerst hier.

Wenn man durch die Sicherheitstüren und die große Lagerhalle geht, vorbei an der Glasfaserwolle und den Spanplatten, sitzt Juliane an einem Tisch im Büro. Sie wollte nach dem Schulabschluss eigentlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, doch das hat nicht funktioniert. Daraufhin kam sie zur CBW und nimmt jetzt am Berufsbildungsprogramm teil. Mittlerweile hat sie sich in Imgenbroich gut eingefunden und viele Freunde in der Werkstatt, aber trotzdem ist das für sie nicht von Dauer: „Ich gehöre hier eigentlich nicht hin“, sagt sie, und bindet sich dabei den Zopf neu. Juliane hat zahlreiche Praktika absolviert, z.B. in der Jugendherberge „Hargard“ oder im Einzelhandel bei „Takko Fashion“. Das will sie weiterverfolgen: Die Simmeratherin hat nur eine geringe geistige Einschränkung und hofft, dass sie nach ihrer Ausbildung auf den Arbeitsmarkt vermittelt werden kann. Darauf wird sie hier vorbereitet.

Der Berufsbildungsbereich (kurz: BBB) gleicht einer Ausbildung, die Menschen mit Behinderung bei der CBW absolvieren können. Jeden Mittwoch ist Schule, ansonsten sind sie in der Werkstatt. Insgesamt dauert das Programm 27 Monate und hat das Ziel, die Beschäftigten in mindestens drei Bereiche einzuarbeiten. Oft ist es jedoch schwer, sie in verschiedenen Abteilungen unterzubringen, wenn sich die BBBs einen gewissen Bereich ausgeguckt haben. „Dann müssen wir ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten, aber meistens funktioniert das auch gut.“ so Dana Bouamoud, Begleiterin des Berufsbildungsprojekts.

Heilpädagogischer Arbeitsbereich

Es klingeIt. Pause. Einige Beschäftigte laufen zum heilpädagogischen Arbeitsbereich (kurz: HPA): „Wenn sie ein bisschen Zeit haben, rennen viele aus der Werkstatt rüber und spielen ein bisschen mit den Leuten aus dem HPA.“, erzählt Borg. Im Gegensatz zur Werkstatt arbeiten hier vor allem schwerst-mehrfach behinderte Menschen. Jeder muss also ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Arbeit leisten, so verlangt es die Gesetzgebung in NRW. Natürlich ließe sich das ziemlich frei definieren, da die Menschen zwar gefördert aber nicht gedrängt werden sollen. „Sie machen nur das, was für sie tragbar ist. Das kann also auch heißen, dass ihre Aufgabe ist, pro Tag ein Blatt Papier zu schreddern“, erklärt die 29-jährige Sozialarbeiterin.

Dietmar ist ein Mitarbeiter der Stanz- und Montageabteilung. Im Gegensatz zu Juliane hat der geistig-behinderte Mann früher auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Jahrelang hat er in einer Kneipe in Roetgen hinter der Theke gestanden. Vor sechs Jahren kam er dann in die Werkstatt in Imgenbroich. Hier arbeitet er an den unterschiedlichsten Maschinen in der Halle. Daran kleben überall Bilder und Zeichen, die den Arbeitsablauf erklären. Es sind also ganz normale Industriegeräte, nur eben etwas bedienerfreundlicher. „Ja klar, hier ist der Umgang mit den Kollegen und dem Stress einfach viel besser, als bei meinem alten Arbeitsplatz“, antwortet er auf die Frage, ob er im Werk Imgenbroich bleiben möchte.

Geringe, aber erfolgreiche Weitervermittlung

Eigentlich ist ein Ziel der Betriebs- und Werkstätten GmbH jedoch, geeignete Beschäftigte auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Im Jahr 2017 sei dies bei 8 von etwa 1200 Beschäftigten gelungen, so Christina Borg. Auch wenn das sich nach wenig anhöre, sei das völlig normal: „Viele der Mitarbeiter mit Behinderung wollen gar nicht woanders arbeiten, weil sie hier eine Sicherheit haben, die man bei keinem anderen Arbeitsplatz hat.“

Einer der Betreuer ist Timo Steffens. Er war zuvor, genau wie die anderen Betreuer, Handwerker. Die Zusatzqualifikation für die Arbeit mit Behinderten kam erst dazu, nachdem er bei der CBW seinen Zivildienst leistete. Der Unterschied zwischen einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und einem anderen handwerklichen Betrieb sei für ihn vor allem das Soziale: Man sei oft Ansprechpartner für persönliche Probleme, was in anderen Betrieben eher selten vorkommt. „Da könnte ich auch sagen: ‚Interessiert mich nicht, wir sind hier auf der Arbeit.‘ Aber das macht man natürlich nicht“, betont Steffens.

Im Gegensatz zu reinen Betreuungseinrichtungen hat hier auch die wirtschaftliche Leistung einen hohen Stellenwert. Es werden also genauso Aufträge erfüllt, wie überall: In der einen Halle stehen große Körbe mit bunten Plastikbällen, welche die Mitarbeiter für den Hersteller aufpumpen. Auch Kleinteile für die Autoindustrie, wie Teile von Tankverschlüssen, werden hier zusammengesetzt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, in einer anderen Halle, ist es definitiv lauter. An den verschiedensten Geräten stehen Arbeiter mit Schutzbrillen und -Handschuhen. Hier werden Teile für Bettgestelle in LKWs aus Aluminium ausgesägt. Wenn also nachts die LKW-Fahrerkabine zu einem Schlafplatz wird, die Fahrer das Bett aus der Wand klappen, wurde dieses vielleicht von in der Werkstatt in Imgenbroich gefertigt.

Veränderung in der Form der Behinderung

In den letzten Jahren hat sich an den Beschäftigten einiges verändert: Die „klassisch geistig Behinderten“ wie u.a. Menschen mit Down-Syndrom gibt es heute kaum noch – vielleicht, weil man mittlerweile viele Krankheiten vor der Geburt feststellen könne. Die Eltern entschieden sich dann oft gegen das Kind, vermutet Dana Bouamoud. Das hieße aber nicht, dass die Zahl der Menschen mit Behinderung grundsätzlich sinkt, nur die Art der Behinderung tue dies: Viele sozial-verhaltensauffällige Menschen arbeiten heute bei der CBW. In ihrer Kindheit galten diese als „schwer erziehbar“, doch durch die mangelnde Förderung werden die Defizite immer größer. Das wirke sich auch auf die Gruppen aus, denn man müsse oft besonders stark auf die Leute eingehen, so dass sich die anderen manchmal benachteiligt fühlen. Schade daran sei, dass sie grundsätzlich kognitiv fitter als manche andere seien, sich das aber durch ihre Null-Bock-Einstellung und ihre Aggressivität kaputt machen.

Tills absolute Leidenschaft ist die Musik. In seiner Freizeit geht er gerne auf alle möglichen Konzerte oder macht selbst Musik. „Am besten ist es natürlich, wenn meine Begleitperson auch Fan der Band oder des Sängers ist, dann macht’s am meisten Spaß.“, betont er und wippt dabei auf seinem Stuhl.  Auch während der Arbeitszeiten bietet die CBW GmbH Freizeitaktivitäten für alle Mitarbeiter an: Der große Außenbereich mit viel Grün, freier Fläche und Sitzgelegenheiten ist wie gemacht für Sportkurse. Auch Computerkurse und Schreibkurse kann man belegen. In der Kantine gibt es einmal täglich warmes Essen für Jeden. Dadurch ist die Werkstatt in Imgenbroich für Menschen mit Behinderung viel mehr, als nur ein Arbeitsplatz.

 

 

308 Tage Chef – Justus Thorau

24. April 2018 | von

 

Frau Radic hat es mit ihrem Text „308 Tage Chef“ in das Magazin der AZ/AN geschafft!

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 im Kurs Journalistisches Schreiben.

 


Das wäre Heimat für mich

20. April 2018 | von

 

Frau Zillekens hat es mit ihrem Text „Das wäre Heimat für mich“ in das Magazin der AZ/AN geschafft!

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 im Kurs Journalistisches Schreiben.

 


Erfolgt der Abpfiff für das Rudelgucken?

20. April 2018 | von

 

Herr Fatzaun hat es mit seinem Text „Erfolgt der Abpfiff für das Rudelgucken?“ in das Magazin der AZ/AN geschafft!

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 im Kurs Journalistisches Schreiben.

 



 

Die Antoniusstraße – Heimat und Gewerbezone

09. März 2018 | von

Ein Text über die bekannte Rotlichtstraße in Aachen.

Nach intensiver Recherche entstand die Reportage von Franziska Lütz 2017 in unserem Kurs Journalistisches Schreiben.


Auf den Hockern sitzen die Frauen: Eine ältere Dame mit gold-blonden Locken und Leoparden-Body starrt gelangweilt Löcher in die Luft. Eine große schlanke Frau lehnt mit verschränkten Armen auf ihrem Fenster, sie lächelt herzlich. In einem anderen Fenster posiert eine Schwarzhaarige mit überkreuzten Beinen, während sie konzentriert ihr Handy observiert.

Auf der anderen Seite der Scheibe drückt sich ein Mann verstohlen entlang der spärlich besetzten Fenster. Die restlichen Passanten, zwei weitere Männer, schlendern ungeniert die Straße entlang.

Das Netz des Prostitutionsgewerbes überspannt die gesamte Bundesrepublik. Rote Punkte wie die Reeperbahn in Hamburg, der Eierberg in Bochum, die Linienstraße in Dortmund, die Frauentormauer in Nürnberg und die Kurfürstenstraße in Berlin, markieren Umschlagsplätze für die älteste aller Dienstleistung: Sex. All diese Orte haben gemein, dass sie in der Nähe der kommerziellen und kulturellen Zentren liegen. Einzigartig in Aachen: Die Sichtschneise zu einem UNESCO Weltkulturerbe – dem Aachener Dom.

Die Bewohnerinnen

Tagsüber liegt die Antoniusstraße ruhig da. Innenstadtgewusel und Betriebsamkeit sind gedämpft. Der Sperrbezirk endet ohne merkliche Abgrenzung zum Rest der Altstadt, nur die Größe der Fenster verändert sich.

Ich mache mich auf die Suche nach einer Gesprächspartnerin. Nur jedes dritte Fenster ist besetzt. Ich fange unten an und frage mich bis oben durch. Die Kontaktaufnahme gestaltet sich schwierig. Ich klopfe an die Fenster, schwenke meine Hand, um meinen Redebedarf zu signalisieren. Alle Frauen sind zuerst abweisend, nach einigem Beharren meinerseits versuchen mir die meisten schließlich klarzumachen, dass sie mich nicht verstehen können und wahrscheinlich auch nicht wollen. Eine überraschend biedere Putzfrau mittleren Alters erklärt: „Die Mädchen schlafen noch und ich kann auch nicht mit Ihnen reden, sonst bekomme ich Ärger, das verstehen Sie doch?“ Die Frau wischt weiter an den großen Fensterflächen und ich schleiche die Straße weiter hoch. In meiner Verzweiflung versuche ich es schließlich auf Englisch: Erfolglos! In der Antoniusstraße spricht man viel Albanisch, Rumänisch und Bulgarisch.

Die Hoffnung schon fast aufgegeben, finde ich schließlich doch eine kleine, zierliche Frau reifen Alters. Sie öffnet den oberen Teil ihrer Tür und schaut herunter. Sie trägt riesenhafte Plateau High Heels: Ich blicke direkt auf ihren leicht verschleiernden Netz-Body. Um ihr ins Gesicht zu schauen muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Mit immer neuen Fragen entlocke ich ihr wenige Informationen, richtig erzählen möchte sie nicht. Antonia* ist schon lange in Deutschland, arbeitet nur zeitweiße im Sexgewerbe und hat zwei Kinder. Sie zahlt 115 Euro Miete inklusive Steuern pro Tag, arbeitet ohne Zuhälter und meist nur tagsüber. Ist es Zufall, dass nur eine relativ unabhängige Sexarbeiterin mit mir spricht?

Roshan Heiler, die Leiterin von Solidarity with women in Distress (SOLWODI) sagt: „Rund 90% der in der Antoniusstraße tätigen Frauen haben einen Migrationshintergrund.“ Das Rätsel um die Sprachenvielfalt, die Verständigungsprobleme im Gässchen löst sich auf. Was macht SOLWODI in Aachen? Sie beraten und unterstützen Frauen, die in der Prostitution tätig sind, und solche, die zur Prostitution gezwungen werden. Das große Ziel: Die Abschaffung der letzten Bastion der Sklaverei. Für die tägliche Arbeit in der Beratungsstelle bedeutet dies, Opfer von Menschenhandel identifizieren. Hierin liege die große Schwierigkeit, betont die Leiterin; der Übergang von Prostitution zu Menschenhandel verlaufe fließend. Die Zielgruppe sei letztlich sehr heterogen und reiche von der minderjährigen Zwangsprostituierten bis zur unabhängigen Sexarbeiterin ohne Zuhälter. Dazwischen die Mehrheit: Frauen, die aus persönlicher Not den Weg ins Sexgewerbe wählen und sich schließlich in einer prekären Arbeitssituation wiederfinden.

Die Aufwertung der Prostitution

War die aachener „Hurengaß“, schon immer eine Heimat von Dirnen? Die Suche nach dem Anfang führt weit in die Vergangenheit. Häufig wechselnde Namen verwischen die Spuren der Prostitution. Im späten Mittelalter noch „Mestgasse“ genannt, heißt die Straße um 1777 „Hurengaß“, dann „mittlere Mistgasse“ und schließlich ab den 1870er Jahren „Antoniusstraße“. Dietmar Kottmann vom Aachner Geschichtsverein e.V. erklärt: „Je nach Konzentration des Badewesens war ein Straßenstrich in der Nähe.“ Es kann also sein, dass die Straße im Laufe der Geschichte immer wieder das älteste Gewerbe der Welt beherbergte. Gleichzeitig, so Kottmann, spricht die aufwendige Wohnbebauung der heutigen Mefferdatisstraße für eine zeitweilige Verdrängung. Der pensionierte Jurist resümiert: „Wann die Antoniusstraße sich wieder zu einer Bordellstraße entwickelt hat, weiß ich nicht. Ich vermute erst nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Seit 2016 läuft das Bebauungsplanverfahren für die Altstadtaufwertung[1] zwischen Büchel und Großkölnstraße, ein Prozess der sich aufgrund von Konflikten, Verhandlungen und Kompromissen zwischen Politikern, Investoren und Planern hinzieht. Wenn es zur Umsetzung der Pläne kommen sollte und die Häuser entlang der Straße abgerissen werden, müssen die Damen packen. Der Weg ist nicht weit, die neue Heimat liegt am östlichen Ende der Antoniusstraße. Der Umzug, der erste Schritt zur neueren, schöneren und saubereren Altstadt.

Ob Laufhaus[2], Bordell oder Lusthaus; die Umstrukturierung des Quartiers sieht vor, dass die Prostitution in der Altstadt verbleibt. Die FDP ist dagegen: „Wer will schon neben einem Puff wohnen?“, fragt Ratsherr Peter Blum. Die FDP wünsche sich für diese Eins-A-Lage ein Viertel mit Kunstgewerbe, kleinen Lädchen und familiärer Einwohnerstruktur – das gehe nur ohne Prostitution. „Sozialer Wohnungsbau statt Bordell“, wirbt der FDP-Mann. Die Auslagerung des Gewerbes und neue Eigentumsverhältnisse würden Kontrollmöglichkeiten für Polizei und Ordnungsamt verbessern, „alles zum Vorteil der Stadt und der Frauen.“ Alle anderen Fraktionen argumentieren andersherum: Soziale Kontrolle und Sicherheit sei nur im Zentrum gewährleistet. „Randlage heißt Verdrängung und Gefahr für die Frauen“, so die CDU-Fraktions-Frau Uschi Brammertz. Überzeugt sagt sie, „das Laufhaus wird kommen, in der Innenstadt!“

1:30Uhr, Mittwochnacht. Ich komme aus der Kneipe und wage den nächtlichen Gang durch die Gasse. Meine Verstärkung musste erst überzeugt werden, bis zum Ende hin sträubt er sich. Während wir die Fenster entlanglaufen, stellt er fest: „Die Frauen verkaufen ihren Körper wie Ware, ein Schaufenster, indem menschliches Fleisch ausgestellt ist.“ Ich erinnere mich gehört zu haben, dass Aachen eine der ersten Anlaufstellen für „frisch importierte Ware“ ist. Die Frauen werden kurz „eingearbeitet“ und dann in andere Teile Deutschlands verfrachtet. Eine verstörende Vorstellung.

Draußen warten einige potentielle Kunden, dick eingepackt in Winterjacke, Schal und Mütze. Drinnen Damen, meist nur in Spitze. Die Atmosphäre am Tag und bei Nacht scheint beinah gleich, nur die Lichtverhältnisse haben sich verändert. Statt Tageslicht dominiert der berühmte Rot-Ton und mischt sich mit kaltem blauen Neonlicht.

Das neue Gesetz soll es richten

Ein mittelgroßer Mann steht bei Minusgraden vor einem Fenster. Im Schutz der Nacht, der Straße abgewandt, bleibt sein Gesicht verborgen. Eine braungebrannte Frau lehnt sich locker nach draußen, redet, greift nach seiner Schulter. Der Freier wird am Weggehen gehindert. Mit einem flüchtigen Kuss lässt sich der Mann prompt überzeugen. Läuft so also der Verhandlungsprozess ab? Auf die Nachfrage wirkt Antonia verwirrt. Nach einigem Zögern erklärt sie: „Verhandelt wird draußen. Erst wenn Leistung und Preis festgelegt sind, darf der Freier reinkommen.“ Genaue Auskunft über ihre Preise und Anzahl der Freier will sie mir nicht geben.

2002, die gesetzliche Abschaffung der Prostitution als Sittenwidrigkeit. 2016, die weitere Regulierung des Gewerbes. Das neue Prostitutionsschutzgesetz soll die Mängel des alten Gesetzes richten: Prostituierte besser schützen, Bordellbetreiber stärker kontrollieren.[3] Kritiker bemängeln, dass das Gesetz ein Rückschritt sei. Die Frauen, insbesondere die aus Drittstaaten, können sich aus Angst vor Stigmatisierung und aufenthaltsrechtlichen Fragen der Registrierung entziehen und weiter in die Illegalität abgedrängt werden. Ein weiteres Problem für die Frauen in der Antoniusstraße: das Verbot, im gleichen Zimmer zu wohnen und zu arbeiten.

Für Antonia liegt die Sache anders. Im Gegensatz zu den meisten Anderen wohnt sie nicht in der Straße. Sie kommt morgens und kann abends wieder gehen. Ein Privileg unter den Prostituierten. Von dem Gesetz weiß sie nichts. Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern und denkt nach, bevor sie stolz antwortet: „Es ist mir egal, ich schäme mich nicht für den Job. Ich würde mich registrieren und zum Gesundheitscheck gehen.“ Und dennoch: Ihre Familie weiß nichts von der Tätigkeit. Legalisierung hin oder her, den eigenen Körper verkaufen bleibt ein gesellschaftlicher Sittenverstoß.

Auch heute werden die Frauen arbeiten, so wie jede Nacht. Ob Bebauungsplan, neues Gesetz oder Regionalpolitik, das Geschehen der Stadt findet weit weg vom Gässchen statt. Jetzt, am späten Morgen, sind die Türen zu den „Arbeitszimmern“ verschlossen. Die Frauen erholen sich vor ihrer nächsten Schicht.


*Name verändert

[1]Altstadtaufwertung in drei Teilen. Neben dem Nordwestblock (3) und dem Südostblock (2), liegt die Antoniusstraße im Südwestblock (1). Bevor der Parkbetonklotz am Büchel angegangen wird, soll das Lusthaus gebaut und in Betrieb genommen werden. Der große Plan: Häuser abreißen, Straßenverläufe ändern und neue Plätze schaffen, um Einzelhandel, Büros, Praxen und eine Kita anzusiedeln.

[2]Die überdachte Antoniusstraße, Prostitution auf mehreren Etagen oder die neue Sex-Shoppingmall. In einem Laufhaus können Sexarbeiter/innen Zimmer anmieten und diese als Arbeitsplatz nutzen. Wie in der Straße verweilen die Damen oder Herren vor den Türen bzw. im Sichtbereich der Kunden. Die Interessenten können von Zimmer zu Zimmer ziehen, anders gesagt, Schaufenstershopping betreiben.

[3]Das neue Gesetz soll den Schutz der Prostituierten erhöhen und negative Folgen der Liberalisierung korrigieren. Lücken werden im Idealfall durch Auflagen und Regelungen geschlossen. Seit 2002 zählt Prostitution nicht mehr zu den Sittenwidrigkeiten, Sexarbeiter/innen können ihr Gewerbe seitdem als sozialversicherungspflichtige Tätigkeit anmelden. Durch die Liberalisierung wurde Deutschland ein interessantes Reiseziel für Sextouristen, Nachbarstaaten sind da zum Teil restriktiver. In Frankreich hat man sich beispielsweise an Schweden orientiert und den Kauf von Sexdienstleistungen unter Strafe gestellt. Und in Deutschland. Alle Personen, die in der Sexbranche tätig sind, müssen sich registrieren. Die Frauen müssen regelmäßige Gesundheitschecks machen, im Beratungsgespräch werden die Personalien aufgenommen und ggf. der Aufenthaltsstatus geprüft. Betreiber von Bordellen, Laufhäuser, Love-mobil-Parks, Hostessen-Wohnungen u. ä. müssen in Zukunft eine Erlaubnis einholen sowie ein Betriebs- und Sicherheitskonzept vorlegen. Die Betreiber werden außerdem einer Zuverlässigkeitsprüfung unterzogen. Veränderungen im Baurecht, der Dokumentations- und Auskunftspflicht, Kondompflicht, Werbeverbot, Verbot sexueller Praktiken und Datenerfassung sollen umgesetzt werden.

 

 

Endlich präzise über die Weltmeere

11. September 2017 | von

Erneut hat es ein Text von unserem „Oberseminaler“ Jonas van Bebber in die AZ/AN geschafft. Wir freuen uns!


Wer war eigentlich John Harrison? Die spannende Geschichte eines Uhrmachers, der die Seefahrt revolutionierte, indem er das Längengradproblem löste. Der frustrierende Wettkampf gegen einen mächtigen Feind und das Ringen um ein Preisgeld.

Er wird am 24. März 1693 geboren, ist Tischler, Erfinder und autodidaktischer Uhrmacher: John Harrison. Mitte des 18. Jahrhunderts löst er das Längengradproblem: Als Erster macht der Engländer das Objekt Uhr seetauglich. Das für die Navigation noch ungewöhnliche Hilfsmittel ermöglicht die zuverlässige Bestimmung der geografischen Länge, was zuvor selbst für erfahrene Seeleute ein Problem war. Sein ganzes Leben entwickelt Harrison die Uhr weiter und tritt in einem frustrierenden Wettkampf gegen einen mächtigen Feind und wissenschaftliche Eliten an, die seine Leistung nicht anerkennen wollen.

22. Oktober 1707: Vier britische Kriegsschiffe kehren nach einer Seeschlacht zurück nach England. Die Schlacht ist gewonnen, die Freude auf die Heimat groß. Aber die Orientierung ist verloren, die wahren Positionen der Schiffe sind anders als berechnet. Vor den Scilly-Inseln an der Südwestspitze Englands laufen die Schiffe auf Grund. Auf einen Schlag sterben fast 2000 Seeleute. Die Regierungen der Seefahrernationen sind wachgerüttelt. Es muss eine Lösung für das Navigationsproblem her, wenn nötig mit Hilfe von Wettbewerben und ausgeschriebenen Preisgeldern.

Geübte Seemänner sind zur Zeit von Christoph Kolumbus (1451-1506) fähig, den aktuellen Breitengrad ausreichend genau zu bestimmen. Sie nutzen den Sonnenstand oder bestimmen die Höhen von bekannten Sternen über dem Horizont. Aber die Positionsbestimmung ist komplex: Komplizierte Beobachtungsinstrumente und präzise Messungen sind dabei nötig. Längengrade lassen sich anschließend nur mit aufwendigen Berechnungen bestimmen.

In der Folgezeit werden Breiten abgesegelt; oft ungewiss, ob man weiter nach Osten oder Westen manövrieren soll. Schiffe verunglücken oder verlieren sich in den Weiten der Ozeane. Viele Menschen verhungern, verdursten und ertrinken. Der wirtschaftliche Schaden ist groß. Das britische Parlament schreibt 1714 einen legendären Preis aus: Im Longitude Act werden 20 000 Pfund für eine „praktikable und nützliche Methode“ versprochen, mit der eine genaue Längengradbestimmung möglich ist. Ein einfacher Arbeiter lebt zu der Zeit von zehn Pfund im Jahr.

Für den Uhrmacher und talentierten Feinmechaniker John Harrison ist klar, dass eine präzise seetaugliche Uhr die Lösung des Längengradproblems sein kann. Mit der mitgeführten Zeit des Heimathafens – etwa der Greenwich-Zeit – und mit der Ortszeit auf See, die die Seeleute nach herkömmlichen Verfahren bestimmen, ist die Position schnell auszumachen. Die Zeitdifferenz lässt sich in einen Drehwinkel der Erde umrechnen, die Länge bezogen auf Greenwich damit feststellen. Ist die auf dem Schiff bestimmte Ortszeit zum Beispiel drei Stunden hinter der Greenwich-Zeit, so befindet sich die Mannschaft 45 Grad westlich vom Nullmeridian. Denn pro Stunde dreht sich die Erde beständig um 15 Grad weiter.

Harrison tüftelt über Jahre an Präzisionszeitmessern. Er ist der Erfinder des Bimetall-Streifens und verwendet in seinen Uhren neuartige Mechanismen und Federn, die den Rhythmus vorgeben. Manche Konstruktionen müssen nicht mehr geölt werden und laufen während des Aufziehens konstant weiter. Sie trotzen Temperaturschwankungen und Erschütterungen auf See. 1759 präsentiert Harrison der Längengradkommission seine vierte und berühmteste Konstruktion – die H4. Mit knapp drei Pfund Gewicht und einem Durchmesser von 13,2 Zentimetern ist sie besonders kompakt.

Viele Gelehrte stehen Harrisons Idee kritisch gegenüber. Nur Himmel und Sterne können und sollen den Weg weisen, so die Meinung der Mehrheit. Als verhasster Feind steht Harrison der Brite Nevil Maskelyne gegenüber, der eine Monddistanz-Methode für die Navigation entwickelt: Auch mit vorausberechneten Abständen zwischen Mond, Sonne und Erde für bestimmte Uhrzeiten lassen sich Positionen bestimmen. Das Verfahren ist jedoch aufwendig und erfordert neben akkuraten Messungen viel Zeit für Berechnungen.

Nur fünf Sekunden verloren

Die erste große Testfahrt führt die H4 1762 über den Atlantik nach Port Royal. Kommissionsvertreter John Robinson stellt die lokale Ortszeit mit seinen Messinstrumenten fest und erkennt, dass die Uhr während der 81-tägigen Atlantiküberquerung nur fünf Sekunden verloren hat. Bei einer zweiten Erprobungsfahrt lässt sich die geografische Länge auf zehn Meilen genau bestimmen; die Präzision ist damit dreimal so hoch, wie vom Longitude Act gefordert. Was für ein Erfolg!

Harrison müsste den Preis direkt erhalten. Aber alles kommt anders. Statt 20 000 Pfund bekommt er 1500 Pfund. Die Kommission würdigt die Leistung kaum und verkennt den Nutzen der neuen Idee. Es folgt ein bitterer Schlag: 1765 ist es Maskelyne, der zum neuen königlichen Astronom gekürt und nun – als Mitglied der Kommission – damit beauftragt ist, Harrisons Uhren zu testen.

Den königlichen Astronom interessiert seine eigene Navigationsmethode aber viel mehr: Ab 1765 veröffentlicht er insgesamt 49 Ausgaben seines schon zu Lebzeiten berühmten astronomischen Jahrbuchs „Nautical Almanac“, in dem die Seeleute berechnete Monddistanzen finden.

In „Längengradgesetzen“ ändert die Kommission die Regeln des Wettbewerbs mehrfach zu Ungunsten Harrisons ab und nutzt seine Gutmütigkeit aus. 1730 beugt er sich der Aufforderung, den Zusammenbau seines ersten Zeitmessers kleinschrittig vorzutragen. Später soll er alle gefertigten Chronometer abgeben und weitere bauen – ohne seine Baupläne, die die Kommission bereits an sich gerissen hat.

Ab und zu erhält Harrison geringe finanzielle Zuwendungen, auf die er mittlerweile angewiesen ist. Er verzweifelt zunehmend. Maskelyne steht plötzlich unangekündigt vor Harrisons Tür mit einem Erlass der Kommission. Zornig muss der Überraschte mit ansehen, wie seine Uhren in Beschlag genommen und rabiat aus dem eigenen Haus abtransportiert werden.

Harrisons Sohn William bittet 1772 den englischen König George III., die neueste Uhr seines gesundheitlich angeschlagenen Vaters – bereits die H5 – zu erproben. Der König stimmt zu und lässt den Zeitmesser an der Sternwarte zehn Wochen lang testen. Das Resultat lässt heute noch staunen: Nur eine Drittelsekunde verliert die H5 pro Tag. König George gibt einen langersehnten Lichtblick: „Harrison, ich werde dafür sorgen, dass Ihr zu Eurem Recht kommt!“ Der König verteidigt die Uhr nun vor den Verfechtern der Monddistanz-Methode. Harrison appelliert an die Minister des Parlaments und trägt seinen Wunsch nach Anerkennung vor. Die Wettbewerbskommission bleibt stur, vom Parlament aber erhält er knapp das restliche Preisgeld. Es ist ein schwacher Trost. Maskelyne reibt sich indessen die Hände – die Bedingungen für den Längengradpreis werden erneut verschärft. Und der offizielle Preis wird nie vergeben.

Mehr und mehr Seefahrer aber lassen sich vom großen Nutzen der Chronometer überzeugen. James Cook führt auf seiner zweiten Reise 1772 eine Kopie von Harrisons H4 mit und berichtet begeistert: „Die Uhr war unser treuer Führer durch alle Widrigkeiten des Klimas.“ Harrisons Idee gibt den Takt weiter vor und erobert die Welt mit der Seefahrt. Der Autodidakt begründet mit seinen Präzisionszeitmessern das Feinmechanikhandwerk in England, das bei der industriellen Revolution eine Schlüsselrolle spielt. Es ist ein Grundstein für die heutige wirtschaftliche Macht Europas in der Welt.

INFOS
  • Geboren wurde John Harrison am 24. März 1693 und dann getauft am 31. März in Foulby im britischen Yorkshire. Der gelernte Tischler war ein Autodidakt und talentierter Feinmechaniker. Schon zu Lebzeiten galt er unter Uhrmachern als Genie. Seine Erfindungen sind auch heute wichtige Bestandteile moderner Chronometer – zum Beispiel die Bimetall-Streifen oder der „Grasshopper“-Taktgeber-Mechanismus. Harrison heiratete zwei Mal und war Vater dreier Kinder. Am 24. März 1776 starb er in London.
  • Mit dem Äquator bietet die Natur eine besondere Referenz für die geografische Breite an: Auf dieser Linie sind die Abstände zur Drehachse der Erde maximal. Für die Längengrade gibt es keine solche ausgezeichnete Linie. Erst 1884 einigen sich 26 Nationen auf der Meridiankonferenz in Washington, D.C., darauf, dass die Referenzlinie für die Längengrade – der Nullmeridian – durch das englische Greenwich verlaufen soll. Es ist vor allem ein Vermächtnis Nevil Maskelynes, der für seine Monddistanz-Berechnungen immer Greenwich als Referenz wählt, den Ort der königlichen Sternwarte.

 

 

Das Buch ist tot – Es lebe das Buch!

20. April 2017 | von

„Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden.“ (Ludwig Feuerbach)

Die Türglocke klingelt. Ein kleiner Raum, der durch seine deckenhohen Regale verwinkelt erscheint: Geheimnisvolle Atmosphäre. Wenig Platz für aufwendige Dekorationen und Nippes, dafür eine schier endlose Aneinanderreihung von Buchrücken. Zu viele, um sie auf einen Blick zu erfassen. Wer hier etwas auf die Schnelle sucht, muss einen der fachkundigen Buchhändler fragen. Alle anderen lädt die kleine aber feine Buchhandlung in Aachen zum Stöbern ein.

Fast die Hälfte des Buchumsatzes bestreitet der Sortimentsbuchhandel mit 48,2 Prozent. Dahinter positioniert sich mit 20,9 Prozent der Verkauf durch die Verlage. Internetbuchhandel nimmt in Deutschland 2015 lediglich 17,4 Prozent ein. Der durchschnittliche Ladenpreis eines gedruckten Buches liegt bei 14,95 Euro. Trotz gestiegener Medienkonkurrenz ist in den letzten zehn Jahren die Kaufkraft an gedruckten Büchern nahezu stabil geblieben. Eine Umfrage hat ergeben, dass der beliebteste Leseort das Sofa oder der Sessel ist.

Ein Durchgangszimmer. Beide Seiten mit Regalen verziert, die bis unter die Decke reichen. Auf ihnen stehen Buchrücken an Buchrücken aneinandergereiht. Der Anblick überwältigt, die Farbe an den Wänden ist nicht mehr zu erkennen. Zwei tiefe Sessel laden zum gemütlichen Verweilen ein. Gleich daneben bietet das Büro einen ähnlichen Anblick. Mit einer Ausnahme: Hier findet noch ein Schreibtisch Platz. Der Autor Christoph Leisten (56) schreibt seit 1996. Bisher hat er zwei Prosawerke und vier Gedichtbände beim Rimbaud-Verlag in Aachen veröffentlicht.

Die prächtige Glasfassade einer großen Buchhandelskette in Aachen bietet ein beeindruckendes Bild. Im Inneren fühlt man sich wie in einem Bienenstock. Überall herrscht reges Treiben, trotzdem findet man die nötige Ruhe, um entspannt die Regale entlangstreifen zu können. „Dass sich unsere Kunden wohlfühlen, ist uns sehr wichtig“, erläutert Benjamin Schell, Pressesprecher. Die zahlreichen Leseecken, das hauseigene Café oder die Arbeitsplätze auf der obersten Etage, überall kann man für eine Weile dem Alltagstrott entfliehen. Trotz der riesigen Auswahl sei das gedruckte Buch für die Buchhandlung immer noch das wichtigste Kulturgut, erklärt Schell. „Gedruckte Bücher erfinden sich immer wieder neu, weil sie mit der Zeit gehen.“

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtet: „Bücher sind unverzichtbar für die Entwicklung unserer Gesellschaft und deren Ideale.“

Geschätzter Umsatz des deutschen Buchhandels stagniert in den letzten 15 Jahren zwischen 9,4 und 9,2 Mrd. Euro. Sind Verkaufsplattformen im Internet eine große Konkurrenz? Die große Buch-handlung in Aachen grenzt sich davon ab. „Wir sind persönlicher als das Internet“, erklärt Schell. Zwar bekomme man dort Buchvorschläge, aber diese seien nach bestimmten Logarithmen geschaltet und können keine kompetente Beratung durch einen fachkundigen Buchhändler ersetzen. Lyriker und Buchautor Christoph Leisten beurteilt die Lage so: „Große Ketten ziehen viel Laufkundschaft an, daher ist das Internet eher für sie eine Konkurrenz, wenn auch eine geringe.“ Kleine Buchläden aber seien durch dieses Angebot nicht bedroht, da sie einen soliden Kundenstamm haben. Woher er das so genau weiß? Als Student hat er in der Würselener Buchhandlung von Martin Schulz gejobbt.

Der Umschlag sieht aus wie ein Päckchen von DHL. Realistisch gestaltet, mit Absenderadresse und Barcode. Unten der Hinweis, es vor Regen zu schützen. Die Haptik: Für den Buchkäufer ein entscheidendes Kriterium. Wenn das Cover die Aufmerksamkeit erregt hat, ent-scheidet sich nach dem Lesen des Klappentextes, ob man das Buch kauft. Zuhause angekommen, reißt man „Das Paket“ von Sebastian Fitzek ungeduldig auf. Mit dem Geruch frischer Druckerschwärze in der Nase schlägt man das erste Kapitel einer neuen Welt auf.

Bis auf die Schiebetüren und den typischen Bankteppich zeugt in der Stadtbibliothek Köln Ehrenfeld nichts mehr davon, dass dieses Gebäude eine ehemalige Sparkassen-Filiale ist. Der Eingangsbe-reich ist großzügig angelegt. Mittig positioniert stehen DVDs. Auf der rechten Seite ist ein breites Angebot an Sachliteratur und Romanen zu finden. Links die gemütliche Kinderecke. In der Nische an der Wand sitzt ein Vater mit seiner vierjährigen Tochter zusammen mit dem Buch Ein Geburtstagsfest für Lieselotte. Aufgeregt trippelt ein zweijähriger Junge Richtung Bücherkiste. Für die ganz Kleinen gibt es extra dicke Pappbilderbücher.

„Gedruckte Bücher sind für mich Lebensbegleiter, sie sind von einer eigenen Aura umgeben, die ihre elektronische Version niemals haben kann“, erklärt Christoph Leisten.

Klein, handlich, kompakt: Der E-Book-Reader. Ob der Kindle von Amazon, die E-Ausleihe der Bibliotheken oder die i-Book-App von Apple: Sie alle machen es möglich, Bücher digital zu lesen. Mittlerweile kann man fast überall E-Book-Reader kaufen. „Im Vergleich zum gedruckten Buch, ist der E-Book-Verkauf relativ gering“, klärt Benjamin Schell auf.

Bücher digital zu lesen, hat Vorteile: Der Koffer für den Urlaub ist nicht mehr zu Dreiviertel mit Büchern vollgestopft, weil man sie bequem auf den Reader laden kann. Und abends im Bett braucht man kein zusätzliches Licht zum Lesen. Für Christoph Leisten sind E-Books rein pragmatisch. „Wenn ich reise, lade ich gerne Nachschlagewerke auf meinen Reader, damit ich sie nicht schleppen muss.“ Und Christoph Leisten reist oft. In Marokko war er bereits über vierzig Mal. Über seine Erfahrungen in diesem Land schreibt er in Marrakesch, Djemaa el Fna und Argana. Notizen aus Marokko.

„Eine gute Bibliothek ist immer eine Begegnungsstätte. Ich sage immer: Man kommt wegen der Medien und bleibt wegen der Menschen!“ Cordula Nötzelmann, Leiterin der Kölner Zweigstellen, beantwortet damit die Frage, warum die Bibliotheken so großen Zulauf haben. 2016 besuchten in Deutschland 119. Mio. Menschen öffentliche Bibliotheken und liehen dort 450. Mio. Medien aus.

Während die öffentlichen Bibliotheken mit einem vielfältigen Angebot an gedruckten Büchern und digitalen Medien punkten, hat sich die Deutsche Nationalbibliothek längst von ihren Büchern verabschiedet. Statt gedruckten Büchern stehen den Nutzern nur noch E-Books zur Verfügung. Argumente für die Umstrukturierung: Gedruckte Bücher wiesen irgendwann Gebrauchsspuren auf und Reparaturen seien kostspielig. Lieber verbannt man die wertvollen Artefakte in den Keller, wo ihnen keiner mehr Leid zufügen kann.

Bücher haben Charakter, gerade weil sie gelesen werden. Eine Stammkundin aus Köln Ehrenfeld erzählt: „Ich leihe hauptsächlich Koch- und Backbücher aus, weil ich gerne neue Dinge ausprobiere.“ Auf die Frage, warum sie diese nicht in der Buchhandlung kauft, gesteht sie mit einem verlegenen Grinsen, da stünden keine Anmerkungen drin. Für die Bibliotheken, egal ob öffentlich oder wissenschaftlich, ein altbekanntes Problem: Die Notizen am Rand.

Unscheinbare Kästen erobern das Land. Zwei Seiten aus Glas, der Rest umgeben von einer edlen, dunklen Holzvertäfelung, Viele Passanten laufen in Aachen um den mysteriösen Kasten Ecke Passstraße/Grüner Weg herum, aber dennoch an ihm vorbei. Die Meisten sind zu sehr mit ihren Smartphones beschäftigt. Von der Passstraße aus nähert sich eine etwa Siebzigjährige Dame mit ihrem Enkel. Der fünfjährige Junge hat seine dicke Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Als sie vor der Glasvitrine stehen bleiben, bilden sich vor ihren Gesichtern weiße Atemwolken. Was verbirgt der Kasten? Richtig, Bücher! Die Beiden stehen vor einem öffentlichen Bücherschrank. Darin findet sich eine breite Auswahl: Hemingway neben Rosamunde Pilcher, Emilia Galotti neben Harry Potter.

Das Projekt der öffentlichen Bücherschränke wird in Aachen seit Winter 2012 von der IG Aachener Portal e.V. gefördert. Damit wird Menschen kostenlos Literatur zur Verfügung gestellt. Vor allem sozial Benachteiligte haben so die Möglichkeit an Lesestoff zu gelangen. Das Projekt lebt ausschließlich durch die Partizipation der Nutzer. Wer ein Buch mitnimmt, kann es entweder zurückbringen oder ein anderes, lesenswertes Buch hineinstellen.

„Einige Bücher verlieren mit der Zeit ihre Bedeutung, einige bleiben bedeutend und andere gewinnen ihre Bedeutung erst nach Jahren“, so Leisten. Bücher seien Auslöser für Erinnerungen und Emotionen, erklärt er und sagt, dass er kein Buch weggeben kann. Für ihn sind seine Bücher ein Stück seiner Seele.

Personennahverkehr in Hamburg. Menschen aller Altersklassen tummeln sich in den VHH-Bussen. Einige von ihnen müssen zur Schule, andere haben Termine beim Arzt oder müssen zur Arbeit. In vielen Städten schauen Fahrgäste gelangweilt aus den Fenstern und sind dem gewöhnungsbedürftigen Musikgeschmack ihrer Nachbarn ausgeliefert. Nicht so in den Hamburger Bussen. Gleich hinter der Fahrerkabine ist ein rotes Regal montiert. Darauf stehen Bücher, die während der Fahrt von den Fahrgästen gelesen werden dürfen. Und auch darüber hinaus dürfen die Bücher genutzt werden: Ähnlich wie bei den Bücherschränken, funktioniert das System der sogenannten „Buchhaltestellen“. Das Gebrauchtwarenkaufhaus STILBRUCH hat die Bücherbusse ins Leben gerufen. Seit 2010 existiert die Kooperation mit der VHH, die mittlerweile über 100 Buchhaltestellen installiert hat.

„Wenn du nicht all deine Bücher lesen kannst, dann nehme sie wenigstens zur Hand, streichle ein wenig über sie, schau’ etwas hinein, lasse sie irgendwo auffallen und lese die ersten Sätze, auf die dein Auge fällt, stelle sie selbst aufs Bord zurück, ordne sie nach deinen Vorstellungen so, daß du wenigstens weißt, wo sie sind. Lass’ sie deine Freunde ein; lasse sie auf alle Fälle deine Bekannten sein.“ (Winston Churchill)

Aachen. Hier findet jährlich im September die COMICADE-Messe statt. Das Besondere: Mehr als fünfzig hochkarätige Comic-Zeichner lassen sich vor Ort bei der Arbeit über die Schulter schauen. Und Kreative dürfen in Zeichenkursen ihr Können unter Beweis stellen. Auf Buchmessen kann man in die faszinierende Welt der Literatur eintauchen. Das Angebot ist nicht nur auf Bücher beschränkt. Im Programm: Lesungen, Vorträge und Preisverleihungen. Messen sind nicht nur für Verleger, Agenten und Buchhändler interessant, sondern auch für Leser.

Zuversicht in die Leser hat die Vertrauensbibliothek auf der Insel Langeoog seit vielen Jahren. Einheimische und Touristen können sich hier sprichwörtlich bedienen. So kann man seinen Urlaub entspannt mit unvorhergesehener Leselektüre erweitern. Es wird darauf vertraut, dass die Bücher ihren Weg zurück finden. Dank um-fangreicher Schenkungen umfasst der Be-stand rund 3000 Bücher.

„Ich mag es, wenn man Büchern ansieht, dass sie gelesen worden sind. Das macht ihren persönlichen Charme aus“, erzählt Benjamin Schell.

Freitag 13.00 Uhr. Das Kloster in Sankt Augustin öffnet seine Tore. Ein riesiger Raum mit einer gewölbten Decke erstreckt sich. Es riecht nach Staub und Papier. Die Gänge sind schmal, teilweise verwinkelt. Auf jeder Seite Regale, vollgestopft mit Büchern. Auf dem Bücherflohmarkt der Steyler Missionare kann man jeden Freitag von 13. bis 16. Uhr Bücher zum Kilopreis ergattern. Hauptsächlich Theologie und Kirchengeschichte, aber auch an Romanen und Sachbüchern mangelt es nicht. In der Kinderecke jubelt ein zehnjähriger Junge und läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die nicht weit entfernt bei den Kochbüchern steht: In seinen Händen Der Räuber Hotzenplotz. Die Einnahmen spendet das Kloster an gemeinnützige Organisationen weltweit. So versucht das Kloster die Welt durch Bücher ein Stückchen besser machen. Ein Besuch lohnt sich allemal.

Bücher zu lesen, erweitert den Horizont. Nicht umsonst heißt es: „Lesen bildet!“ Bücher entführen den Leser in andere Welten. Sie sind Lebensbegleiter, ob nun beim Aufschlagen oder Zuklappen eines Kapitels. Ihre Art und Weise Geschichten zu erzählen und damit den Leser zu faszinieren, wird niemals aussterben. Es lebe das Buch!

5 spannende Fragen über Bücher:

Wie viele Seiten muss ein Buch haben, um ein Buch zu sein? 49 Seiten, das hat die UNESCO beschlossen!

Was ist das teuerste Buch und wem gehört es? Der Codex Leichester von Leonardo da Vinci. Bill Gates hat es 1994 gekauft. Heute liegt der geschätzte Wert des Buches bei 49 Mio. US-Dollar.

Was ist das meistverkaufte Buch aller Zeiten? Die Bibel mit bis zu 6 Mrd. Ausgaben.

Welches Buch wird am häufigsten gestohlen? Das Guinness Buch der Rekorde.

Was war das erste Buch, das auf einer Schreibmaschine geschrieben wurde? „Tom Sawyers Abenteuer“ von Mark Twain entstand 1874 als erstes Buch auf der Schreibmaschine.

Werke von Christoph Leisten:

▶ Argana. Notizen aus Marokko (Prosawerk) 2016
▶ bis zur schwerelosigkeit. (Gedichte) 2010
▶ der mond vergebens. (Gedichte aus zehn Jahren) 2006
▶ Marrakesch, Djemaa el Fna (Prosawerk) 2005
▶ In diesem licht. (Gedichte) 2003
▶ Entfernte Nähe. (Gedichte) 2001

 

Im Aachener Regen der Sonne entgegen

08. Dezember 2016 | von

Ein Auto, 40 Aachener Studierende, 3022 km quer durch das australische Outback. Der nötige Antrieb? Die Sonne. In ihrer Reportage stellt uns Isabella Contu das „Team Sonnenwagen Aachen“ vor und berichtet von dem spannenden Vorhaben der Studierenden mit einem selbstgebauten Auto an einem der härtesten Rennen für Solarautos teilzunehmen. Die Reportage ist unserem Seminar Journalistisches Schreiben entstanden und wurde auch in der AStA-Zeitschrift relatif veröffentlicht. Vielen Dank für den tollen Text!


Sonnenwagen Aachen e. V. – ein Auto, 40 Studierende. 3022 km durch das australische Outback, mit 70 km/h. Der nötige Antrieb? Die Sonne. Es geht um die World Solar Challenge, eines der weltweit härtesten Rennen für Solarautos. Ein Team aus Studierenden der RWTH und FH Aachen will nächstes Jahr eines der härtesten Rennen für Solarautos bestreiten.

Modell des „Sonnenwagens“

Team Sonnenwagen

Die Idee, an der World Solar Challenge teilzunehmen, kommt den Studierenden um Hendrik Löbberding in der Klausurphase. Nach einem langen Lerntag sitzt man zusammen in Hendriks WG und unterhält sich über die World Solar Challenge. Bei diesem Autorennen fährt man mit einem selbstgebauten Solarauto mehrere Tage durch die australische Wüste. Schnell denken die Studierenden darüber nach, warum sie nicht einfach selbst teilnehmen – wenn auch nur spaßeshalber.

Kein ganzes Jahr später steht Hendrik auf der Bühne bei „Aachen goes Electro“ am Elisenbrunnen, einem Aachener Elektromobilitätsevent. Er ist jetzt Vorsitzender des Teams Sonnenwagen Aachen. Ein eher unscheinbarer Typ; etwas schlaksig, groß, leicht gekrümmte Haltung, kurzes blondes Haar. Maschinenbauer eben, mag man sich denken. Aber Hendrik steht mittendrin in einem großen Projekt, das über den klassischen Maschinenbau weit hinausgeht und Teams aus aller Welt gepackt hat.

Team und Zuschauer stehen mit Regenschirmen vor der Bühne. Während Hendrik das Projekt vorstellt, regnet es in Strömen. Er und sein Team wollen eigenständig ein Solarauto bauen und damit die World Solar Challenge in Australien bestreiten: eine Rallye, die Auto und Fahrer an ihre Grenzen bringt. An Selbstbewusstsein dafür mangelt es dem Team nicht. „Wir sind hier in Aachen. Wir sind hier besser“, hört man einen von der Bühne aus sagen.

team-sonnenwagen

Team Sonnenwagen

Die Challenge

3022 km müssen auf öffentlichen Straßen quer durch die australische Wüste gefahren werden: einmal von Darwin im Norden bis Adelaide im Süden. Das heißt auch, 5 Tage in der Wüste wild campen, denn so lange braucht man in etwa für die gesamte Rennstrecke.

Die Energie zum Fahren darf ausschließlich aus der Sonne gewonnen werden. Entweder sie wird direkt genutzt oder sie lädt die Batterie, die als Unterstützung im Auto verbaut sein darf. Um eine möglichst hohe Sonneneinstrahlung auszunutzen, wird jeden Tag von 8.00 bis 17.00 Uhr gefahren. In der Mitte eine Stunde Pause mit Fahrerwechsel – das Mindeste wohl für den Fahrer, wenn man bedenkt, dass es im Cockpit bis zu 50° C warm wird. Lediglich die Batterie darf außerhalb der Rennzeiten noch voll aufgeladen werden.

Das Team Sonnenwagen startet in der Challenger Class, der Hauptklasse des Rennens, in der sich Teams aus aller Welt messen. In dieser Klasse darf nur der Pilot im Wagen sitzen. Für diesen heißt es jedoch nicht einfach voll auf das Gaspedal drücken. Gerade weil nur die Sonnenenergie genutzt wird, sind die Fahrstrategie und das Energiemanagement für alle Teams unabdingbar. Fährt das Auto durch Städte sei es unklug zusätzlich die Batterieleistung zu nutzen, denn man dürfe dort nicht so schnell fahren, erklärt der Fahrstratege Martin. Diese feinen Details entscheiden am Ende, wer das Rennen gewinnt.

Die Vorbereitung

Sie gehe gar nicht gerne campen und im Übrigen habe sie auch Angst vor Spinnen, erzählt Johanna, Leiterin des Teams Elektrotechnik. Vielleicht nicht die optimale Voraussetzung, sollte man meinen, doch Johanna ist Feuer und Flamme für das Projekt und möchte das Rennen vor Ort unbedingt begleiten: „Das wird dann schon irgendwie gehen.“ Schließlich schafft sie es auch, sich gegen die vielen Jungs im Team durchzusetzen. Als eines von wenigen Mädchen muss sie einige Jungs gelegentlich daran erinnern, dass sie nicht nur für Marketing-Zwecke im Team ist, sondern bei der Elektrotechnik die Teamleitung übernimmt.

Auf die Frage ob sie sich denn vorstellen könne, das Auto durch die Wüste zu fahren, winkt Johanna ab. Das müsse eine Qual sein, bei der Hitze im Cockpit zu sitzen. Noch steht nicht fest, wer diese unangenehme Aufgabe übernehmen wird. Viel wichtiger ist im Moment, das Auto fertigzubauen, denn noch gibt es nur eine 3D-Druck-Version. Diese ist so groß wie eine Handfläche und sieht aus wie ein Spielzeugauto. Dennoch ist klar: Die Fahrer werden sich auf das Rennen körperlich vorbereiten müssen – „mit Sauna-Gängen oder so“, erwidert einer bei Nachfragen während einer Informationsveranstaltung.

Packesel in Stromlinienform

Das kleine Modell des Sonnenwagens erinnert eher an ein Ufo. An ein Auto denkt man erstmal nicht. Keine Reifen sind zu sehen, nur eine glatte gewölbte Fläche mit einem kleinen Cockpit oben drauf. Schaut man sich Wagen aus vergangenen Rennen an, scheint dieses Modell wohl im Trend zu liegen, optimal um gute Rennzeiten zu erzielen.

4-m²-Photovoltaik-Module sind nach dem Regelwerk zugelassen; das ist so groß, wie ein Bett in einer Jugendherberge. Zur Unterstützung ist eine Batterie, in die das 300-fache einer normalen Handy-Akkuladung passt, zugelassen. Der Motor hat 1000 Watt Leistung – nicht mehr als ein üblicher Staubsauger. Das Fahrwerk vereint Lenkung und Räder. „Batterie, Motor, Reifen, Lenkung – alles muss von der Tragstruktur zusammengehalten werden. Wir nennen sie unseren Packesel!“

Damit dieser Packesel schnell fahren kann, muss er möglichst wenig Reibung haben. Dafür zuständig ist das Team Aerodynamik. Sebastian, der Teamleiter, erzählt vom so genannten cw-Wert: dem Strömungswiderstandswert. „Wir wollen ihn sehr niedrig halten.“ Um herauszufinden, was überhaupt ein niedriger cw-Wert ist, hat er sich im Tierreich umgeguckt. Den besten natürlich vorkommenden cw-Wert hat der Pinguin. „Unser Wagen soll den cw-Wert des Pinguins erreichen!“

Die Aerodynamik ist wichtig, um schnell zu sein. Doch sie schützt auch Fahrer und Auto. Die Rennstrecke ist ein einfacher Highway. Regelmäßig werden dem Sonnenwagen auch Trucks entgegenkommen. Damit diese den Wagen nicht von der Strecke schmeißen, muss die Strömung gut über ihn verteilt werden.

Besser als die anderen

Sonnenwagen e. V. nimmt als erstes Team aus Aachen an der World Solar Challenge teil – ein Nachteil im Vergleich zu anderen Teams, die schon mehrere Male teilgenommen haben. Diese Teams verbessern ihre Wagen nur noch. Das Aachener Team jedoch entwickelt einen komplett neuen Solarwagen. Keiner von ihnen hat so etwas je gemacht. Ein bisschen Formeln gepaukt im Studium haben sie, aber was hilft das schon, wenn man ein Auto bauen will. Doch Hendrik und Johanna lassen sich davon nicht einschüchtern.

Mit der Unterstützung zahlreicher Institute der RWTH und FH Aachen versuchen sie, in ihrem Wagen neueste Materialien zu verwenden. Das Gehäuse soll nicht aus Stahl, sondern aus leichten Folien sein, die auch für den Flugzeugbau verwendet werden. Als Tragstruktur wird ein ultraleichter Hybridrohrrahmen verwendet. Sie wollen sich als Neulinge direkt von den anderen Teams abheben.

Ohne Sponsoring für diese Materialien können die Studierenden die Kosten für den Bau des Autos nicht stemmen. Deswegen präsentieren sie sich beim Aachener Elektromobilitätsevent am Elisenbrunnen mit Huawei, einem von vielen Sponsoren.

Martin – kein begeisterter Renn-Fan, aber Spezialist auf seinem Gebiet

Selbst die besten Materialien nützen nichts, wenn beim Rennen nicht mit geringstem Energieaufwand schnell das Ziel erreicht wird. Martin hat dazu eine Fahrsimulation entwickelt. Jedoch sieht man auf dem Bildschirm seines Laptops kein Miniatur-Auto herumflitzen, sondern ein Diagramm für die verschiedenen Funktionen seines Programms. Klickt man auf die einzelnen Komponenten, öffnen sich weitere Diagramme mit roten, grünen und gelben Graphen. Sie zeigen, wann die Sonne wie viel scheint, wie schnell das Auto ist, wie viel Energie gebraucht wird, wie viel Leistung der Batterie genutzt wird.

„Für Autorennen interessiere ich mich eigentlich gar nicht so“, meint Martin. Das Rennen dauere schließlich nur fünf Tage – nichts gegen die über zwei Jahre Vorbereitungsarbeit. „Das Team motiviert mich und als Energietechniker ist das genau mein Gebiet!“

Die Simulation kennt jeden Meter der Strecke mit Ampeln, Kreuzungen und Abzweigungen. Alles fein säuberlich von Martin bei Street View abgegangen und im Code dokumentiert. In Zukunft soll das Programm den Energieverbrauch optimieren. Nur wenn die verfügbare Leistung auch an bewölkten Tagen optimal ausgenutzt wird, kann das Auto das Rennen in Bestzeiten fahren.

Geschäftsidee mit Brieftauben

15. September 2016 | von

van Bebber

 

Von einem Taubenschlag in Aachen, zu einer der wichtigsten Nachrichtenagentur der Welt: Im Rahmen unseres Kurses Journalistisches Schreiben ging Jonas van Bebber den Spuren der Nachrichtenagentur Reuters nach und entdeckete eine erstaunliche Geschichte. Herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung in der AZ / AN!
Am 21. Juli 1816, also vor 200 Jahren, wird Paul Julius Reuter geboren. der Unternehmer legt in der Aachener Pontstraße den Grundstein für die Nachrichtenagentur Reuters.

 

Zwischen Speisekarte und Heizstrahler zieren ein paar bunte Kacheln die Wand neben dem Eingang des Restaurants „Reuters House“ in der Aachener Pontstraße. Zu erkennen ist ein Vogel, dessen Federn mosaikartig in grün, orange und schwarz nebeneinander schimmern. Es könnte das Symbol einer 68er-Friedenstaube sein. Oder ein Hinweis auf exotische gegrillte Kostbarkeiten. Zu essen bekommt man in der Aachener Pontstraße ja alles. Paul Julius Reuter – liest man in der Inschrift auf den Kacheln – ließ durch Brieftauben auf das Dach dieses Hauses Nachrichten aus Brüssel tragen. Die Gedenktafel am Haus 117 ist also ein Denkmal für den deutschen Unternehmer. Vor 175 Jahren lässt dieser hier ein erfolgreiches Geschäft mit Nachrichten aufblühen.

1850: Sehnlich erwartete Börsenkurse rauschen durch die noch neuen Telegrafenleitungen und bedeuten bare Münze, wenn man die Zahlen schneller kennt als die Konkurrenz. Das Verlangen der Menschen nach allgemeinen Nachrichten wird zunehmend größer. Berlin und Aachen sind bereits mit einer Telegrafenlinie verbunden, ebenso Paris und Brüssel. Aber zwischen Aachen und Brüssel gibt es noch keine elektrische Verbindung. Der 33-jährige Paul Julius Reuter entdeckt die Lücke im Nachrichten-Netz und handelt.

 

Schneller als der Postzug
Schnelligkeit ist gefragt. Wie kann Reuter die Brücke schlagen, bevor ihm jemand zuvorkommt? Brieftauben – so denkt er – sind der Schlüssel zum Erfolg! Die Idee ist pragmatisch, Flugtiere werden als Übermittler bislang noch nicht oft eingesetzt. Ein halbes Jahr lang lässt er täglich mehrere Brieftauben mit dem Zug nach Brüssel transportieren. Seine Botinnen eilen mit Nachrichtenzetteln – vor allem Börsendaten – zum Taubenschlag in der Pontstraße zurück und sind etwa sieben Stunden schneller als der Postzug. Reuter legt damit in Aachen den Grundstein für eine der heute noch erfolgreichsten Nachrichtenagenturen der Welt. Aktuelle Meldungen zwischen Deutschland, Österreich, Belgien und Frankreich werden hier per Luftpost ausgetauscht.

„Am liebsten würde ich das Reuters House kaufen und dort – so schnell es geht – ein Brieftaubenmuseum eröffnen. Das war schon immer mein Traum“, erzählt der Aachener Unternehmer Michael Mahr, begeisterter Hobby-Taubenzüchter mit 100 eigenen Wettflugtieren und Reuter-Experte. In seinem Büro stapeln sich wertvolle Dokumente zur Geschichte des deutschen Brieftaubensports. Wahrscheinlich ist es die größte Sammlung dieser Art in Deutschland. Zeitgenössische Berichte, alte Zeitungsartikel, Porträts und erhalten gebliebene Briefe zeichnen ein präzises Bild von Reuters Wirken. Am 21. Juli 1816 wird Israel Beer als dritter Sohn der jüdischen Familie Josaphat in Kassel geboren. Während einer Lehre in der Bank seines Onkels in Göttingen lernt er Carl Friedrich Gauß kennen, von dem er sich dessen Forschungen zur Telegrafie zeigen lässt. Im Alter von 30 Jahren tritt Israel Beer zum christlichen Glauben über und lässt sich taufen. Warum er gerade den Namen Reuter annimmt, ist unklar. Vermutlich aus Gründen der gesellschaftlichen Akzeptanz betont er seine jüdischen Wurzeln nicht, schämt sich aber auch nicht dafür. Zu seiner Familie hat er eine starke Bindung. Er heiratet Ida Magnus, Tochter eines preußischen Bankiers. Gleich zweimal schließen sie den Bund: Nach Reuters Taufe geben sich die zwei erneut das Ja-Wort. Alles soll korrekt sein.

Einige Versuche, in Deutschland oder England Fuß zu fassen und ein eigenes Geschäft zu gründen, zeigen Reuters Ehrgeiz und seine Unnachgiebigkeit. 1848 verschlägt es ihn nach Paris, wo er bei Charles Havas in der „Agence Havas“ arbeitet, der ersten europäischen Nachrichtenagentur. Nach einem Jahr macht er sich dort mit einem Pressebüro selbstständig, das jedoch nur mäßig erfolgreich läuft. Neben dem florierenden Nachrichten-Netz von Havas gibt es zu der Zeit in Berlin das W.T.B., „Wolffs Telegraphisches Bureau“. Der findige Reuter erkennt 1849 das Potenzial der Aachener Region am damaligen Vierländereck, in der sich noch niemand mit einem Nachrichtenbüro niedergelassen hat. Es ist der ideale Standort für den Nachrichtenaustausch zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Mehr noch: Reuters Brieftauben können bald auch Informationen aus Frankreich von Brüssel nach Aachen bringen, denn neben der schon funktionierenden Telegrafenlinie Aachen-Berlin wird 1850 die elektrische Übermittlung zwischen Paris und Brüssel möglich. Die Aachener Bankiers und Unternehmer sind sehr interessiert – die Nachfrage vor allem nach Wechselkursen, Informationen zu Staatsanleihen oder zur Politik aus Paris und Berlin ist hoch.

Entscheidend für den Erfolg des Brieftaubendienstes ist ein Aachener Brauer, Bäcker und Taubenzüchter: Heinrich Geller schließt mit Reuter einen Vertrag, der Reuter 40 Brieftauben zusichert. Geller bietet dem neuen Freund Reuter in seinem Haus in der Pontstraße eine Unterkunft an. Auf dem Dach des Hauses befindet sich der Taubenschlag. Reuters Büro ist gut zu Fuß erreichbar. Der Brieftaubenservice startet am 28. April 1850 und funktioniert hervorragend. Die „Depeschen“ mit den Nachrichten bestehen aus extra dünnem Papier, das die Tauben transportieren. Die hohen Kosten für die Beförderung der Tiere mit dem Zug sind schnell erwirtschaftet. Nach etwa drei Monaten kannReuter alle 200 Tauben von Geller nutzen und ihm monatlich 30 Taler zahlen – eine stattliche Summe.

Taubenzüchter Mahr zieht aus einem Stapel gesammelter Kopien und Briefbögen drei Seiten heraus, die der „Zeitschrift für Brieftaubenkunde“ aus dem Jahr 1939 entstammen. Es ist ein Bericht des Journalisten F. A. Bacciocco, der 1850 als Dienstbote arbeitet und die eingeflogenen Nachrichten von Gellers Taubenschlag zu Reuters Büro bringt. Mahr liest aus dem Bericht vor: „Dann kommt der Moment der gespanntesten Erwartung. Herr Geller entlockt seiner Brust die süßesten Locktöne – und klatsch! lag eine unserer Blauen auf dem Brett. ‚Brav‘ – sagte Geller – ‚do es der Zeddel!‘“ Geller übergibt dem Dienstboten dann die Nachricht und fügt hinzu: „Ne schöne Groß an der Herr Reuter.“

 

Sicherheit und Diskretion
Mahr kümmert sich heute um 100 eigene Tauben in seinem Schlag in Seffent im Aachener Stadtbezirk Laurensberg. „Leider ist die Beliebtheit für diesen Sport hier in Deutschland stark zurückgegangen. Etwa 120 000 Brieftaubenzüchter gab es 1968, heute sind es weniger als ein Drittel. Während sich diese Leidenschaft hier, in Belgien, Holland oder Frankreich im Steilflug zurückentwickelt, erleben wir ein Aufblühen des Sportes etwa in China und Japan. Das ist erstaunlich, die Menschen dort kaufen jede Menge Tauben aus Deutschland.“

Zeitgenossen beschreiben Reuter als klein und intelligent. Scharfe Augen und prägnant im Gespräch. Er ist bei seinem Service auf Sicherheit und Diskretion bedacht – grundlegende Werte, für die die Agentur heute noch bekannt ist. Er lässt bei jedem Flug drei Tauben mit identischer Nachricht ausstatten, und die in Aachen ankommenden Tiere werden größtenteils von Geller persönlich vonden Botschaften befreit, der diese nicht zu lesen hat. Für Verstöße sind vertraglich hohe Geldstrafen festgelegt. Die Nachrichten werden gut verpackt – zum Teil in Spardosen – und von Dienstboten auf direktem Weg zum Büro von Reuter gebracht, wo alle Personen, die die Informationen verarbeiten, die Texte zur selben Zeit zu sehen bekommen. Bacciocco schreibt: „Reuter hatte mich erwartet und nahm begierig den blechernen Sparpott in Empfang. Während ich meine Entlohnung entgegennahm, flogen schon die Federn über das Papier.“

 

Zuverlässig und schnell
Am 16. April 1851 ist der Bau einer Telegrafenlinie zwischen Aachen und Brüssel vollendet. Die lange elektrische Verbindung zwischen Paris und Berlin ist damit komplett, so dass keine Zwischenübermittler mehr nötig sind. Dies bedeutet das Aus für Reuter in Aachen, der den Dienst mit den Brieftauben nur etwa ein halbes Jahr lang anbieten kann. Reuters Meldungen stehen aber schon zur Aachener Zeit hoch im Kurs: Als zuverlässig und schnell gelten seine Dienste. Trotz aller Schnelligkeit im Nachrichtengeschäft prägt er mit seiner Agentur schon im 19. Jahrhundert den Leitspruch „First do it right, then do it first“ – Richtigkeit kommt vor Schnelligkeit. „Reuter war ein angesehener Mann, der in Aachen deutliche Spuren hinterlassen hat und die Region stark beeinflusst hat“, sagt Mahr.

Reuters Ehrgeiz und sein ökonomisches Talent führen dazu, dass er schnell neue Erfolge erzielt. Werner
von Siemens legt ihm einen Neustart in London nahe. 1851 eröffnet Reuter dort ein Büro für Wirtschaftsnachrichten, und es entsteht ein ungeahnter Brennpunkt für den internationalen Austausch von Nachrichten, so dass Reuter mit der Havas-Agentur in Paris konkurrieren kann. Dieser Startpunkt in England zählt heute oft als die bedeutendere Gründung der Agentur. Die Aachener Zeit mit den Brieftauben fällt dabei leicht unter den Tisch.

Das „Reuters House“ ist ganz untypisch für die Imbissbuden-Landschaft in der Pontstraße. Gemütlichkeit und italienische Musik in einem schicken Restaurant. Die Weinkarte ziert ein silberner Vogel. Ganz klar: Eine Brieftaube. „Haben Sie etwas gefunden?“, fragt der Kellner. Aber klar! Einen Rotwein aus Spanien und eine Geschichte voller Überraschungen.