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RWTH-Schreibzentrum

Kategorie: ‘Zeitung’

„Außer mir weiß es niemand mehr.“

25. Juli 2016 | von
 Dieses bewegende Portrait des überlebenden jüdischen Widerstandskämpfers, schrieb Simone Hüttenberend im Rahmen unseres Journalistisches Schreiben . Vielleicht habt ihr es auch schon in der letzten Ausgabe der AStA-Zeitschrift „relatif“ gesehen? Danke für diesen tollen Artikel!

Als der junge Siegmund die Männer an seinem Fenster vorbeimarschieren sieht, ist er fasziniert von ihrem imposanten Erscheinungsbild: „Baumlange Kerle, adrett gekleidet und gut genährt.“ Disziplinierte Frontsoldaten in geordneten Reihen. Kein einziger Schuss fällt. Die Gerüchte, die den Besatzern vorausgeeilt sind, scheinen sich  nicht zu bewahrheiten; Deutschland ist eben doch eine Kulturnation und weiß sich zu benehmen. Glaubt man.
3. September 1939, zwei Tage nach Kriegsbeginn. Die Nazis besetzen das polnische Będzin, um es kurzerhand in Bendsburg umzubenennen und es in das Deutsche Reich einzugliedern – inklusive seiner 40.000 Einwohner, unter ihnen 27.000 Juden.
In der Nacht vom 8. zum 9. September ermordet die Wehrmacht im historischen Judenviertel 400 Menschen. Sie werden in die Synagoge getrieben und in ihr verbrannt. Wer zu fliehen versucht, wird erschossen. Von eben jenen baumlangen Kerlen, die der junge Siegmund noch fünf Tage zuvor so bewundert hatte. Mit 15 Jahren muss er  erfahren, was es heißt, wenn einen die bloße Existenz zum Verbrecher macht.
Über dem Sofa hängt ein farbenfrohes Bild von den Gärten von Jerusalem. Dunkelgrüne Palmen und Pinien stehen vor einem tiefblauen Himmel, dazwischen liegen weiße Häuser mit roten Dächern. „Das Bild ist von meinem Sohn“, sagt Siegmund Pluznik stolz. Ihm gegenüber hängt ein ähnlich buntes Gemälde, gemalt von seinen Enkeln. Siegmund Pluznik wohnt heute in der Budge-Stiftung in Frankfurt. Das Ehepaar Henry und Emma Budge hat vor über 90 Jahren die Stiftung gegründet, damit hier Juden und Christen miteinander in Würde altern können. Mit diesem Auftrag ist das Seniorenheim einzigartig in Europa, auch wenn es kaum noch möglich ist, die Zimmer zu gleichen Teilen zu belegen. Im koscheren Esssaal sitzen die letzten Überlebenden der Shoah, beinahe wöchentlich werden es weniger.
„Wir durften nicht auf der Hauptstraße laufen, in den Park gehen, auf der Bank sitzen. Alles nicht ausdrücklich Erlaubte war verboten. Darunter fiel vor allen Dingen der Schulbesuch.“ Die Jugendorganisation Ha‘noar Hazioni fasst den waghalsigen Entschluss, ihre Mitglieder trotz Schulverbots weiter zu unterrichten. Siegmund Pluznik ist einer von ihnen. Die Schüler müssen ihre Bücher zum Unterricht schmuggeln und riskieren für ein bisschen Bildung nicht nur das eigene, sondern auch das Leben ihrer Familien. Einmal erwischt gibt es keine Hoffnung auf Rückkehr. „Auschwitz lag 40 km vor den Toren von Będzin. Wir hörten, dass es immer mehr Gaskammern und Krematorien gab. Ganz einfach: Auschwitz bedeutete langsamen oder schnellen Tod. Mit dieser Gewissheit konnten wir alles riskieren. Sie hat uns geholfen, in den Widerstand zu gehen.“
 Als Siegmund Pluznik vor gut 20 Jahren in den Ruhestand geht, wird die Geschichte des Jüdischen Widerstandes zu seiner Lebensaufgabe. Er hat Archive aufgesucht, Dokumente und Fotos durchforstet sowie eine Ausstellung ins Leben gerufen. Er nennt Namen, von Opfern und von Tätern. „Es ist mir wichtig, dass Sie es wissen. Weil nach Elie Wiesel (Shoah-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, Anm. d. Red.) wird jemand, der dem Zeitzeugen zuhört, auch zum Zeitzeugen. Vom wem sollen Sie es sonst erfahren? Außer mir weiß es niemand mehr.“
Das erste Opfer der Klasse ist Joseph Weinstock. Er wird in ein Arbeitslager geschickt. Ein paar Wochen später kommt die Nachricht von seinem Tod. Monat für Monat verschwinden weitere Menschen, Bendsburg wird  germanisiert. Während die Wehrmacht die polnische Bevölkerung aus der Stadt vertreibt, wird Siegmund Pluznik mit seiner Familie einem „Geschlossenen Judenbezirk“ zugewiesen. „Im Prinzip war es kein richtiges Ghetto. Unter Ghetto versteht man, wenn es umzäunt ist, mit Mauern umgeben oder mit Wachtürmen und Stacheldraht. Das war in Będzin nicht nötig. Um sich zu verstecken oder wegzulaufen, brauchte man Hilfe. Die hatten wir nicht.“
Als am 1. August 1943 der „Judenbezirk“ liquidiert wird, hat sich die ehemals unpolitische Ha‘noar Hazioni zu einer gut organisierten Widerstandsgruppe entwickelt. Mit Verbindung zu Mordechaj Anielewicz und Eliezer Geller, zwei Anführern des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Ihr erklärtes Ziel ist es, zu überleben, um ihre Geschichte weiter erzählen zu können. Von den 60 Menschen, die an diesem Tag in den Untergrund abtauchen, werden 45 den Krieg überstehen.
Siegmund Pluznik ist der reinste Entertainer, wenn er vor Leuten spricht. In einem Moment scherzt er über seine Karriere als Schulschwänzer, im nächsten durchwacht man mit ihm eine Nacht im Luftschutzbunker. Gerade  Schüler fühlen mit dem jungen Siegmund, der ohne Grund von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen wird, und sie fiebern mit, als der 17-Jährige sich auf die Suche nach Schmugglern macht und nicht so recht weiß, wie er das anstellen soll.
In einer zehnköpfigen Gruppe flüchtet Siegmund Pluznik über die Tschechei nach Wien. „Der 1. August 1943 war ein sehr heißer Tag und ich trug ein Sommerjäckchen. Im Winter trug ich noch dasselbe Jäckchen, dieselbe Unterwäsche.“ Im November sinkt die Temperatur in Wien auf unter fünf Grad. Um der Kälte zu entgehen, fährt Siegmund Pluznik lange Strecken Straßenbahn und treibt sich in den öffentlichen Badeanstalten herum. Dabei gilt es, möglichst nicht aufzufallen: Ungepflegte, unbeschäftigte Menschen gelten als suspekt, erst recht in Kriegszeiten. „Wenn Sie obdachlos sind, wo wollen Sie sich rasieren?“
Am Opernring, direkt neben dem Naturhistorischen Museum, steht zu jener Zeit ein Toilettenhäuschen. Im Morgengrauen, wenn es die Männer vor lauter Kälte nicht mehr aushalten, können sie sich hier ein wenig aufwärmen, sich waschen und rasieren. Nur die Toilettenfrau wird Zeugin des Geschehens. Siegmund Pluznik gibt ihr statt 10 Pfennig 20 Pfennig. „Nach ein paar Tagen fand ich eine Rasierklinge beim Waschbecken. Gebraucht
zwar, aber sie war besser als meine. Die Frau hätte mich der Gestapo ausliefern können, stattdessen machte sie mir ein Geschenk. Um jemanden in Not zu helfen, muss man keine Titel, keine Diplome besitzen, man muss nur das Herz an der richtigen Stelle haben.“
Heute spricht Siegmund Pluznik nicht mehr zu Klassen. Er hat seine Ausstellung an den HEIMATSUCHER e.V. weitergegeben. Damit die Geschichte nicht mit den letzten Überlebenden verstummt, hat der Verein das Konzept der Z(w)eitzeugen entwickelt. Die Zeugen der Zeitzeugen veranstalten Ausstellungen und besuchen Schulen. Sie tragen die Geschichten der Shoah weiter und stoßen bei den Schülern auf viel Empathie und Tatendrang. Als frisch gebackene Z(w)eitzeugen können die Schüler schließlich Briefe an die Überlebenden schicken, solange es sie noch gibt.
Siegmund Pluznik sitzt an seinem Küchentisch neben der Durchreiche. Eine große Lupe in der einen, sein Telefon in der anderen Hand. Vorsichtig drückt er die Ziffern und wartet auf das Freizeichen. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Stimme und Siegmund Pluznik geht in die Charme-Offensive. Am liebsten sucht er Unterstützer für den HEIMATSUCHER e.V. und schmiedet Pläne für neue Ausstellungen und Lesungen. Auch wenn er seit einigen Jahren kaum selbst noch Vorträge hält, den Kampf gegen das Vergessen wird er niemals aufgeben. Es ist ein unerbittlicher Kampf mit einem hartnäckigen Gegenspieler – der Zeit.
„Ich bin 15 Jahre alt und eigentlich ein wenig kalt manchmal, aber du hast mich zum Nachdenken gebracht. Ich sehe jetzt alles mit anderen Augen. Ich finde es gut, dass du deine Erfahrung und dein Wissen mit uns teilst. Mit uns meine ich alle Menschen, die deine Geschichte mitbekommen haben, denn alle Menschen sind gleich. Danke, dass du da bist, Siegmund.“
– Brief einer Schülerin (15 Jahre)

Auf geht’s ins Blätterdach

28. Juni 2016 | von

Eifelbäume

 

Was machen zwei Studierende nachts im Wald? Für ihre Reportage hat Christine Hendriks die beiden bei ihren Forschungen in den Wäldern der Region begleitet.

Ein weiterer interessanter Artikel aus unserem Seminar Journalistisches Schreiben, der auch in der AZ / AN erschienen ist. Herzlichen Glückwunsch!

 

Wie und warum Vanessa Bursche und Klara Krämer Eifelwälder unter die Lupe nehmen. Vom Wert der Bäume.

Es regnet nicht. Seit etwa einer Stunde ist es dunkel. Durch die Baumkronen scheint fahles Mondlicht und wirft bizarre Schatten auf den Waldboden. Ein Käuzchen schreit. Dann ist es wieder still. Niemand ist um Mitternacht im Wald unterwegs – sollte man meinen. Zwei junge Frauen schleppen eine Obstbaumleiter durch das Unterholz und richten sie unter einer Buche auf. Klara drückt die Verankerungen tief in den Boden, während Vanessa ihr Messgerät überprüft. „Das sollte halten“, sagt Klara. Vanessa grinst und klettert die frei stehende Leiter vier Meter hoch bis ins Blätterdach.

Ein RWTH-Projekt

Vanessa Bursche und Klara Krämer sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Umweltforschung der RWTH Aachen. Als Promotions-Stipendiatinnen der Dr.-Axe-Stiftung untersuchen sie den Einfluss verschiedener Waldmanagement-Strategien auf die Entwicklung der Rotbuchenwälder in der Eifel. Silvaluta, ihr Projekt, läuft seit 2010. Ziel ist es, die ökologischen Prozesse zu verstehen, denn neben dem Rohstoff Holz liefern die Wälder einen wichtigen Beitrag zum Klima und dienen als Lebensraum für viele Tierarten.

„Es gibt viele alte Bestände schon von vor den Wetteraufzeichnungen, und man weiß nicht, wie die Leute den Wald damals bewirtschaftet haben. Manchmal führen sogar Römerstraßen durch den Wald“, erzählt Martina Roß-Nickoll, Leiterin der Arbeitsgruppe „Ökologie und Ökotoxikologie der Lebensgemeinschaften“. Die Erforschung der unterschiedlich bewirtschafteten Waldflächen im Landkreis Ahrweiler bringt viele Herausforderungen mit sich. „Bäume leben sehr lange. Ein Menschenleben beträgt nur circa ein Fünftel des Lebens eines Baumes.“ Deshalb könne man Wälder nur in Momentaufnahmen untersuchen. Eine komplexe Aufgabe, die für die Ökologin auch eine persönliche Bedeutung besitzt. „Ich möchte die Wälder so naturnah wie möglich gestalten, und durch die Aufklärung der Prozesse vermitteln, wie wertvoll sie für uns sind.“

In einem gesunden Wald ist es im Sommer kühler und feuchter als auf dem freien Feld. Die klimatischen Bedingungen stehen in engem Zusammenhang mit der Photosynthese der Blätter. Ein zentraler biologischer Prozess, den Vanessa Bursche untersucht,um die Vitalität der Bäume zu bestimmen. Denn mit Hilfe von Sonnenlicht, Kohlendioxid (CO2) aus der Luft und Wasser produziert ein Baumsein organisches Baumaterial. Für einen Kubikmeter Holz bindet er eine Tonne CO2 und bildet gleichzeitig 750 Kilogrammlebenswichtigen Sauerstoff – ein echter Beitrag zum Klimaschutz.

Für die Freilandarbeit muss man spontan sein. „Manchmal fahre ich zwei Stunden zum Wald, weil der Himmel klar ist, und kaum bin ich da, fängt es an zu regnen“, sagt Vanessa Bursche und lacht. Ihr Messgerät bestimmt die Photosyntheseleistung der Blätter, indem es sie mit Licht bestrahlt, und „das geht nur, wenn es keine  ungewünschte Reflexion durch Regentropfen gibt und die Blätter eine Stunde vorher nicht mehr dem Sonnenlicht ausgesetzt waren“, erklärt sie.

Deshalb unternahm sie mit Klara Krämer und der Obstbaumleiter bereits diverse lange nächtliche Streifzüge durch die Eifeler Waldgebiete. Das Klettern im Dunkeln ist kein gewöhnlicher Job, aber an Übung mangelt es nicht: Bei zehn Blättern pro Baum und drei Bäumen pro Fläche untersuchte sie 360  Blätter. „Am Anfang hatte ich wirklich ein bisschen Bammel, aber die Leiter ist sehr stabil.“

Nachhaltiges Management

Die Forstwirtschaft hat in Deutschland lange Tradition, und „es wirkt sich langfristig aus, wie die Förster den Wald behandeln“, sagt Martina Roß-Nickoll. Im naturnahen Plenterwald gibt es Bäume verschiedenen Alters, das heißt, es werden nur einzelne Bäume entfernt. Anders der Altersklassenwald: Hier werden die Bäume gruppenweise ab einem bestimmten Alter gefällt. „Ursprünglich war nahezu die gesamte Landesfläche mit   Rotbuchenwäldern bedeckt“, so die Ökologin. Doch durch die intensive Nutzung und die Einführung von schnellwachsenden Fichten und Douglasien sind die Rotbuchenbestände heute auf weniger als fünf Prozent geschrumpft. Nachhaltiges Waldmanagement ist nötig, um diese Wälder für kommende Generationen zu erhalten.

Ein Mikroskop, daneben eine Glasschale mit toten schwarzen Käfern, die säuberlich angeordnet auf dem Rücken liegen – Klara Krämer kennt sie alle. „Ich untersuche, wie sich die verschiedenen Waldwirtschaftsformen auf die Vielfalt der Käferarten auswirken“, sagt die Doktorandin. Dazu hat sie Käfer in Bodenfallen gefangen und 10 000 Liter Waldboden durchsiebt.

Eine gewisse Sehnsucht

Sie holt ein Foto aus ihrem Ordner. „Das ist ein Holzrüssler“, eine seltene Art, die für ihre Arbeit besonders aufschlussreich ist. Der nur zwei Millimeter große Bewohner alter Wälder ernährt sich von Totholz und ist flügellos. Deshalb bewegt er sich nur wenige Meter pro Jahr und kann vor äußeren Einflüssen nicht fliehen. Wenn sie ihn findet, hat Krämer ein wichtiges Indiz, dass es sich um einen alten naturbelassenen Wald handelt.

„Wälder sind etwas Besonderes“, da sind sich die drei Wissenschaftlerinnen einig. „Vielen Leuten ist heute nicht mehr klar, dass diese Ökosysteme ganz ohne den Menschen funktionieren, weil die Konkurrenz um Nahrung und Lebensraum zu balancierten Systemen führt“, sagt Martina Roß-Nickoll. Für die Untersuchung dieser komplexen Prozesse erfahren die Forscherinnen viel positive Resonanz von der Öffentlichkeit. Das sei vor 30 Jahren noch nicht so gewesen, erinnert sich die Gruppenleiterin. „Ich glaube, die Menschen sehnen sich heute nach etwas Dauerhaftem, und finden im Wald Erholung vom hektischen Alltag.“ Ein Grund mehr, wieder in die Eifel zu fahren, finden Klara Krämer und Vanessa Bursche – Ökologinnen aus Leidenschaft.

Das Projekt Silvaluta des Instituts für Umweltforschung der RWTH Aachen läuft seit 2010 bis voraussichtlich Ende 2016. In diesem Zeitraum werden in der Eifel im Landkreis Ahrweiler unter anderem die Auswirkungen verschiedener Waldbewirtschaftungsformen auf die Vitalität der Bäume und die Lebensgemeinschaften der Tiere und Pflanzen untersucht. Ziel ist es, durch die Forschungsergebnisse ein tieferes Verständnis für die ökologischen Prozesse zu erlangen, um die heimischen Rotbuchenwälder zukünftig naturnah zu gestalten. Förderer sind die Dr.-Axe-Stiftung und die Gemeinde Hümmel.

Aachen sehen … und bleiben?

22. Juni 2016 | von

LisaSchubert_relatif

 

Was macht Aachen schön und liebenswert? Für ihre Reportage hat Lisa Schubert mit drei Studierenden und einem Unternehmensgründer gesprochen, die für ihr Studium in die Karlsstadt gezogen sind. Können sie sich vorstellen, sich nach dem Abschluss in Aachen niederzulassen?

Ein toller Text aus unserem Seminar Journalistisches Schreiben, der auch in der AStA-Zeitschrift „relatif“ zu lesen ist. Vielen Dank!

 

 

 

 

Aachen ist eine der beliebtesten Studienstädte des Landes. Aber können sich junge Studierende vorstellen, ihr ganzes Leben in der Kaiserstadt zu verbringen?

Die goldenen Zeiger des Aachener Rathauses zeigen viertel nach eins. Die steinernen Könige an dessen Nordfassade wachen über den Marktplatz. Der Karlsbrunnen schimmert im Sonnenlicht. Postkartentauglich! Und vor dieser historischen Kulisse, mitten auf dem Aachener Markt tummeln sich unzählige Leute – bunt, laut und vor allem jung.

Jährlich strömen tausende Studierende aus vielen verschiedenen Nationen in die Karlsstadt. Auch Jana, Moritz und Lisa gehören zu denjenigen, die sich für ein Studium in Aachen entschieden haben. Hinter ihnen liegen mittlerweile mehrere Jahre in der Stadt am Dreiländereck.

Die „Hidden Champions“
Als Lars Lambrecht vor fünfzehn Jahren die Leidenschaft für das Segelfliegen nach Aachen trieb, ahnte er noch nicht, dass er sich hier einmal eine Zukunft aufbauen würde. Als junger Bursche stand für ihn zunächst nur fest: „Irgendwas mit Flugzeugen soll es sein!“ Daraus wurde ein Maschinenbaustudium mit dem Schwerpunkt Luftfahrt; und so steuerte er den Überfliegern der RWTH Elite-Universität entgegen.

Ruhig und gelassen sitzt er in einer gemütlichen Sitzecke seiner Firma. Ein großer Raum mit einer überschaubaren Anzahl an Mitarbeitern, direkt am Bahnhof Schanz gelegen. „Engidesk“ stellt Ingenieuren
eine Software zur Verfügung, die ihnen hilft, sehr viel produktiver und kreativer zu arbeiten. Zufrieden erzählt Lambrecht von der Entscheidung, Aachen als Standort für sein Unternehmen gewählt zu haben: „Durch das Studium war genug Zeit, sich hier ein breites Netzwerk aufzubauen, und außerdem gibt es hier viele Unternehmen und ‚Hidden Champions‘.“ Laut Lambrecht wirkt das Jobangebot in Aachen vordergründig begrenzt, schaut man aber genauer hin, finden sich jedoch auch einige Weltmarktführer.

Aufgeschlossen noch und (n)Öcher
Auf dem Aachener Campus tummeln sich mittlerweile etwa 58.000 Studierende. Darunter überwiegend Männer. Einige von ihnen eher schmal und etwas blässlich; als Kleidungsstück dominiert das Karohemd. Klischee erfüllt! „Man trifft eigentlich nur einen Schlag Mensch hier – Ingenieure“, findet Moritz. Als ehemaliger Elektrotechnikstudent fügte er sich eine Zeit lang selbst in die Reihe der Unauffälligen; seit etwa drei Jahren geht er als Doktorand seinen eigenen Weg.

Außerhalb der technischen Universität, fernab von Karohemden und Unscheinbarkeit, begegnet einem das bunte Leben. Lambrecht genießt seinen heterogenen Bekanntenkreis, den er und seine Frau sich über die Jahre aufgebaut haben. „Die meisten sind sehr aufgeschlossen und man spürt die Kreativität. Es begegnen einem vermehrt Leute mit festen Plänen und Zielen, die eine Geschichte zu erzählen haben und unternehmenslustig sind.“

Von allem ein bisschen
Für Aachen finden die meisten zwei Worte: Gemütlich, überschaubar. Die Innenstadt direkt vor der Haustür, die Natur zum Greifen nahe. Der Aachener Wald, das Dreiländereck, der Lousberg; ideale Rückzugsorte für den Naturfreund, der die gelegentliche Flucht aus dem Stadttrubel sucht.

Die Studentin Jana hat etwa drei Jahre in einer Wohngemeinschaft in der Aachener Innenstadt verbracht. Als Geographiestudentin liebt sie die Ferne, Abwechslung und das Reisen. Viele Städte hat sie schon gesehen, darunter Großstädte wie Stockholm, Hamburg und Berlin. Trotzdem hat sie zu Aachen eine ganz besondere Verbindung. „Aachen ist für mich eine ganz besondere Stadt. Sie bietet viel Abwechslung und trotzdem ist zu Fuß fast alles erreichbar.“

Alles Wasser kommt von oben
Der Ursprung des Namens Aachen wird in dem altgermanischen Wort „Ahha“ vermutet, das so viel wie „Wasser“ bedeutet. Noch vor einigen Jahren war Aachen Anlaufpunkt für zahlreiche überarbeitete Geschäftsmänner aus der Umgebung, die nach Erholung in den heißen Quellen suchten. Das heilende Thermalwasser, ein Aushängeschild der Stadt.

Dennoch vermissen viele das Wasser. Denn einen See oder einen Fluss hat das kleine Städtchen nicht zu bieten. „Das Einzige, was in Aachen fehlt, ist ein Gewässer“, findet auch Hobbysegler Lambrecht. Um zum Wasser zu gelangen, muss er mindestens eine Stunde Fahrt zum Rursee oder nach Roermond in Kauf nehmen.

Zu wenig Wasser am Boden, zu viel Wasser von oben. Nicht selten sind die Öcher dem monotonen Plätschern des Regens ausgesetzt. „Das Wetter in Aachen ist eine Katastrophe!“, bemerkt auch Geisteswissenschaftlerin
Lisa. Sie stammt aus Nürnberg, der zweitsonnigsten Stadt Deutschlands. Dabei schneidet Aachen insgesamt mit durchschnittlich 1552 Sonnenstunden im Jahr und auf Platz 19 der sonnigsten Städte Deutschlands gar nicht so schlecht ab.

Bis dass der Studienabschluss uns scheidet?
„Ich bin noch nie so lange an einem Ort gewesen wie jetzt in Aachen“. Für Lambrecht steht fest, dass er das kleine Städtchen so schnell nicht mehr verlassen wird. Können sich die drei Studierenden ebenfalls vorstellen, in Aachen zu bleiben?

Jana ist für das Masterstudium aus Aachen weggegangen, da sie sich nach einer neuen Umgebung gesehnt hat. „Generell könnte ich mir aber schon gut vorstellen, irgendwann wieder hierherzuziehen.“ Doktorand Moritz zieht es nach über zehn Jahren in der Karlsstadt in eine größere Stadt wie Köln. Und Geisteswissenschaftlerin Lisa ist sich noch nicht sicher, kann sich aber durchaus eine Zukunft in Aachen vorstellen.

Zurück auf dem Marktplatz. Mittendrin fällt jetzt auch vereinzelt der ein oder andere Rentner auf, der seine Füße behutsam über das Kopfsteinpflaster hebt. Vielleicht wird in vielen Jahren einer der dreien unter ihnen sein; gealtert, zufrieden und umgeben von Studierenden.

Durch elf Hochsicherheitstüren in den Strafraum

09. Juni 2016 | von

Bis ins Gefängins hat sich Helena Mertens für unser Seminar Journalistisches Schreiben gewagt. Das Thema ihres Artikels ist eine Partie Fußball: Die JVA-Mannschaft „Villa Kunterbunt“ gegen die Gastmannschaft „Motex“. Der spannende Spielbericht hat es sogar in die Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten geschafft – Herzlichen Glückwunsch!

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Durch elf Hochsicherheitstüren in den Strafraum

13 Männer entscheiden sich freiwillig für den Gang in die Aachener JVA und lassen sich zwei Stunden für ein Spiel gegen die Gefängnismannschaft einschließen

Aachen. Es ist ein nasskalter Mittwochabend. Das grelle Flutlicht ist eingeschaltet, und die zehn Spieler der „Villa Kunterbunt“ in gelben Trikots und blauen Hosen spielen sich den Ball auf dem Kunstrasen zu. Ein ganz normaler Fußballplatz, könnte man auf den ersten Blick meinen. Wären da nicht die meterhohen Mauern mit dem Natodraht, die Überwachungskameras an fast jeder Ecke und schwere Seile, die über den gesamten Rasenplatz gespannt sind, damit dort kein Hubschrauber landen kann.

Flapsige Sprüche

Was für die Jungs von „Villa Kunterbunt“, der Fußballmannschaft in der JVA, längst zur Normalität geworden ist, wirkt für Besucher abschreckend. So ergeht es auch den Spielern von „Motex“, der Gastmannschaft, die am heutigen Abend ins Gefängnis kommt.

Unterschiedlicher könnten die Spieler der Mannschaften kaum sein. Während die einen sie nicht mehr sehen können, brennen die anderen darauf, einen Blick hinter die hohen Mauern zu erhaschen. Für den Bauingenieur Jan (23) liegt genau darin der Reiz: „Wir freuen uns auf ein gutes und spannendes Spiel. Aber wir wollen natürlich auch mal sehen, wie so ein Gefängnis von innen aussieht.“

„Motex“ trifft auf die JVA-Jungs, während die sich auf dem Platz aufwärmen. Man mustert einander und nickt sich zu. Kurz vor Spielbeginn ist noch in der Kabine gescherzt worden, die ernste Situation überspielen die „Knast-Neulinge“ mit Humor. Flapsige Sprüche wie „Benehmt euch, sonst bleibt ihr hier“ oder „Unterschätzt die nicht, die üben den ganzen Tag“ werden mit viel Gelächter quittiert. Kameraden, die nicht zum ersten Mal in der JVA spielen, ermutigen: „Ihr braucht nicht zu denken, dass die ein Messer dabei haben, also geht ruhig in die Offensive!“

Der Weg vom Haupteingang bis zum Fußballplatz ist kein alltäglicher: Elf Stahltüren müssen auf und wieder zugeschlossen werden. Umso erstaunlicher, dass auf dem Spielfeld selbst keine Vollzugsbeamten stehen, mit Schlagstock und Pistole. Dass den inhaftierten Spielern Vertrauen geschenkt wird, fällt auf: „In puncto Umgangston und Spielverhalten ist das hier angenehmer als bei manchem Spiel in der zweiten oder dritten Liga“, meint Frank Mingers, der entspannt am Spielfeldrand steht und die Mannschaften mit verschränkten Armen beobachtet. Mingers leitet zusammen mit sechs anderen Vollzugsbeamten den Sport in der JVA. Statt Uniform trägt er einen Jogginganzug.

Feste Regeln, kein Schiedsrichter

Ein Schiedsrichter wird nicht zum heutigen Duell erscheinen. Auch wenn das Fußballspiel im Knast stattfindet, haben die Regeln der Bunten Liga an diesem Abend höchste Priorität: Kein Schiedsrichter, kein passives Abseits, fliegender Spielerwechsel, Einrollen statt Einwerfen, erlaubter Rückpass.

Apropos Bunte Liga: „BUNTE“ steht für Balance, Unterhaltung, Neutralität, Toleranz, Erlebnis. Seit 1982 gibt es diese freie Fußballgemeinschaft. Heute sind dort 56 Mannschaften vertreten. „Wer hier spielt, hat einfach Bock aufs Kicken“, sagt Vorstand Dieter Jeandrèe.

Raus aus den grauen Mauern des Gefängnisses geht es für die „Villa Kunterbunt“ nur bei „knastinternen“ Spielen, z. B. gegen die JVA Siegburg oder Köln. Um für die Meisterschaften und Pokalrunden fit zu sein, trainieren die Fußballbegeisterten einmal pro Woche, meist am Samstag, dem Sporttag in der JVA. Für die Mittwochabende ist in der Regel ein Spiel der Bunten Liga angesetzt. Neben dem Lauf- und Fußballtraining können Inhaftierte Tischtennis, Badminton oder Volleyball spielen und im Fitnessstudio trainieren. „Das Sportangebot ist sehr wichtig für die Jungs, aber wenn mal Not am Mann ist, müssen wir irgendwo anders einspringen. Dann fällt Sport als Erstes aus“, sagt Mingers.

18 Uhr: Es geht los. Der Ball rollt. Gespielt wird zehn gegen zehn. Die ersten fünf Spielminuten sind ein vorsichtiges Abtasten beider Mannschaften. Dann ein Steilpass aus dem Mittelfeld von „Motex“, der die Abwehrreihe der „Villa Kunterbunt“ vollkommen überrascht. Stürmer Jan mit der Trikotnummer 13 läuft allein auf den Torwart zu – Querpass: 0:1.

Nach verhaltenem Jubel wird die Partie fortgesetzt. „Motex“ ist die stärkere Mannschaft. Durch gelungene Kombinationen erarbeiten sich die Jungs weitere Torchancen und treffen. Die Zweikämpfe werden härter. Halbzeit: 2:5.

Keinerlei Fan-Unterstützung

90 Minuten lang spielt die kriminelle Vergangenheit der Heimmannschaft keine Rolle. Für die Jungs von „Motex“ sind sie einfach nur „Gegner, so wie jede Woche“. Kein Grund also, auf dem Platz nicht alles zu geben. Doch in der Halbzeit gesteht Jan: „Als wir uns vor dem Spiel gegenüberstanden, da überlegt man sich schon, was die gemacht haben und warum die hier sind.“ Auf die Frage nach der Fairness des Gegners antwortet der Stürmer: „Klar, es gibt Fouls auf beiden Seiten, aber die sind völlig im sportlichen Rahmen!“

Trotz des unbestreitbaren Heimvorteils fehlt der „Villa Kunterbunt“ jegliche Fan-Unterstützung. Mitinsassen, die von ihren Zellen aus durch die Eisengitter das Spiel beobachten und mitfiebern, sieht man nicht. Keine Reaktion auf Tore. Kein Jubeln, kein Pfeifen, kein Applaus. Nur das Flackern der Fernsehbildschirme in den Zellen.

Zweite Halbzeit: Die Jungs der „Villa Kunterbunt“ geben nicht auf und demonstrieren mit vereinzelt guten Aktionen ihr fußballerisches Können. Der Abwehrchef hämmert einen sehenswerten Weitschuss mit gefühlten 150 km/h in den Winkel – 4:8. Doch den Jubelnden ist klar, dass es sich nur noch um Ergebniskosmetik handelt. In der Schlussphase ist die Luft raus. Am Ende gewinnen die Gäste mit 4:9. Doch die geschlagenen Häftlinge erweisen sich als faire Verlierer. Alle klatschen ab, wirken zufrieden und erschöpft.

Was die Gastmannschaft nach dem Spiel nachdenklich stimmt, ist vor allem das Alter der Inhaftierten. Manche sind gerade Anfang 20 und sitzen nicht wegen Kavaliersdelikten ein. Auf dem Weg zurück auf die andere Seite der hohen Mauern, beim erneuten Auf- und Abschließen der elf Türen, versuchen einige „Motex“-Jungs einen Blick auf die Zellen zu erhaschen. Plötzlich ist die Neugierde groß.

Für den Justizvollzugsbeamten Mingers ist das nichts Neues: „Meistens will die Gastmannschaft erst nach dem Spiel etwas von den Häftlingen erfahren.“ Die Frage, warum die Jungs denn eigentlich sitzen, wird auch an diesem Abend mehrfach gestellt. Mingers lässt sie unbeantwortet – wie jedes Mal.