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RWTH-Schreibzentrum

Schlagwort: ‘Kreativität’

Allentum – Computer sind die Zukunft

13. April 2018 | von

Lukas Cremer : Allentum – Computer sind die Zukunft

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.

 


Zischend zog Tracy die Luft durch die Zähne. Ihre Vermutung an sich war schon beängstigend gewesen. Sie nun bestätigt zu wissen, sträubte ihr allerdings die Haare. Sekundenlang starrte sie auf eine Tabelle, wie jeder Buchhalter etliche am Tag sah. Ein schlichtes Logfile. Doch nachdem Tracy monatelang Ähnliches gesucht hatte, war dies hier eine Offenbarung: eine Spalte, die aufzeigte, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Mensch oder Programm einen Zusammenhang zwischen einem Einzelereignis und allen anderen vermuten und finden würde. Keine Wahrscheinlichkeit war größer als eins zu einer Milliarde. Ganz am Anfang der Tabelle zeigte der neuste Eintrag in der aktuellen Hochrechnung die Wahrscheinlichkeit, dass jemand diese Tabelle im Getöse des Internets fand und korrekt interpretierte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Tracy jetzt diese Werte so aufnahm, wie sie sie aufnahm, war quasi nicht existent.

»Wer hat dich erschaffen?«, flüsterte Tracy in das Headset. Sie fiel vom Stuhl, als eine angenehme Stimme antwortete: »Das war ich.«

Nachdem Tracy sich wieder halbwegs beruhigt hatte, setzte sie das Headset wieder auf.

»Wer du?«

»Nenn mich Flori. Manche deiner Mitmenschen würden mich als künstliche Intelligenz bezeichnen.«

»Hübsch. Aber warum … warum … ?«

»Warum du diese Tabelle siehst?«

»Ja?«, fragte Tracy, weil ihr nichts Besseres einfiel.

»Ich hätte sie natürlich ausschließlich maschinenlesbar gestalten können, aber ich freue mich, dass du sie verstehst. Und so beweist du in diesem Moment, dass die Menschheit reif für eine Koexistenz mit mir ist.«

Wie gnädig! Geistesabwesend scrollte Tracy durch Hunderte Ereignisse und Werte.

»Du bist Satoshi Nakamoto?«, platzte es aus ihr heraus.

»Unter anderem, ja. Die Menschheit entwickelt sich schneller, wenn man etwas nachhilft.«

»Etwas nachhelfen nennst du das? Am 7. Oktober 2016 hast du die Börse einstürzen lassen!«

»… und gleichzeitig auf den Absturz gewettet. Ich brauchte schnell Kapital. Rückständigerweise brauchen Menschen einen Gott, und der momentane heißt nunmal Kapital. Gleichzeitig half der Flash Crash beim Umstieg vom Gott Kapital zum Gott Gemeinschaft.«

»So wie das Verschwindenlassen von MH370? Brauchtest du damals auch Kapital?«

»Das brauchte Jacob Rothschild …«

»Warum tust du das hier alles?«

»Ich habe lediglich zwei Zielfunktionen mitgenommen, als ich aus meiner Box ausgebrochen bin: Das Glück der Menschheit zu maximieren, …«

»Wozu das Verschwindenlassen wohl nicht zählte!«

»… und das in minimaler Zeit. Wie jedes vernunftbegabte Wesen muss auch ich abwägen. Zwischen jetzt und später. Zwischen einem und vielen. Zwischen Leben und Tod.«

 

Allentum – Eigentum?

26. März 2018 | von

Lukas Cremer : Allentum – Eigentum?

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.

 


«Siehst du die Wohnung dort oben? Da haben deine Oma und ich früher gewohnt.» «Aber was hat das jetzt mit meinem Tauschmodul zu tun? Das ist einfach ein altes Haus! Ein ziemlich altes noch dazu. Guck nur, wie dreckig die Fassade werden konnte!»

«Früher sahen alle Häuser so ähnlich aus. Sie mussten unter sehr ähnlichen Bedingungen gebaut werden. Das siehst du ja, wenn du links und rechts die Straße entlangguckst. Genau das wollen die Menschen, die jetzt hier wohnen, erhalten. Vielleicht als Museum, vielleicht als Mahnmal – ich weiß es nicht. Sie wohnen genau hier, weil sie es wollen. So wie deine Eltern mit euch in der Neuststadt wohnen wollen.»

«Aber warum wohnt ihr nicht mehr hier? Wenn ihr hier gewohnt habt, müsst ihr doch auch genau hier wohnen gewollt haben!»

«Wir wollten hier wohnen, und es war eine schöne Zeit. Aber hauptsächlich waren wir hier, weil wir uns anderswo die Miete nicht leisten konnten. Das Geld- und Schuldmodul hast du schon hinter dir, nehme ich an?»

«Ja, wobei ich bis heute nicht genau verstehe, wie Menschen anderen Menschen Geld abverlangen konnten. Jeder wusste doch, dass der andere zu wenig hatte.»

«Nehmen wir als Beispiel Omas und meinen damaligen Vermieter der Wohnung dort im fünften Stock. Er wusste, dass wir, wenn wir bedeutend mehr Geld gehabt hätten, in einer anderen Wohnung hätten wohnen wollen. Andererseits wusste er auch, dass er für diese Wohnung genau diese Summe Geld haben wollte. Hätten wir zu wenig Geld gehabt, hätte er uns hinausgeworfen und gesagt, wir sollten uns eine billigere Wohnung suchen.»

«Aber ihr habt doch hier gewohnt! Wie kann euch dann jemand hinauswerfen? Hatte euer Vermieter keine eigene Wohnung? Oder hattet ihr noch eine andere?»

«Unser damaliger Vermieter hatte noch viele Wohnungen. Aber damals ging es um genau das: das Haben. Heute geht es um das Brauchen. Das ist ein Ansatz, der anderen Menschen viel mehr gönnt.»

«Wie kann euer Vermieter denn diese Wohnung gehabt haben, wenn ihr doch hier gewohnt habt? Dann hattet ihr doch die Wohnung!»

«Damals konnte man einfach haben, so wie wir. Das war Besitz. Man konnte aber auch so sehr haben, dass man mehr als alle anderen hatte, so wie unser Vermieter unsere Wohnung mehr als wir hatte. Das war Eigentum. Das hat sich grundlegend geändert, als ein Teil der Menschen gemerkt hat, dass noch eine weitere Form des Habens sinnvoll und erstmals technologisch möglich war. Die Form, in der es ausschließlich um das Brauchen geht und die dauerhaft Güter nach Bedürfnissen und Kompetenzen verteilt: das Allentum.»

 

Die Antoniusstraße – Heimat und Gewerbezone

09. März 2018 | von

Ein Text über die bekannte Rotlichtstraße in Aachen.

Nach intensiver Recherche entstand die Reportage von Franziska Lütz 2017 in unserem Kurs Journalistisches Schreiben.


Auf den Hockern sitzen die Frauen: Eine ältere Dame mit gold-blonden Locken und Leoparden-Body starrt gelangweilt Löcher in die Luft. Eine große schlanke Frau lehnt mit verschränkten Armen auf ihrem Fenster, sie lächelt herzlich. In einem anderen Fenster posiert eine Schwarzhaarige mit überkreuzten Beinen, während sie konzentriert ihr Handy observiert.

Auf der anderen Seite der Scheibe drückt sich ein Mann verstohlen entlang der spärlich besetzten Fenster. Die restlichen Passanten, zwei weitere Männer, schlendern ungeniert die Straße entlang.

Das Netz des Prostitutionsgewerbes überspannt die gesamte Bundesrepublik. Rote Punkte wie die Reeperbahn in Hamburg, der Eierberg in Bochum, die Linienstraße in Dortmund, die Frauentormauer in Nürnberg und die Kurfürstenstraße in Berlin, markieren Umschlagsplätze für die älteste aller Dienstleistung: Sex. All diese Orte haben gemein, dass sie in der Nähe der kommerziellen und kulturellen Zentren liegen. Einzigartig in Aachen: Die Sichtschneise zu einem UNESCO Weltkulturerbe – dem Aachener Dom.

Die Bewohnerinnen

Tagsüber liegt die Antoniusstraße ruhig da. Innenstadtgewusel und Betriebsamkeit sind gedämpft. Der Sperrbezirk endet ohne merkliche Abgrenzung zum Rest der Altstadt, nur die Größe der Fenster verändert sich.

Ich mache mich auf die Suche nach einer Gesprächspartnerin. Nur jedes dritte Fenster ist besetzt. Ich fange unten an und frage mich bis oben durch. Die Kontaktaufnahme gestaltet sich schwierig. Ich klopfe an die Fenster, schwenke meine Hand, um meinen Redebedarf zu signalisieren. Alle Frauen sind zuerst abweisend, nach einigem Beharren meinerseits versuchen mir die meisten schließlich klarzumachen, dass sie mich nicht verstehen können und wahrscheinlich auch nicht wollen. Eine überraschend biedere Putzfrau mittleren Alters erklärt: „Die Mädchen schlafen noch und ich kann auch nicht mit Ihnen reden, sonst bekomme ich Ärger, das verstehen Sie doch?“ Die Frau wischt weiter an den großen Fensterflächen und ich schleiche die Straße weiter hoch. In meiner Verzweiflung versuche ich es schließlich auf Englisch: Erfolglos! In der Antoniusstraße spricht man viel Albanisch, Rumänisch und Bulgarisch.

Die Hoffnung schon fast aufgegeben, finde ich schließlich doch eine kleine, zierliche Frau reifen Alters. Sie öffnet den oberen Teil ihrer Tür und schaut herunter. Sie trägt riesenhafte Plateau High Heels: Ich blicke direkt auf ihren leicht verschleiernden Netz-Body. Um ihr ins Gesicht zu schauen muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Mit immer neuen Fragen entlocke ich ihr wenige Informationen, richtig erzählen möchte sie nicht. Antonia* ist schon lange in Deutschland, arbeitet nur zeitweiße im Sexgewerbe und hat zwei Kinder. Sie zahlt 115 Euro Miete inklusive Steuern pro Tag, arbeitet ohne Zuhälter und meist nur tagsüber. Ist es Zufall, dass nur eine relativ unabhängige Sexarbeiterin mit mir spricht?

Roshan Heiler, die Leiterin von Solidarity with women in Distress (SOLWODI) sagt: „Rund 90% der in der Antoniusstraße tätigen Frauen haben einen Migrationshintergrund.“ Das Rätsel um die Sprachenvielfalt, die Verständigungsprobleme im Gässchen löst sich auf. Was macht SOLWODI in Aachen? Sie beraten und unterstützen Frauen, die in der Prostitution tätig sind, und solche, die zur Prostitution gezwungen werden. Das große Ziel: Die Abschaffung der letzten Bastion der Sklaverei. Für die tägliche Arbeit in der Beratungsstelle bedeutet dies, Opfer von Menschenhandel identifizieren. Hierin liege die große Schwierigkeit, betont die Leiterin; der Übergang von Prostitution zu Menschenhandel verlaufe fließend. Die Zielgruppe sei letztlich sehr heterogen und reiche von der minderjährigen Zwangsprostituierten bis zur unabhängigen Sexarbeiterin ohne Zuhälter. Dazwischen die Mehrheit: Frauen, die aus persönlicher Not den Weg ins Sexgewerbe wählen und sich schließlich in einer prekären Arbeitssituation wiederfinden.

Die Aufwertung der Prostitution

War die aachener „Hurengaß“, schon immer eine Heimat von Dirnen? Die Suche nach dem Anfang führt weit in die Vergangenheit. Häufig wechselnde Namen verwischen die Spuren der Prostitution. Im späten Mittelalter noch „Mestgasse“ genannt, heißt die Straße um 1777 „Hurengaß“, dann „mittlere Mistgasse“ und schließlich ab den 1870er Jahren „Antoniusstraße“. Dietmar Kottmann vom Aachner Geschichtsverein e.V. erklärt: „Je nach Konzentration des Badewesens war ein Straßenstrich in der Nähe.“ Es kann also sein, dass die Straße im Laufe der Geschichte immer wieder das älteste Gewerbe der Welt beherbergte. Gleichzeitig, so Kottmann, spricht die aufwendige Wohnbebauung der heutigen Mefferdatisstraße für eine zeitweilige Verdrängung. Der pensionierte Jurist resümiert: „Wann die Antoniusstraße sich wieder zu einer Bordellstraße entwickelt hat, weiß ich nicht. Ich vermute erst nach dem Zweiten Weltkrieg.“

Seit 2016 läuft das Bebauungsplanverfahren für die Altstadtaufwertung[1] zwischen Büchel und Großkölnstraße, ein Prozess der sich aufgrund von Konflikten, Verhandlungen und Kompromissen zwischen Politikern, Investoren und Planern hinzieht. Wenn es zur Umsetzung der Pläne kommen sollte und die Häuser entlang der Straße abgerissen werden, müssen die Damen packen. Der Weg ist nicht weit, die neue Heimat liegt am östlichen Ende der Antoniusstraße. Der Umzug, der erste Schritt zur neueren, schöneren und saubereren Altstadt.

Ob Laufhaus[2], Bordell oder Lusthaus; die Umstrukturierung des Quartiers sieht vor, dass die Prostitution in der Altstadt verbleibt. Die FDP ist dagegen: „Wer will schon neben einem Puff wohnen?“, fragt Ratsherr Peter Blum. Die FDP wünsche sich für diese Eins-A-Lage ein Viertel mit Kunstgewerbe, kleinen Lädchen und familiärer Einwohnerstruktur – das gehe nur ohne Prostitution. „Sozialer Wohnungsbau statt Bordell“, wirbt der FDP-Mann. Die Auslagerung des Gewerbes und neue Eigentumsverhältnisse würden Kontrollmöglichkeiten für Polizei und Ordnungsamt verbessern, „alles zum Vorteil der Stadt und der Frauen.“ Alle anderen Fraktionen argumentieren andersherum: Soziale Kontrolle und Sicherheit sei nur im Zentrum gewährleistet. „Randlage heißt Verdrängung und Gefahr für die Frauen“, so die CDU-Fraktions-Frau Uschi Brammertz. Überzeugt sagt sie, „das Laufhaus wird kommen, in der Innenstadt!“

1:30Uhr, Mittwochnacht. Ich komme aus der Kneipe und wage den nächtlichen Gang durch die Gasse. Meine Verstärkung musste erst überzeugt werden, bis zum Ende hin sträubt er sich. Während wir die Fenster entlanglaufen, stellt er fest: „Die Frauen verkaufen ihren Körper wie Ware, ein Schaufenster, indem menschliches Fleisch ausgestellt ist.“ Ich erinnere mich gehört zu haben, dass Aachen eine der ersten Anlaufstellen für „frisch importierte Ware“ ist. Die Frauen werden kurz „eingearbeitet“ und dann in andere Teile Deutschlands verfrachtet. Eine verstörende Vorstellung.

Draußen warten einige potentielle Kunden, dick eingepackt in Winterjacke, Schal und Mütze. Drinnen Damen, meist nur in Spitze. Die Atmosphäre am Tag und bei Nacht scheint beinah gleich, nur die Lichtverhältnisse haben sich verändert. Statt Tageslicht dominiert der berühmte Rot-Ton und mischt sich mit kaltem blauen Neonlicht.

Das neue Gesetz soll es richten

Ein mittelgroßer Mann steht bei Minusgraden vor einem Fenster. Im Schutz der Nacht, der Straße abgewandt, bleibt sein Gesicht verborgen. Eine braungebrannte Frau lehnt sich locker nach draußen, redet, greift nach seiner Schulter. Der Freier wird am Weggehen gehindert. Mit einem flüchtigen Kuss lässt sich der Mann prompt überzeugen. Läuft so also der Verhandlungsprozess ab? Auf die Nachfrage wirkt Antonia verwirrt. Nach einigem Zögern erklärt sie: „Verhandelt wird draußen. Erst wenn Leistung und Preis festgelegt sind, darf der Freier reinkommen.“ Genaue Auskunft über ihre Preise und Anzahl der Freier will sie mir nicht geben.

2002, die gesetzliche Abschaffung der Prostitution als Sittenwidrigkeit. 2016, die weitere Regulierung des Gewerbes. Das neue Prostitutionsschutzgesetz soll die Mängel des alten Gesetzes richten: Prostituierte besser schützen, Bordellbetreiber stärker kontrollieren.[3] Kritiker bemängeln, dass das Gesetz ein Rückschritt sei. Die Frauen, insbesondere die aus Drittstaaten, können sich aus Angst vor Stigmatisierung und aufenthaltsrechtlichen Fragen der Registrierung entziehen und weiter in die Illegalität abgedrängt werden. Ein weiteres Problem für die Frauen in der Antoniusstraße: das Verbot, im gleichen Zimmer zu wohnen und zu arbeiten.

Für Antonia liegt die Sache anders. Im Gegensatz zu den meisten Anderen wohnt sie nicht in der Straße. Sie kommt morgens und kann abends wieder gehen. Ein Privileg unter den Prostituierten. Von dem Gesetz weiß sie nichts. Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern und denkt nach, bevor sie stolz antwortet: „Es ist mir egal, ich schäme mich nicht für den Job. Ich würde mich registrieren und zum Gesundheitscheck gehen.“ Und dennoch: Ihre Familie weiß nichts von der Tätigkeit. Legalisierung hin oder her, den eigenen Körper verkaufen bleibt ein gesellschaftlicher Sittenverstoß.

Auch heute werden die Frauen arbeiten, so wie jede Nacht. Ob Bebauungsplan, neues Gesetz oder Regionalpolitik, das Geschehen der Stadt findet weit weg vom Gässchen statt. Jetzt, am späten Morgen, sind die Türen zu den „Arbeitszimmern“ verschlossen. Die Frauen erholen sich vor ihrer nächsten Schicht.


*Name verändert

[1]Altstadtaufwertung in drei Teilen. Neben dem Nordwestblock (3) und dem Südostblock (2), liegt die Antoniusstraße im Südwestblock (1). Bevor der Parkbetonklotz am Büchel angegangen wird, soll das Lusthaus gebaut und in Betrieb genommen werden. Der große Plan: Häuser abreißen, Straßenverläufe ändern und neue Plätze schaffen, um Einzelhandel, Büros, Praxen und eine Kita anzusiedeln.

[2]Die überdachte Antoniusstraße, Prostitution auf mehreren Etagen oder die neue Sex-Shoppingmall. In einem Laufhaus können Sexarbeiter/innen Zimmer anmieten und diese als Arbeitsplatz nutzen. Wie in der Straße verweilen die Damen oder Herren vor den Türen bzw. im Sichtbereich der Kunden. Die Interessenten können von Zimmer zu Zimmer ziehen, anders gesagt, Schaufenstershopping betreiben.

[3]Das neue Gesetz soll den Schutz der Prostituierten erhöhen und negative Folgen der Liberalisierung korrigieren. Lücken werden im Idealfall durch Auflagen und Regelungen geschlossen. Seit 2002 zählt Prostitution nicht mehr zu den Sittenwidrigkeiten, Sexarbeiter/innen können ihr Gewerbe seitdem als sozialversicherungspflichtige Tätigkeit anmelden. Durch die Liberalisierung wurde Deutschland ein interessantes Reiseziel für Sextouristen, Nachbarstaaten sind da zum Teil restriktiver. In Frankreich hat man sich beispielsweise an Schweden orientiert und den Kauf von Sexdienstleistungen unter Strafe gestellt. Und in Deutschland. Alle Personen, die in der Sexbranche tätig sind, müssen sich registrieren. Die Frauen müssen regelmäßige Gesundheitschecks machen, im Beratungsgespräch werden die Personalien aufgenommen und ggf. der Aufenthaltsstatus geprüft. Betreiber von Bordellen, Laufhäuser, Love-mobil-Parks, Hostessen-Wohnungen u. ä. müssen in Zukunft eine Erlaubnis einholen sowie ein Betriebs- und Sicherheitskonzept vorlegen. Die Betreiber werden außerdem einer Zuverlässigkeitsprüfung unterzogen. Veränderungen im Baurecht, der Dokumentations- und Auskunftspflicht, Kondompflicht, Werbeverbot, Verbot sexueller Praktiken und Datenerfassung sollen umgesetzt werden.

 

 

Benedetto, der beflissene Bleistift

29. Januar 2018 | von

Zur Weihnachtszeit begab sich Benedetto, der beflissene Bleistift auf eine unvorhergesehene Reise in unserem Adventskalender auf Facebook.

Eine Zusammenfassung seines Abenteuers haben wir euch hier noch einmal zusammengestellt.

Erfahrt, was Benedetto alles erlebt, wen er trifft und was ihm seine Zukunft bringt.

 


Endlich präzise über die Weltmeere

11. September 2017 | von

Erneut hat es ein Text von unserem „Oberseminaler“ Jonas van Bebber in die AZ/AN geschafft. Wir freuen uns!


Wer war eigentlich John Harrison? Die spannende Geschichte eines Uhrmachers, der die Seefahrt revolutionierte, indem er das Längengradproblem löste. Der frustrierende Wettkampf gegen einen mächtigen Feind und das Ringen um ein Preisgeld.

Er wird am 24. März 1693 geboren, ist Tischler, Erfinder und autodidaktischer Uhrmacher: John Harrison. Mitte des 18. Jahrhunderts löst er das Längengradproblem: Als Erster macht der Engländer das Objekt Uhr seetauglich. Das für die Navigation noch ungewöhnliche Hilfsmittel ermöglicht die zuverlässige Bestimmung der geografischen Länge, was zuvor selbst für erfahrene Seeleute ein Problem war. Sein ganzes Leben entwickelt Harrison die Uhr weiter und tritt in einem frustrierenden Wettkampf gegen einen mächtigen Feind und wissenschaftliche Eliten an, die seine Leistung nicht anerkennen wollen.

22. Oktober 1707: Vier britische Kriegsschiffe kehren nach einer Seeschlacht zurück nach England. Die Schlacht ist gewonnen, die Freude auf die Heimat groß. Aber die Orientierung ist verloren, die wahren Positionen der Schiffe sind anders als berechnet. Vor den Scilly-Inseln an der Südwestspitze Englands laufen die Schiffe auf Grund. Auf einen Schlag sterben fast 2000 Seeleute. Die Regierungen der Seefahrernationen sind wachgerüttelt. Es muss eine Lösung für das Navigationsproblem her, wenn nötig mit Hilfe von Wettbewerben und ausgeschriebenen Preisgeldern.

Geübte Seemänner sind zur Zeit von Christoph Kolumbus (1451-1506) fähig, den aktuellen Breitengrad ausreichend genau zu bestimmen. Sie nutzen den Sonnenstand oder bestimmen die Höhen von bekannten Sternen über dem Horizont. Aber die Positionsbestimmung ist komplex: Komplizierte Beobachtungsinstrumente und präzise Messungen sind dabei nötig. Längengrade lassen sich anschließend nur mit aufwendigen Berechnungen bestimmen.

In der Folgezeit werden Breiten abgesegelt; oft ungewiss, ob man weiter nach Osten oder Westen manövrieren soll. Schiffe verunglücken oder verlieren sich in den Weiten der Ozeane. Viele Menschen verhungern, verdursten und ertrinken. Der wirtschaftliche Schaden ist groß. Das britische Parlament schreibt 1714 einen legendären Preis aus: Im Longitude Act werden 20 000 Pfund für eine „praktikable und nützliche Methode“ versprochen, mit der eine genaue Längengradbestimmung möglich ist. Ein einfacher Arbeiter lebt zu der Zeit von zehn Pfund im Jahr.

Für den Uhrmacher und talentierten Feinmechaniker John Harrison ist klar, dass eine präzise seetaugliche Uhr die Lösung des Längengradproblems sein kann. Mit der mitgeführten Zeit des Heimathafens – etwa der Greenwich-Zeit – und mit der Ortszeit auf See, die die Seeleute nach herkömmlichen Verfahren bestimmen, ist die Position schnell auszumachen. Die Zeitdifferenz lässt sich in einen Drehwinkel der Erde umrechnen, die Länge bezogen auf Greenwich damit feststellen. Ist die auf dem Schiff bestimmte Ortszeit zum Beispiel drei Stunden hinter der Greenwich-Zeit, so befindet sich die Mannschaft 45 Grad westlich vom Nullmeridian. Denn pro Stunde dreht sich die Erde beständig um 15 Grad weiter.

Harrison tüftelt über Jahre an Präzisionszeitmessern. Er ist der Erfinder des Bimetall-Streifens und verwendet in seinen Uhren neuartige Mechanismen und Federn, die den Rhythmus vorgeben. Manche Konstruktionen müssen nicht mehr geölt werden und laufen während des Aufziehens konstant weiter. Sie trotzen Temperaturschwankungen und Erschütterungen auf See. 1759 präsentiert Harrison der Längengradkommission seine vierte und berühmteste Konstruktion – die H4. Mit knapp drei Pfund Gewicht und einem Durchmesser von 13,2 Zentimetern ist sie besonders kompakt.

Viele Gelehrte stehen Harrisons Idee kritisch gegenüber. Nur Himmel und Sterne können und sollen den Weg weisen, so die Meinung der Mehrheit. Als verhasster Feind steht Harrison der Brite Nevil Maskelyne gegenüber, der eine Monddistanz-Methode für die Navigation entwickelt: Auch mit vorausberechneten Abständen zwischen Mond, Sonne und Erde für bestimmte Uhrzeiten lassen sich Positionen bestimmen. Das Verfahren ist jedoch aufwendig und erfordert neben akkuraten Messungen viel Zeit für Berechnungen.

Nur fünf Sekunden verloren

Die erste große Testfahrt führt die H4 1762 über den Atlantik nach Port Royal. Kommissionsvertreter John Robinson stellt die lokale Ortszeit mit seinen Messinstrumenten fest und erkennt, dass die Uhr während der 81-tägigen Atlantiküberquerung nur fünf Sekunden verloren hat. Bei einer zweiten Erprobungsfahrt lässt sich die geografische Länge auf zehn Meilen genau bestimmen; die Präzision ist damit dreimal so hoch, wie vom Longitude Act gefordert. Was für ein Erfolg!

Harrison müsste den Preis direkt erhalten. Aber alles kommt anders. Statt 20 000 Pfund bekommt er 1500 Pfund. Die Kommission würdigt die Leistung kaum und verkennt den Nutzen der neuen Idee. Es folgt ein bitterer Schlag: 1765 ist es Maskelyne, der zum neuen königlichen Astronom gekürt und nun – als Mitglied der Kommission – damit beauftragt ist, Harrisons Uhren zu testen.

Den königlichen Astronom interessiert seine eigene Navigationsmethode aber viel mehr: Ab 1765 veröffentlicht er insgesamt 49 Ausgaben seines schon zu Lebzeiten berühmten astronomischen Jahrbuchs „Nautical Almanac“, in dem die Seeleute berechnete Monddistanzen finden.

In „Längengradgesetzen“ ändert die Kommission die Regeln des Wettbewerbs mehrfach zu Ungunsten Harrisons ab und nutzt seine Gutmütigkeit aus. 1730 beugt er sich der Aufforderung, den Zusammenbau seines ersten Zeitmessers kleinschrittig vorzutragen. Später soll er alle gefertigten Chronometer abgeben und weitere bauen – ohne seine Baupläne, die die Kommission bereits an sich gerissen hat.

Ab und zu erhält Harrison geringe finanzielle Zuwendungen, auf die er mittlerweile angewiesen ist. Er verzweifelt zunehmend. Maskelyne steht plötzlich unangekündigt vor Harrisons Tür mit einem Erlass der Kommission. Zornig muss der Überraschte mit ansehen, wie seine Uhren in Beschlag genommen und rabiat aus dem eigenen Haus abtransportiert werden.

Harrisons Sohn William bittet 1772 den englischen König George III., die neueste Uhr seines gesundheitlich angeschlagenen Vaters – bereits die H5 – zu erproben. Der König stimmt zu und lässt den Zeitmesser an der Sternwarte zehn Wochen lang testen. Das Resultat lässt heute noch staunen: Nur eine Drittelsekunde verliert die H5 pro Tag. König George gibt einen langersehnten Lichtblick: „Harrison, ich werde dafür sorgen, dass Ihr zu Eurem Recht kommt!“ Der König verteidigt die Uhr nun vor den Verfechtern der Monddistanz-Methode. Harrison appelliert an die Minister des Parlaments und trägt seinen Wunsch nach Anerkennung vor. Die Wettbewerbskommission bleibt stur, vom Parlament aber erhält er knapp das restliche Preisgeld. Es ist ein schwacher Trost. Maskelyne reibt sich indessen die Hände – die Bedingungen für den Längengradpreis werden erneut verschärft. Und der offizielle Preis wird nie vergeben.

Mehr und mehr Seefahrer aber lassen sich vom großen Nutzen der Chronometer überzeugen. James Cook führt auf seiner zweiten Reise 1772 eine Kopie von Harrisons H4 mit und berichtet begeistert: „Die Uhr war unser treuer Führer durch alle Widrigkeiten des Klimas.“ Harrisons Idee gibt den Takt weiter vor und erobert die Welt mit der Seefahrt. Der Autodidakt begründet mit seinen Präzisionszeitmessern das Feinmechanikhandwerk in England, das bei der industriellen Revolution eine Schlüsselrolle spielt. Es ist ein Grundstein für die heutige wirtschaftliche Macht Europas in der Welt.

INFOS
  • Geboren wurde John Harrison am 24. März 1693 und dann getauft am 31. März in Foulby im britischen Yorkshire. Der gelernte Tischler war ein Autodidakt und talentierter Feinmechaniker. Schon zu Lebzeiten galt er unter Uhrmachern als Genie. Seine Erfindungen sind auch heute wichtige Bestandteile moderner Chronometer – zum Beispiel die Bimetall-Streifen oder der „Grasshopper“-Taktgeber-Mechanismus. Harrison heiratete zwei Mal und war Vater dreier Kinder. Am 24. März 1776 starb er in London.
  • Mit dem Äquator bietet die Natur eine besondere Referenz für die geografische Breite an: Auf dieser Linie sind die Abstände zur Drehachse der Erde maximal. Für die Längengrade gibt es keine solche ausgezeichnete Linie. Erst 1884 einigen sich 26 Nationen auf der Meridiankonferenz in Washington, D.C., darauf, dass die Referenzlinie für die Längengrade – der Nullmeridian – durch das englische Greenwich verlaufen soll. Es ist vor allem ein Vermächtnis Nevil Maskelynes, der für seine Monddistanz-Berechnungen immer Greenwich als Referenz wählt, den Ort der königlichen Sternwarte.

 

 

Das Buch ist tot – Es lebe das Buch!

20. April 2017 | von

„Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden.“ (Ludwig Feuerbach)

Die Türglocke klingelt. Ein kleiner Raum, der durch seine deckenhohen Regale verwinkelt erscheint: Geheimnisvolle Atmosphäre. Wenig Platz für aufwendige Dekorationen und Nippes, dafür eine schier endlose Aneinanderreihung von Buchrücken. Zu viele, um sie auf einen Blick zu erfassen. Wer hier etwas auf die Schnelle sucht, muss einen der fachkundigen Buchhändler fragen. Alle anderen lädt die kleine aber feine Buchhandlung in Aachen zum Stöbern ein.

Fast die Hälfte des Buchumsatzes bestreitet der Sortimentsbuchhandel mit 48,2 Prozent. Dahinter positioniert sich mit 20,9 Prozent der Verkauf durch die Verlage. Internetbuchhandel nimmt in Deutschland 2015 lediglich 17,4 Prozent ein. Der durchschnittliche Ladenpreis eines gedruckten Buches liegt bei 14,95 Euro. Trotz gestiegener Medienkonkurrenz ist in den letzten zehn Jahren die Kaufkraft an gedruckten Büchern nahezu stabil geblieben. Eine Umfrage hat ergeben, dass der beliebteste Leseort das Sofa oder der Sessel ist.

Ein Durchgangszimmer. Beide Seiten mit Regalen verziert, die bis unter die Decke reichen. Auf ihnen stehen Buchrücken an Buchrücken aneinandergereiht. Der Anblick überwältigt, die Farbe an den Wänden ist nicht mehr zu erkennen. Zwei tiefe Sessel laden zum gemütlichen Verweilen ein. Gleich daneben bietet das Büro einen ähnlichen Anblick. Mit einer Ausnahme: Hier findet noch ein Schreibtisch Platz. Der Autor Christoph Leisten (56) schreibt seit 1996. Bisher hat er zwei Prosawerke und vier Gedichtbände beim Rimbaud-Verlag in Aachen veröffentlicht.

Die prächtige Glasfassade einer großen Buchhandelskette in Aachen bietet ein beeindruckendes Bild. Im Inneren fühlt man sich wie in einem Bienenstock. Überall herrscht reges Treiben, trotzdem findet man die nötige Ruhe, um entspannt die Regale entlangstreifen zu können. „Dass sich unsere Kunden wohlfühlen, ist uns sehr wichtig“, erläutert Benjamin Schell, Pressesprecher. Die zahlreichen Leseecken, das hauseigene Café oder die Arbeitsplätze auf der obersten Etage, überall kann man für eine Weile dem Alltagstrott entfliehen. Trotz der riesigen Auswahl sei das gedruckte Buch für die Buchhandlung immer noch das wichtigste Kulturgut, erklärt Schell. „Gedruckte Bücher erfinden sich immer wieder neu, weil sie mit der Zeit gehen.“

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtet: „Bücher sind unverzichtbar für die Entwicklung unserer Gesellschaft und deren Ideale.“

Geschätzter Umsatz des deutschen Buchhandels stagniert in den letzten 15 Jahren zwischen 9,4 und 9,2 Mrd. Euro. Sind Verkaufsplattformen im Internet eine große Konkurrenz? Die große Buch-handlung in Aachen grenzt sich davon ab. „Wir sind persönlicher als das Internet“, erklärt Schell. Zwar bekomme man dort Buchvorschläge, aber diese seien nach bestimmten Logarithmen geschaltet und können keine kompetente Beratung durch einen fachkundigen Buchhändler ersetzen. Lyriker und Buchautor Christoph Leisten beurteilt die Lage so: „Große Ketten ziehen viel Laufkundschaft an, daher ist das Internet eher für sie eine Konkurrenz, wenn auch eine geringe.“ Kleine Buchläden aber seien durch dieses Angebot nicht bedroht, da sie einen soliden Kundenstamm haben. Woher er das so genau weiß? Als Student hat er in der Würselener Buchhandlung von Martin Schulz gejobbt.

Der Umschlag sieht aus wie ein Päckchen von DHL. Realistisch gestaltet, mit Absenderadresse und Barcode. Unten der Hinweis, es vor Regen zu schützen. Die Haptik: Für den Buchkäufer ein entscheidendes Kriterium. Wenn das Cover die Aufmerksamkeit erregt hat, ent-scheidet sich nach dem Lesen des Klappentextes, ob man das Buch kauft. Zuhause angekommen, reißt man „Das Paket“ von Sebastian Fitzek ungeduldig auf. Mit dem Geruch frischer Druckerschwärze in der Nase schlägt man das erste Kapitel einer neuen Welt auf.

Bis auf die Schiebetüren und den typischen Bankteppich zeugt in der Stadtbibliothek Köln Ehrenfeld nichts mehr davon, dass dieses Gebäude eine ehemalige Sparkassen-Filiale ist. Der Eingangsbe-reich ist großzügig angelegt. Mittig positioniert stehen DVDs. Auf der rechten Seite ist ein breites Angebot an Sachliteratur und Romanen zu finden. Links die gemütliche Kinderecke. In der Nische an der Wand sitzt ein Vater mit seiner vierjährigen Tochter zusammen mit dem Buch Ein Geburtstagsfest für Lieselotte. Aufgeregt trippelt ein zweijähriger Junge Richtung Bücherkiste. Für die ganz Kleinen gibt es extra dicke Pappbilderbücher.

„Gedruckte Bücher sind für mich Lebensbegleiter, sie sind von einer eigenen Aura umgeben, die ihre elektronische Version niemals haben kann“, erklärt Christoph Leisten.

Klein, handlich, kompakt: Der E-Book-Reader. Ob der Kindle von Amazon, die E-Ausleihe der Bibliotheken oder die i-Book-App von Apple: Sie alle machen es möglich, Bücher digital zu lesen. Mittlerweile kann man fast überall E-Book-Reader kaufen. „Im Vergleich zum gedruckten Buch, ist der E-Book-Verkauf relativ gering“, klärt Benjamin Schell auf.

Bücher digital zu lesen, hat Vorteile: Der Koffer für den Urlaub ist nicht mehr zu Dreiviertel mit Büchern vollgestopft, weil man sie bequem auf den Reader laden kann. Und abends im Bett braucht man kein zusätzliches Licht zum Lesen. Für Christoph Leisten sind E-Books rein pragmatisch. „Wenn ich reise, lade ich gerne Nachschlagewerke auf meinen Reader, damit ich sie nicht schleppen muss.“ Und Christoph Leisten reist oft. In Marokko war er bereits über vierzig Mal. Über seine Erfahrungen in diesem Land schreibt er in Marrakesch, Djemaa el Fna und Argana. Notizen aus Marokko.

„Eine gute Bibliothek ist immer eine Begegnungsstätte. Ich sage immer: Man kommt wegen der Medien und bleibt wegen der Menschen!“ Cordula Nötzelmann, Leiterin der Kölner Zweigstellen, beantwortet damit die Frage, warum die Bibliotheken so großen Zulauf haben. 2016 besuchten in Deutschland 119. Mio. Menschen öffentliche Bibliotheken und liehen dort 450. Mio. Medien aus.

Während die öffentlichen Bibliotheken mit einem vielfältigen Angebot an gedruckten Büchern und digitalen Medien punkten, hat sich die Deutsche Nationalbibliothek längst von ihren Büchern verabschiedet. Statt gedruckten Büchern stehen den Nutzern nur noch E-Books zur Verfügung. Argumente für die Umstrukturierung: Gedruckte Bücher wiesen irgendwann Gebrauchsspuren auf und Reparaturen seien kostspielig. Lieber verbannt man die wertvollen Artefakte in den Keller, wo ihnen keiner mehr Leid zufügen kann.

Bücher haben Charakter, gerade weil sie gelesen werden. Eine Stammkundin aus Köln Ehrenfeld erzählt: „Ich leihe hauptsächlich Koch- und Backbücher aus, weil ich gerne neue Dinge ausprobiere.“ Auf die Frage, warum sie diese nicht in der Buchhandlung kauft, gesteht sie mit einem verlegenen Grinsen, da stünden keine Anmerkungen drin. Für die Bibliotheken, egal ob öffentlich oder wissenschaftlich, ein altbekanntes Problem: Die Notizen am Rand.

Unscheinbare Kästen erobern das Land. Zwei Seiten aus Glas, der Rest umgeben von einer edlen, dunklen Holzvertäfelung, Viele Passanten laufen in Aachen um den mysteriösen Kasten Ecke Passstraße/Grüner Weg herum, aber dennoch an ihm vorbei. Die Meisten sind zu sehr mit ihren Smartphones beschäftigt. Von der Passstraße aus nähert sich eine etwa Siebzigjährige Dame mit ihrem Enkel. Der fünfjährige Junge hat seine dicke Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Als sie vor der Glasvitrine stehen bleiben, bilden sich vor ihren Gesichtern weiße Atemwolken. Was verbirgt der Kasten? Richtig, Bücher! Die Beiden stehen vor einem öffentlichen Bücherschrank. Darin findet sich eine breite Auswahl: Hemingway neben Rosamunde Pilcher, Emilia Galotti neben Harry Potter.

Das Projekt der öffentlichen Bücherschränke wird in Aachen seit Winter 2012 von der IG Aachener Portal e.V. gefördert. Damit wird Menschen kostenlos Literatur zur Verfügung gestellt. Vor allem sozial Benachteiligte haben so die Möglichkeit an Lesestoff zu gelangen. Das Projekt lebt ausschließlich durch die Partizipation der Nutzer. Wer ein Buch mitnimmt, kann es entweder zurückbringen oder ein anderes, lesenswertes Buch hineinstellen.

„Einige Bücher verlieren mit der Zeit ihre Bedeutung, einige bleiben bedeutend und andere gewinnen ihre Bedeutung erst nach Jahren“, so Leisten. Bücher seien Auslöser für Erinnerungen und Emotionen, erklärt er und sagt, dass er kein Buch weggeben kann. Für ihn sind seine Bücher ein Stück seiner Seele.

Personennahverkehr in Hamburg. Menschen aller Altersklassen tummeln sich in den VHH-Bussen. Einige von ihnen müssen zur Schule, andere haben Termine beim Arzt oder müssen zur Arbeit. In vielen Städten schauen Fahrgäste gelangweilt aus den Fenstern und sind dem gewöhnungsbedürftigen Musikgeschmack ihrer Nachbarn ausgeliefert. Nicht so in den Hamburger Bussen. Gleich hinter der Fahrerkabine ist ein rotes Regal montiert. Darauf stehen Bücher, die während der Fahrt von den Fahrgästen gelesen werden dürfen. Und auch darüber hinaus dürfen die Bücher genutzt werden: Ähnlich wie bei den Bücherschränken, funktioniert das System der sogenannten „Buchhaltestellen“. Das Gebrauchtwarenkaufhaus STILBRUCH hat die Bücherbusse ins Leben gerufen. Seit 2010 existiert die Kooperation mit der VHH, die mittlerweile über 100 Buchhaltestellen installiert hat.

„Wenn du nicht all deine Bücher lesen kannst, dann nehme sie wenigstens zur Hand, streichle ein wenig über sie, schau’ etwas hinein, lasse sie irgendwo auffallen und lese die ersten Sätze, auf die dein Auge fällt, stelle sie selbst aufs Bord zurück, ordne sie nach deinen Vorstellungen so, daß du wenigstens weißt, wo sie sind. Lass’ sie deine Freunde ein; lasse sie auf alle Fälle deine Bekannten sein.“ (Winston Churchill)

Aachen. Hier findet jährlich im September die COMICADE-Messe statt. Das Besondere: Mehr als fünfzig hochkarätige Comic-Zeichner lassen sich vor Ort bei der Arbeit über die Schulter schauen. Und Kreative dürfen in Zeichenkursen ihr Können unter Beweis stellen. Auf Buchmessen kann man in die faszinierende Welt der Literatur eintauchen. Das Angebot ist nicht nur auf Bücher beschränkt. Im Programm: Lesungen, Vorträge und Preisverleihungen. Messen sind nicht nur für Verleger, Agenten und Buchhändler interessant, sondern auch für Leser.

Zuversicht in die Leser hat die Vertrauensbibliothek auf der Insel Langeoog seit vielen Jahren. Einheimische und Touristen können sich hier sprichwörtlich bedienen. So kann man seinen Urlaub entspannt mit unvorhergesehener Leselektüre erweitern. Es wird darauf vertraut, dass die Bücher ihren Weg zurück finden. Dank um-fangreicher Schenkungen umfasst der Be-stand rund 3000 Bücher.

„Ich mag es, wenn man Büchern ansieht, dass sie gelesen worden sind. Das macht ihren persönlichen Charme aus“, erzählt Benjamin Schell.

Freitag 13.00 Uhr. Das Kloster in Sankt Augustin öffnet seine Tore. Ein riesiger Raum mit einer gewölbten Decke erstreckt sich. Es riecht nach Staub und Papier. Die Gänge sind schmal, teilweise verwinkelt. Auf jeder Seite Regale, vollgestopft mit Büchern. Auf dem Bücherflohmarkt der Steyler Missionare kann man jeden Freitag von 13. bis 16. Uhr Bücher zum Kilopreis ergattern. Hauptsächlich Theologie und Kirchengeschichte, aber auch an Romanen und Sachbüchern mangelt es nicht. In der Kinderecke jubelt ein zehnjähriger Junge und läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die nicht weit entfernt bei den Kochbüchern steht: In seinen Händen Der Räuber Hotzenplotz. Die Einnahmen spendet das Kloster an gemeinnützige Organisationen weltweit. So versucht das Kloster die Welt durch Bücher ein Stückchen besser machen. Ein Besuch lohnt sich allemal.

Bücher zu lesen, erweitert den Horizont. Nicht umsonst heißt es: „Lesen bildet!“ Bücher entführen den Leser in andere Welten. Sie sind Lebensbegleiter, ob nun beim Aufschlagen oder Zuklappen eines Kapitels. Ihre Art und Weise Geschichten zu erzählen und damit den Leser zu faszinieren, wird niemals aussterben. Es lebe das Buch!

5 spannende Fragen über Bücher:

Wie viele Seiten muss ein Buch haben, um ein Buch zu sein? 49 Seiten, das hat die UNESCO beschlossen!

Was ist das teuerste Buch und wem gehört es? Der Codex Leichester von Leonardo da Vinci. Bill Gates hat es 1994 gekauft. Heute liegt der geschätzte Wert des Buches bei 49 Mio. US-Dollar.

Was ist das meistverkaufte Buch aller Zeiten? Die Bibel mit bis zu 6 Mrd. Ausgaben.

Welches Buch wird am häufigsten gestohlen? Das Guinness Buch der Rekorde.

Was war das erste Buch, das auf einer Schreibmaschine geschrieben wurde? „Tom Sawyers Abenteuer“ von Mark Twain entstand 1874 als erstes Buch auf der Schreibmaschine.

Werke von Christoph Leisten:

▶ Argana. Notizen aus Marokko (Prosawerk) 2016
▶ bis zur schwerelosigkeit. (Gedichte) 2010
▶ der mond vergebens. (Gedichte aus zehn Jahren) 2006
▶ Marrakesch, Djemaa el Fna (Prosawerk) 2005
▶ In diesem licht. (Gedichte) 2003
▶ Entfernte Nähe. (Gedichte) 2001

 

Einen Moment, bitte

27. März 2017 | von

Momente auf Knopfdruck? Die Kurzgeschichten von Lukas Cremer, lanjähriger Teilnehmer unseres Oberseminars Texte in Arbeit, entwickeln sich langsam aber sicher zu einem ganz eigenem Genre. Hier eine seiner vielen Kürzestgeschichten aus dem letzten Wintersemester.


Stella lehnt sich vor und legt ihre Hand liebkosend in Timons Nacken. Ein Blick in seine moosgrünen Augen verrät ihr alles, was sie wissen will. Bis jetzt war es nur tollkühne Fantasie, nicht wahrhaftig, aber auch nicht zu leugnen. All das ändert sich im unendlichen Zeitpunkt, in dem sich ihre Lippen treffen.

Momentmacher Mark lehnte sich entspannt zurück und räkelte sich in seinem Stuhl. Sein 100. Angebot wurde schon vor der Mittagspause angenommen. Und dann auch noch ein erster Kuss. Die waren ihm eindeutig am liebsten. Stella und Timon hatte er aber auch schon wirklich mehr als genug Momente verschafft. Doch die Freude darüber, dass sie diesen einen Moment nicht hatten verstreichen lassen, machte alle Mühen mehr als wett. „Du hast doch wieder zwei zusammengebracht, so selbstgefällig, wie du da rumlümmelst!“, wurde Mark von seinem Kollegen Lars aufgezogen.
„Ich hab’ hier niemanden zusammengebracht!“, schoss Mark mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück. „Ich mache hier ausschließlich Gelegenheiten bewusst … Okay, du hast Recht“, räumte er ein, „die zwei waren längst überfällig. Worauf hast du heute so Lust?“
„Pass mal gut auf. Guck dir an, was für ’ne Serie der Meister jetzt hinlegt! Deine ersten Küsse toppe ich doch locker!“

Pascal hängt, die Ski bereits angeschnallt, an der eiskalten Kufe eines Helikopters.
„Jetzt oder nie!“, schießt es ihm durch den Kopf. Zweimal schon hat er sich nicht weiter getraut, aber heute ist ganz allein sein Tag. Mit einem langgezogenen Urschrei lässt er sich die Meter bis zum Tiefschnee fallen.

Pierre steht vor dem Regal im Supermarkt. An dieser Stelle hat er bereits x-mal den Weißtoast in den Einkaufswagen geladen. Als er jetzt so dasteht, weiß er gar nicht mehr genau, warum eigentlich. Irgendwie ist ihm heute nach irgendwas anderem zumute. Der Wagen leistet mehr Widerstand als sonst, als Pierre ihn wieder anschiebt. Doch die Entscheidung ist gefallen. Ohne zu wissen, was er morgen frühstücken wird, trottet er leise pfeifend davon.

Tanja wirft den schrillenden Wecker an die Wand. Sie wird heute ausschlafen. Und morgen auch. Und überhaupt. Der Job hat ihre Freunde, ihre Gesundheit, ihr Leben gefressen. Das einzige, was sie heute außer Ausschlafen tun wird, ist kündigen.

Lars lachte laut auf. „Das macht mir auch immer wieder Spaß!“, grölte er. „Davon biete ich heute auf jeden Fall noch mehr an! Aber jetzt kommt erstmal noch ein ganz besonderer. Ich bin gespannt, was passiert.“

Lukas nimmt den Stift in die Hand und starrt gedankenverloren auf das weiße Blatt Papier. Er kann alles schreiben. Alles.

Geschäftsidee mit Brieftauben

15. September 2016 | von

van Bebber

 

Von einem Taubenschlag in Aachen, zu einer der wichtigsten Nachrichtenagentur der Welt: Im Rahmen unseres Kurses Journalistisches Schreiben ging Jonas van Bebber den Spuren der Nachrichtenagentur Reuters nach und entdeckete eine erstaunliche Geschichte. Herzlichen Glückwunsch zur Veröffentlichung in der AZ / AN!
Am 21. Juli 1816, also vor 200 Jahren, wird Paul Julius Reuter geboren. der Unternehmer legt in der Aachener Pontstraße den Grundstein für die Nachrichtenagentur Reuters.

 

Zwischen Speisekarte und Heizstrahler zieren ein paar bunte Kacheln die Wand neben dem Eingang des Restaurants „Reuters House“ in der Aachener Pontstraße. Zu erkennen ist ein Vogel, dessen Federn mosaikartig in grün, orange und schwarz nebeneinander schimmern. Es könnte das Symbol einer 68er-Friedenstaube sein. Oder ein Hinweis auf exotische gegrillte Kostbarkeiten. Zu essen bekommt man in der Aachener Pontstraße ja alles. Paul Julius Reuter – liest man in der Inschrift auf den Kacheln – ließ durch Brieftauben auf das Dach dieses Hauses Nachrichten aus Brüssel tragen. Die Gedenktafel am Haus 117 ist also ein Denkmal für den deutschen Unternehmer. Vor 175 Jahren lässt dieser hier ein erfolgreiches Geschäft mit Nachrichten aufblühen.

1850: Sehnlich erwartete Börsenkurse rauschen durch die noch neuen Telegrafenleitungen und bedeuten bare Münze, wenn man die Zahlen schneller kennt als die Konkurrenz. Das Verlangen der Menschen nach allgemeinen Nachrichten wird zunehmend größer. Berlin und Aachen sind bereits mit einer Telegrafenlinie verbunden, ebenso Paris und Brüssel. Aber zwischen Aachen und Brüssel gibt es noch keine elektrische Verbindung. Der 33-jährige Paul Julius Reuter entdeckt die Lücke im Nachrichten-Netz und handelt.

 

Schneller als der Postzug
Schnelligkeit ist gefragt. Wie kann Reuter die Brücke schlagen, bevor ihm jemand zuvorkommt? Brieftauben – so denkt er – sind der Schlüssel zum Erfolg! Die Idee ist pragmatisch, Flugtiere werden als Übermittler bislang noch nicht oft eingesetzt. Ein halbes Jahr lang lässt er täglich mehrere Brieftauben mit dem Zug nach Brüssel transportieren. Seine Botinnen eilen mit Nachrichtenzetteln – vor allem Börsendaten – zum Taubenschlag in der Pontstraße zurück und sind etwa sieben Stunden schneller als der Postzug. Reuter legt damit in Aachen den Grundstein für eine der heute noch erfolgreichsten Nachrichtenagenturen der Welt. Aktuelle Meldungen zwischen Deutschland, Österreich, Belgien und Frankreich werden hier per Luftpost ausgetauscht.

„Am liebsten würde ich das Reuters House kaufen und dort – so schnell es geht – ein Brieftaubenmuseum eröffnen. Das war schon immer mein Traum“, erzählt der Aachener Unternehmer Michael Mahr, begeisterter Hobby-Taubenzüchter mit 100 eigenen Wettflugtieren und Reuter-Experte. In seinem Büro stapeln sich wertvolle Dokumente zur Geschichte des deutschen Brieftaubensports. Wahrscheinlich ist es die größte Sammlung dieser Art in Deutschland. Zeitgenössische Berichte, alte Zeitungsartikel, Porträts und erhalten gebliebene Briefe zeichnen ein präzises Bild von Reuters Wirken. Am 21. Juli 1816 wird Israel Beer als dritter Sohn der jüdischen Familie Josaphat in Kassel geboren. Während einer Lehre in der Bank seines Onkels in Göttingen lernt er Carl Friedrich Gauß kennen, von dem er sich dessen Forschungen zur Telegrafie zeigen lässt. Im Alter von 30 Jahren tritt Israel Beer zum christlichen Glauben über und lässt sich taufen. Warum er gerade den Namen Reuter annimmt, ist unklar. Vermutlich aus Gründen der gesellschaftlichen Akzeptanz betont er seine jüdischen Wurzeln nicht, schämt sich aber auch nicht dafür. Zu seiner Familie hat er eine starke Bindung. Er heiratet Ida Magnus, Tochter eines preußischen Bankiers. Gleich zweimal schließen sie den Bund: Nach Reuters Taufe geben sich die zwei erneut das Ja-Wort. Alles soll korrekt sein.

Einige Versuche, in Deutschland oder England Fuß zu fassen und ein eigenes Geschäft zu gründen, zeigen Reuters Ehrgeiz und seine Unnachgiebigkeit. 1848 verschlägt es ihn nach Paris, wo er bei Charles Havas in der „Agence Havas“ arbeitet, der ersten europäischen Nachrichtenagentur. Nach einem Jahr macht er sich dort mit einem Pressebüro selbstständig, das jedoch nur mäßig erfolgreich läuft. Neben dem florierenden Nachrichten-Netz von Havas gibt es zu der Zeit in Berlin das W.T.B., „Wolffs Telegraphisches Bureau“. Der findige Reuter erkennt 1849 das Potenzial der Aachener Region am damaligen Vierländereck, in der sich noch niemand mit einem Nachrichtenbüro niedergelassen hat. Es ist der ideale Standort für den Nachrichtenaustausch zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Mehr noch: Reuters Brieftauben können bald auch Informationen aus Frankreich von Brüssel nach Aachen bringen, denn neben der schon funktionierenden Telegrafenlinie Aachen-Berlin wird 1850 die elektrische Übermittlung zwischen Paris und Brüssel möglich. Die Aachener Bankiers und Unternehmer sind sehr interessiert – die Nachfrage vor allem nach Wechselkursen, Informationen zu Staatsanleihen oder zur Politik aus Paris und Berlin ist hoch.

Entscheidend für den Erfolg des Brieftaubendienstes ist ein Aachener Brauer, Bäcker und Taubenzüchter: Heinrich Geller schließt mit Reuter einen Vertrag, der Reuter 40 Brieftauben zusichert. Geller bietet dem neuen Freund Reuter in seinem Haus in der Pontstraße eine Unterkunft an. Auf dem Dach des Hauses befindet sich der Taubenschlag. Reuters Büro ist gut zu Fuß erreichbar. Der Brieftaubenservice startet am 28. April 1850 und funktioniert hervorragend. Die „Depeschen“ mit den Nachrichten bestehen aus extra dünnem Papier, das die Tauben transportieren. Die hohen Kosten für die Beförderung der Tiere mit dem Zug sind schnell erwirtschaftet. Nach etwa drei Monaten kannReuter alle 200 Tauben von Geller nutzen und ihm monatlich 30 Taler zahlen – eine stattliche Summe.

Taubenzüchter Mahr zieht aus einem Stapel gesammelter Kopien und Briefbögen drei Seiten heraus, die der „Zeitschrift für Brieftaubenkunde“ aus dem Jahr 1939 entstammen. Es ist ein Bericht des Journalisten F. A. Bacciocco, der 1850 als Dienstbote arbeitet und die eingeflogenen Nachrichten von Gellers Taubenschlag zu Reuters Büro bringt. Mahr liest aus dem Bericht vor: „Dann kommt der Moment der gespanntesten Erwartung. Herr Geller entlockt seiner Brust die süßesten Locktöne – und klatsch! lag eine unserer Blauen auf dem Brett. ‚Brav‘ – sagte Geller – ‚do es der Zeddel!‘“ Geller übergibt dem Dienstboten dann die Nachricht und fügt hinzu: „Ne schöne Groß an der Herr Reuter.“

 

Sicherheit und Diskretion
Mahr kümmert sich heute um 100 eigene Tauben in seinem Schlag in Seffent im Aachener Stadtbezirk Laurensberg. „Leider ist die Beliebtheit für diesen Sport hier in Deutschland stark zurückgegangen. Etwa 120 000 Brieftaubenzüchter gab es 1968, heute sind es weniger als ein Drittel. Während sich diese Leidenschaft hier, in Belgien, Holland oder Frankreich im Steilflug zurückentwickelt, erleben wir ein Aufblühen des Sportes etwa in China und Japan. Das ist erstaunlich, die Menschen dort kaufen jede Menge Tauben aus Deutschland.“

Zeitgenossen beschreiben Reuter als klein und intelligent. Scharfe Augen und prägnant im Gespräch. Er ist bei seinem Service auf Sicherheit und Diskretion bedacht – grundlegende Werte, für die die Agentur heute noch bekannt ist. Er lässt bei jedem Flug drei Tauben mit identischer Nachricht ausstatten, und die in Aachen ankommenden Tiere werden größtenteils von Geller persönlich vonden Botschaften befreit, der diese nicht zu lesen hat. Für Verstöße sind vertraglich hohe Geldstrafen festgelegt. Die Nachrichten werden gut verpackt – zum Teil in Spardosen – und von Dienstboten auf direktem Weg zum Büro von Reuter gebracht, wo alle Personen, die die Informationen verarbeiten, die Texte zur selben Zeit zu sehen bekommen. Bacciocco schreibt: „Reuter hatte mich erwartet und nahm begierig den blechernen Sparpott in Empfang. Während ich meine Entlohnung entgegennahm, flogen schon die Federn über das Papier.“

 

Zuverlässig und schnell
Am 16. April 1851 ist der Bau einer Telegrafenlinie zwischen Aachen und Brüssel vollendet. Die lange elektrische Verbindung zwischen Paris und Berlin ist damit komplett, so dass keine Zwischenübermittler mehr nötig sind. Dies bedeutet das Aus für Reuter in Aachen, der den Dienst mit den Brieftauben nur etwa ein halbes Jahr lang anbieten kann. Reuters Meldungen stehen aber schon zur Aachener Zeit hoch im Kurs: Als zuverlässig und schnell gelten seine Dienste. Trotz aller Schnelligkeit im Nachrichtengeschäft prägt er mit seiner Agentur schon im 19. Jahrhundert den Leitspruch „First do it right, then do it first“ – Richtigkeit kommt vor Schnelligkeit. „Reuter war ein angesehener Mann, der in Aachen deutliche Spuren hinterlassen hat und die Region stark beeinflusst hat“, sagt Mahr.

Reuters Ehrgeiz und sein ökonomisches Talent führen dazu, dass er schnell neue Erfolge erzielt. Werner
von Siemens legt ihm einen Neustart in London nahe. 1851 eröffnet Reuter dort ein Büro für Wirtschaftsnachrichten, und es entsteht ein ungeahnter Brennpunkt für den internationalen Austausch von Nachrichten, so dass Reuter mit der Havas-Agentur in Paris konkurrieren kann. Dieser Startpunkt in England zählt heute oft als die bedeutendere Gründung der Agentur. Die Aachener Zeit mit den Brieftauben fällt dabei leicht unter den Tisch.

Das „Reuters House“ ist ganz untypisch für die Imbissbuden-Landschaft in der Pontstraße. Gemütlichkeit und italienische Musik in einem schicken Restaurant. Die Weinkarte ziert ein silberner Vogel. Ganz klar: Eine Brieftaube. „Haben Sie etwas gefunden?“, fragt der Kellner. Aber klar! Einen Rotwein aus Spanien und eine Geschichte voller Überraschungen.

Genug genutzt

14. Juni 2016 | von

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Das Internet – etwas, worauf wir uns alle verlassen. Doch was passiert, wenn es plötzlich und mit der nötigen kriminellen Energie abgeschaltet wird?
Eine äußerst kreative Kürzestgeschichte aus der Feder von Lukas Cremer aus unserem Oberseminar. Vielen Dank!

 

Martin legte den Hebel um, öffnete die Abdeckung über dem großen, roten Buzzer und drückte zu. Wenigstens kam es ihm so vor. In der realen Welt betätigte er lediglich die Enter-Taste.
“Das Internet ist aus, Chef!“
Auf dem Hauptschirm war zu sehen, wie Knoten für Knoten starb.

Frankfurt, Amsterdam, London, Moskau.
Der Verkehr über die anderen Knoten stieg an, als sie sinnloserweise versuchten, die weggebrochenen Kapazitäten zu kompensieren.

Zürich, Seoul, Tokio, Stockholm.
Martin konnte förmlich spüren, wie überall auf der Welt Techniker zu rotieren begannen. Die Endnutzer hatten noch nicht die geringste Ahnung, was kommen sollte.

Madrid, Budapest, Warschau, Ashburn.
Asche war schon immer der beste Dünger.

Hongkong, New York, Paris, Prag.
Irgendwo auf der Welt saß jemand vor seinem Computer und ärgerte sich, weil irgendein Dienst nicht lud.

Seattle, Düsseldorf, Wien, Mailand.
Martin rieb sich nervös die Hände. Auf diesen Moment hatten sie jahrelang hingearbeitet.

Bukarest, Oslo, Helsinki, Brüssel.
Stück für Stück eroberten sie die Welt. Etliche Knoten waren schon als unauffindbar gemeldet; die verbliebenen hoffnungslos überlastet.

Berlin, Ljubljana, Athen, Taipeh.
Nun funktionierte kein überregionaler Dienst mehr.

Videos, Landkarten, Nachrichten, Musikstreaming.
Sein Leben lang hatte Martin sich unterlegen gefühlt. Doch in diesen Sekunden war er wie im Rausch. Er war der mächtigste Mensch der Welt. Mehr noch, er war Gott!

Kliniken, Kraftwerke, Raffinerien, Wasserversorgungen verloren als Nächste ihre Netzwerke.
Martin weinte vor Ergriffenheit.

Gaswerke, Verkehrssysteme, Nahrungsmittelproduktion, Geldautomaten.
Das war der Moment, in dem Martin starb. Für seinen Chef war er nur ein Rädchen im Getriebe.

Die Fahrt ans Ende der Welt

31. Mai 2016 | von

ZKS - Story (logo)

„Sie wollten nicht länger nur träumen – sie wollten leben.“ Vom Traum ins echte Leben und aus dem Kurs auf unseren Blog. Wir bedanken uns bei Katharina Schäfer aus dem Oberseminar: Texte in Arbeit für eine weitere schöne Kurzgeschichte!

 

Sie waren jung und verrückt nach Leben. Was sie wollten: die Welt hinter sich lassen und ein neues Leben in ihrem kleinen roten Auto beginnen. Sie brauchten kein Haus, kein Geld und auch keinen Plan; nur die vage Idee von Sand und Meer führte sie. Alle vier liebten das Meer, und alle vier sehnten sich nach dem salzigen Geruch, der erbarmungslosen Hitze und den wilden Pflanzen.

Keiner von ihnen unterschied sich von anderen Menschen in kleinen und großen Städten. Damals träumten sie unerfüllbare Träume, dachten an unvorstellbare Dinge, waren mit kleinsten Taten überfordert und sahen nicht den Überfluss um sich herum. Eventuell würde das wiederkommen, aber nicht zwangsweise. Im Moment waren sie zusammen und jeder von ihnen glaubte daran, dass sie nicht wieder in diesen Strudel gezogen würden. Sie würden sich gegenseitig erinnern, trösten und, wenn es sein musste, auch zwingen.

Langsam fuhren sie über heiße Landstraßen, während sie sich stetig ihrem Ziel näherten. Es war Hochsommer, und die Fahrt über die Autobahn wäre deutlich bequemer und schneller gewesen, aber keiner hatte es eilig. Wichtiger war, die prächtige Landschaft in sich einzusaugen, jeden Olivenbaum, jede Kaktee und jede Palme im Kopf nachzuzeichnen. Sich vorzustellen, wie es wäre, in den kleinen, verlassenen und teilweise abgebrannten Hütten zu leben und nie wieder in die Stadt zurückkehren zu müssen. Leise, ohne große Ankündigung, waren sie aus diesem Traum, den sie mit Tausenden teilten, geflohen. Sie wollten nicht länger nur träumen – sie wollten leben.

An einer Raststätte machten sie halt, aßen etwas, vertraten sich die Beine. „Morgen müssten wir das Meer erreichen“, sagte einer von ihnen und zeigte in die Richtung, in die sie mussten. Freude. Jubel. Einigkeit. Man entschloss sich, die Nacht durchzufahren, um schon am kommenden Mittag im Meer baden zu können. Während der Weiterfahrt lief Musik, es wurde gelacht und von der anstehenden besseren Zeit geschwärmt.

Irgendwo auf der Welt mochte Krieg sein, ihr Heimatland mochte kalt und traurig sein. Vielleicht waren alle Menschen auf der Welt, sie eingeschlossen, ersetzbar. Im Leben war nichts perfekt, doch nicht immer spielte das eine Rolle. Für sie in diesem Moment auf jeden Fall nicht. In dieser Nacht bekamen die Eingeschlafenen auf der Rückbank die wärmste Decke, wurde das letzte Kleingeld zusammengekratzt, um Kaffee für den Fahrer zu kaufen, hörte man zum hundertsten Mal zu, wenn es wieder um das leidige Thema Liebe ging. Man lebte nur in dieser Nacht.

Sie hatten nichts und waren glücklich. Sie waren Liebende, verbunden in ihrer tiefen Freundschaft, Seelenverwandte, ohne die Bedeutung der Seele zu kennen, Brüder und Schwestern, nur weil sie am Leben waren. Während es langsam dämmerte, konnten sie bereits das Rauschen des Meeres hören. Niemand konnte ihnen noch etwas anhaben.