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IT Center Blog

Mein Blindenhund und ich

20. April 2021 | von
Hund

Quelle: Eigene Darstellung

Mein Name ist Tim Böttcher. Ich bin 21 Jahre alt und absolviere im zweiten Lehrjahr eine MATSE-Ausbildung in der Ausbildungsgruppe MATSE am IT Center der RWTH Aachen University. Im Zusammenhang eines Praktikums bei der Ausbildungsgruppe MATSE wurde ich auf die MATSE-Ausbildung aufmerksam, die mein Interesse weckte. Seit Herbst 2019 bin ich nun selber dabei. Ich bin der erste blinde (und erst recht taubblinde) MATSE-Azubi am IT Center, somit ist dies für alle Beteiligten Neuland.

Mit Unterstützung der Arbeitsagentur sowie des Landschaftsverbands Rheinland konnten mir jedoch die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt werden – dazu gehören unter anderem eine große Braillezeile, mit der ich 80 Zeichen in Blindenpunktschrift angezeigt bekomme, ein Blindenschriftdrucker und Schriftdolmetscher für die Vorlesungen und Meetings. Schriftdolmetscher sind Personen, die das Gesprochene mitschreiben, so dass ich es dann über die Braillezeile lesen kann. Ich habe zwei dieser Helfer, die sich abwechseln.

Ursprünglich sollte ich meine Ausbildung zusammen mit einem Blindenführhund antreten – schon im Sommer 2018 bemühten meine Eltern und ich uns daher, eine passende Führhundeschule zu finden. Blindenführhunde müssen bestimmte Eigenschaften mitbringen: Sie müssen vertrauensvoll, gelehrig, personenbezogen, gelassen und intelligent sein, aber nicht zu gerissen, da sie ansonsten Situationen zu ihrem Vorteil ausnutzen. Sie dürfen keine genetischen Defekte und andere Vorerkrankungen haben und sollen ein gesundes Maß an Neugier mitbringen. Erst, wenn diese Basisvoraussetzungen überprüft sind und die Hunde kastriert wurden, darf die Blindenführhundeausbildung beginnen. Der gesamte Prozess – Auswahl, Ausbildung, Einarbeitung mit dem Blinden – kann bis zu zwei Jahre dauern. Erschwerend kam in meinem Fall hinzu, dass sich durch meine hochgradige Schwerhörigkeit noch zusätzliche Anforderungen an den Hund ergaben: Er muss den Verkehr so gut einschätzen können, dass er im Zweifelsfall die Straßenüberquerung verweigert und allgemein ein noch höheres Bewusstsein für Gefahren aufweisen, da ich akustisch nicht oder nur unzureichend gewarnt werden kann.

Die Anzahl an Schulen, die dies leisten können, ist per se schon recht gering. Wir gingen zunächst leider einem Blender auf den Leim: Uns wurde gesagt, dass die ausgewählte Hundeschule dies leisten könne und für solche Anforderungen sogar speziell qualifiziert sei. Ich lernte den Hund kennen – einen schwarzen Labrador – und es schien soweit alles in Ordnung.

Die Einarbeitung sollte im Sommer 2019 vor Beginn der Ausbildung stattfinden, die Prüfung direkt im Anschluss – somit hätte ich zum Ausbildungsbeginn einen Führhund gehabt. Einen Tag vor dem Beginn der Einarbeitung wurden wir angerufen: Der Hund habe Defizite und sei als Führhund nicht geeignet. Dieses Vorgehen war vertraglich in Ordnung: Hunde sind nun einmal keine Maschinen und es gibt keine Garantie, dass ein Hund sich tatsächlich als Führhund eignet. Solche Defizite manifestieren sich aber meist nicht über Nacht, sodass das Vorgehen auf menschlicher Ebene äußerst fragwürdig war.

Also musste ich zunächst eine andere Regelung für den Ausbildungsstart für mich finden. Glücklicherweise stellte mir die Arbeitsagentur einen Fahrdienst. Damit war die Anreise gesichert, blieb die Orientierung im Haus. Und so trainierte ich eine Weile die üblichen Wege im IT Center, um mich durch Zählen von Schritten oder Positionen von Wänden etc. zurechtfinden zu können. Nach Ausbildungsbeginn haben mich dann zudem andere MATSE-Azubis unterstützt.
Parallel begann das Suchen nach einem geeigneten Hund von vorne: Blindenführhundeschulen finden und besuchen, Details mit den Hundetrainern abklären, Hunde kennen lernen.

Mann mit Hund

Quelle: Eigene Darstellung

Letztendlich fiel meine Wahl auf Banggai, eine flandrische Treibhündin (Bouvier des Flandres). Die Bouviers wurden ursprünglich als Hüte- und Treibhunde für Rinder gezüchtet – folglich haben sie eine kräftige Statur, sind stoisch und gelassen, manchmal etwas stur – aber durchaus gelehrig. Zusätzlich war Banggais Führhundeschule daran interessiert, dass wir, also meine Familie und ich, aktiv im Ausbildungsprozess involviert sind, sie also des Öfteren besuchen kommen. Dies kam unseren Interessen nach der ersten, schlechten Erfahrung sehr entgegen.

Es ergab sich jedoch ein Problem. Ich war mittlerweile in der Ausbildung, anders als erhofft ließ sich die Einarbeitung also nicht mehr in meiner freien Zeit erledigen. Hier kam mir das IT Center sehr entgegen: Benno Wienke, mein Vorgesetzter, gab mir den Dienstauftrag, die Einarbeitung mit der Führhündin zu absolvieren. Dadurch konnte ich dies während der Arbeitszeit im September tun, was sowohl mich als auch den Trainer entlastete.

Die Einarbeitung selbst erstreckte sich über fünf Wochen – jeden Tag zwei große Runden, bei denen wir verschiedenste Wege übten: Zum IT Center, zur Apotheke, Bäcker, Mensa, Post; in Düren, wo meine Eltern wohnen, übten wir auch die Wege zum Metzger, zu einer Bushaltestelle und Busfahrten. Zudem stand Abgrundverweigerung auf dem Trainingsplan: Banggai sollte vor tiefen Gruben wie Bahnschienen an einem Bahnsteig abdrehen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Banggai schon ein Dreivierteljahr Ausbildung hinter sich; sie konnte mir Bordsteinkanten, Bänke, Gullydeckel, Änderungen in der Bodenstruktur, Blindenampeln sowie verschiedenste Hindernisse anzeigen. Zudem trainierten wir Kommandos, um besonders wichtige Orientierungspunkte aktiv zu suchen und anzuzeigen: Der Pfosten mit Türöffnertaste am IT Center-Eingang wird von Banggai beispielsweise mit dem Kommando „such Öffner“ angelaufen und durch Hochspringen am Pfosten angezeigt.

Während der Führarbeit muss Banggai natürlich hoch konzentriert bleiben. Sie darf sich weder durch Eichhörnchen, Katzen noch eine Kehrmaschine aus dem Konzept bringen lassen, muss ungewöhnliche Hindernisse wie Waschmaschinen auf dem Gehweg (ist vorgekommen!) erkennen, auf ungewohnte Umgebungsverhältnisse wie Laub oder Schnee reagieren und Hundegebell ignorieren. Ein Weg, den sie bei Tageslicht perfekt beherrscht, ist im Dunkeln wieder eine neue Herausforderung:  es ist ein komplexer Mix aus hoher Konzentration und Variabilität, den ein Blindenführhund an den Tag legen muss. Natürlich sind Führfehler bei dieser Gemengelage vorprogrammiert – anders, als ich früher glaubte, reicht es also nicht, sich einfach nur passiv am Geschirr des Führhundes fest zu halten. Ich muss, genau wie der Hund, stets hoch konzentriert und aufmerksam bleiben, gegebenenfalls korrigierend eingreifen, Situationen, in denen der Hund nicht mehr weiterweiß, auflösen. Es ist also durchaus korrekt, dass wir als Blindenführhundegespann bezeichnet werden: Wir meistern die Wege gemeinsam, als Team.

Zwar lernen Hunde Wege früher oder später auswendig und man muss tatsächlich nur noch selten eingreifen; bis dahin ist es jedoch harte Arbeit. Wenn man aber hartnäckig bleibt und übt, wird man dadurch von der Hilfe anderer Personen unabhängiger: Hat man sich in der Küche in den Finger geschnitten, kann man sich selbst Pflaster in der Apotheke kaufen gehen. Das Brot ist alle? Dann gehe ich mit Banggai halt zum Bäcker. Diese Dinge mögen für andere alltäglich und selbstverständlich wirken. Oft war ich aber auf die Hilfe anderer angewiesen oder musste weit voraus planen – Banggai gibt mir die Möglichkeit, spontaner zu sein.

Im November folgte dann die Blindenführhundgespannprüfung. Sie dient als Beweis, dass Hund und Halter sich als Team einigermaßen eingespielt haben. Diese Hürde nahmen Banggai und ich ohne Probleme: Wir hätten „mit Glanz und Gloria bestanden“, so die beiden Prüfer. Sie merkten außerdem an, dass sie selten ein Gespann gesehen hätten, bei dem so früh schon so eine enge Bindung zu erkennen sei. Das kann daran liegen, dass Banggai mir im Home-Office andauernd das Kopfkissen klaut – ich arbeite, sie schläft auf dem Kopfkissen. Gerechte Rollenverteilung, zweifelsohne.
Es ergeben sich natürlich nicht nur Freiheiten und rosige Glücksmomente: Der Hund muss raus, bei Wind und Wetter. Da ich jetzt nicht mehr zum IT Center gehe, um dort zu arbeiten, passiert das nicht mehr „per default“ im Alltag – ich muss mir also, wie jeder andere Hundebesitzer auch, explizit Zeit nehmen, um mit dem Hund spazieren zu gehen. Das war in der Form nicht vorgesehen, aber so ist es nun mal. Unterm Strich bleibt jedoch eine positive Bilanz.

Und was, wenn Banggai und ich euch eines Tages über den Weg laufen? Wie sollt ihr euch dann verhalten?

Zunächst gilt: Wenn Banggai ihr Geschirr trägt, arbeitet sie. Dann ist Streicheln und Füttern strengstens verboten, und wer es doch versucht, darf mit einer höflichen, aber nicht besonders begeisterten Ansprache meinerseits rechnen. Außerdem ist Banggai Fremden gegenüber misstrauisch, es empfiehlt sich also, sie nicht zu bedrängen.

Hat Banggai hingegen nur ihre Kenndecke an, hat sie gerade frei. Auch dann freue ich mich, wenn ihr sie nicht ungefragt streichelt oder gar füttert – aber grundsätzlich dürft ihr dies.

 

Verantwortlich für die Inhalte dieses Beitrags ist Tim Böttcher.

6 Antworten zu “Mein Blindenhund und ich”

  1. Sarah sagt:

    Toller Beitrag! @Tim Böttcher

  2. Sarah sagt:

    Hallo @Tim Böttcher,
    ein toller Artikel, in dem du uns sehr persönliche Einblicke in dein Leben mit Banggai gewährst. Vielen Dank

    Sarah

    • Kaminski, Nicole Terese sagt:

      Hallo Sarah,
      danke für dein positives Feedback – wir freuen uns, dass dir der Beitrag gefällt.

      Viele Grüße,
      das IT Center Blog Team

  3. Nicole sagt:

    Schöner Blogbeitrag!

    • Kaminski, Nicole Terese sagt:

      Hallo Nicole,

      danke für dein positives Feedback – es freut uns sehr, dass dir dieser Beitrag gefällt 🙂

      Viele Grüße,
      das IT Center Blog Team