Hörbehinderte Menschen unterliegen einer besonderen Bildungserwerbssituation. Infolge der Hörschädigung ist Gehörlosen und hochgradig Schwerhörigen, die in ihrer Kommunikation ganz oder teilweise auf den Gebrauch von Gebärdensprache angewiesen sind, nicht nur die Wahrnehmung von Lautsprache verwehrt, sondern auch der Schriftspracherwerb unterscheidet sich grundsätzlich von dem Hörender. Der Erwerb von Schriftsprache ist bei Gehörlosen am ehesten mit dem Erwerb einer Zweitsprache zu vergleichen (Louis-Nouvertne, 2001). Somit verfügen Gehörlose und hochgradig Schwerhörige im Vergleich zu nicht hörbehinderten Menschen über eine im Mittel niedrigere Schriftsprachkompetenz. Das bedeutet, dass sie von lautsprachlichen (Radio, Fernsehen, Schulunterricht, Lern-DVDs) und schriftsprachlichen Informations- und Bildungsangeboten (Lehrbücher, Zeitung, Internet) nicht in gleicher Weise profitieren können, wie das hörenden Menschen möglich ist. Inklusive Bildungsarbeit muss dies berücksichtigen und barrierefreie Bildungsangebote für diese Zielgruppe anbieten.
Im Kompetenzzentrum für Gebärdensprache und Gestik, SignGes, an der RWTH Aachen werden von einem interdisziplinären Team, das sich paritätisch aus gehörlosen und hörenden Wissenschaftlern zusammensetzt, neben der Lehre der Deutschen Gebärdensprache für Studenten und der Erarbeitung von Grundlagenforschung zur Gebärdensprache, barrierefreie Anwendungen neuer Medien entwickelt. Diese Anwendungen fördern den Bildungsprozess Gehörloser und hochgradig Schwerhöriger und leisten so einen Beitrag zur inklusiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (mehr Informationen unter www.gebaerdensprache.de). Eine solche Anwendung ist das gebärdensprach-basierte Lern- und Informationsportal www.vibelle.de (Visuelles zu Beruf, Leben und Lernen). Vibelle ist das deutsche Internetportal für berufsrelevantes Wissen und eLearning in Gebärdensprache.
In einem früheren Projekt dem „Aachener Testverfahren zur Berufseignung von Gehörlosen“ (ATBG) haben wir psychologische Testverfahren in Gebärdensprache entwickelt. Mit dem ATBG konnten über 1.000 Gehörlose und Schwerhörige barrierefrei erfahren, für welche berufliche Branche sie besonders geeignet sind. Dabei haben wir unter anderem herausgefunden, dass Gehörlose und Schwerhörige zwar im Durchschnitt über eine vergleichbare intellektuelle Leistungsfähigkeit gegenüber Hörenden verfügen, bei gelerntem Wissen aber häufig hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben (Kramer, 2003). Das hat sicher viele Ursachen, eines aber ist sicher: Gehörlose und Schwerhörige haben kaum die Möglichkeit, Informationen oder Lernmaterialien in ihrer Sprache, der Gebärdensprache, zu nutzen. Es gibt bis heute einfach viel zu wenig Lern- und Informationsangebote in Gebärdensprache. So kamen wir auf die Idee, ein Internetportal zu entwickeln, dass Informationen und Lernangebote durchgängig in Gebärdensprache und Schriftsprache (Untertitel oder Begleittext) anbietet.
In Vibelle-Info, einem der zwei großen Bereiche des Portals, liegt der Schwerpunkt auf der barrierefreien Vermittlung von Wissen über die „Arbeitswelt“. Hier kann der gehörlose und schwerhörige User sich über Berufe, Verträge, Rechte und Pflichten im Arbeitsleben oder aber über Aus- und Weiterbildung und vieles mehr informieren.
Im Bereich Vibelle-eLearning können Gehörlose und Schwerhörige für den Beruf wichtige Fertigkeiten wie Deutsch, Mathematik, Englisch oder BWL auffrischen. Ein Kurs zum Themenkomplex „Mensch & Gesellschaft“ ergänzt dieses Angebot um gesellschaftliche Aspekte. Die über 12.000 Gebärdensprachvideos auf Vibelle werden bilingual von Texten oder Untertiteln flankiert.
Vibelle ist das Ergebnis des Forschungsprojekts „Aachener Internet-Lernsoftware zur Berufsqualifizierung von Gehörlosen“ (AILB), das seit 2003 entwickelt wurde.
Doch nicht nur die sprachliche Ausrichtung von Vibelle haben wir an die Bedürfnisse Gehörloser und Schwerhöriger angepasst. Auch die visuelle, technische und didaktische Umsetzung des Portals bedurfte spezieller Lösungen. Schauen Sie mal rein: www.vibelle.de
Mit Vibelle-eLearning haben wir ein videobasiertes, neues eLearning-Format entwickelt, das im Stile von Edutainment Lernen (Education) und Unterhaltung (Entertainment) miteinander verknüpft. In diesem Format haben wir eLearning-Kurse für die Bereiche „Englisch“, „Deutsch schreiben“ und „Mensch & Gesellschaft“ umgesetzt. Die Kurse haben wir durch Wissensfragen ergänzt, mit denen der User seinen Lernfortschritt überprüfen kann.
Die durchwegs positiven Rückmeldungen seitens der Gehörlosen-Community bestätigten diesen Ansatz. Vibelle-eLearning wird inzwischen an verschiedenen Schulen als unterstützendes Unterrichtsmaterial eingesetzt.
Das beliebteste Format auf Vibelle ist unsere WebTV-Sendung VibelleTV. Bisher haben wir über 100 Sendungen mit einer Dauer von zehn bis maximal 20 Minuten veröffentlicht. In VibelleTV berichten wir von Veranstaltungen und beleuchten für Gehörlose und Schwerhörige interessante Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Gastmoderatoren ergänzen unser Moderatorenteam. VibelleTV-Sendungen liefen bereits in Sport1 und werden in regelmäßigen Abständen von unserem Kooperationspartner Spectrum 11 wiederveröffentlicht. Zusätzlich zu diesen Kanälen veröffentlichen wir die meisten Sendungen auch auf YouTube, wo ausländische Interessierte sich die Untertitel übersetzen lassen können. User aus 69 verschiedenen Ländern haben diese Möglichkeit bereits genutzt.
Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert.
Weitere Informationen zu Vibelle und SignGes erhalten Sie bei:
Dr. Florian Kramer (wiss. Geschäftsführer SignGes)
Tel.: 0241-8095837
Skype: rwth_aachen
www.signges.rwth-aachen.de
Weitere Beschreibungen des Projekts finden Sie in:
Kramer, S. Kortlepel (2008): Vibelle-eLearning. In: Hörgeschädigten Pädagogik 62/4, S.159-162
Grote, F. Kramer, S. Kortlepel (2009): Vibelle. Das multimediale interaktive Informations- und Lernportal für Gehörlose. In: DAS ZEICHEN 81 Zeitschrift für Sprache und Kultur Gehörloser, S.66-77
Grote, D. Raabe-Driesen, K. Knoerzer, E. Karar, F. Kramer (2009): www.vibelle.de, Visuelles zu Beruf, Leben und Lernen. In: Lesen statt Hören. Zeitschrift für Gehörlosenkultur 17/1, S.3-5
Literatur
Louis-Nouvertné, U. (2001). Muss man hören können, um zu lesen? Probleme des Schriftspracherwerbs Gehörloser . In: Ludwig Jäger (Hrsg.): Themenheft
Gebärdensprache der Zeitschrift „Sprache und Literatur“ (SuL) 88
F. Kramer, (2007): Kulturfaire Berufseignungsdiagnostik bei Gehörlosen und daraus abgeleitete Untersuchungen zu den Unterschieden der Rechenfertigkeiten bei Gehörlosen und Hörenden. Dissertation an der RWTH-Aachen, http://darwin.bth.rwth-aachen.de/opus3/volltexte/2007/1929/
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