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RWTH-Schreibzentrum

Archiv für September 2015

Morgens, halb acht, in Deutschland

07. September 2015 | von

Kippe

 

 

Irgendwo zwischen Kippen, Kraftlosigkeit und Konsum. Katharina Schäfers Kurzgeschichte  erzählt von  „ganz normalen“ Impressionen aus dem Studentenleben. In unserem Oberseminar: Texte in Arbeit ist folgender Text entstanden.

 

 

 

„Morgens, halb acht, in Deutschland“

Heute ist Mittwoch. Hoffe ich. Ich reibe mir die verschlafenen Augen. Kriege sie einfach nicht richtig auf. Obwohl es noch früh ist, scheint die Sonne erbarmungslos auf mich herunter. Nur auf mich. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass alle anderen dem Wetter entsprechend gekleidet sind. Hier sieht man Shorts. Da ein Kleidchen. Viele Sandalen – zum Glück ohne Socken. Gestern war es noch nicht so warm. Aber gestern war eben gestern. Was gestern gut war, muss es heute nicht mehr sein. Vor allem keine schwarze Hose mit schwarzem Tanktop. Ich rieche an mir, erwarte schon das Schlimmste. Werde nicht enttäuscht: Mir schlägt ein süßlicher Geruch entgegen. Eine Mischung aus Rauch, viel Schweiß und … „Zucker“? So genau will ich es dann doch nicht wissen. Verstohlen blicke ich mich um. Hat es noch jemand gerochen? Muss ich flüchten? Bisher scheine ich unbemerkt zu sein. Bisher.

Trotzdem entschließe ich mich, nicht den Bus zu nehmen. Sicher ist sicher. Es ist halb acht. Noch eine halbe Stunde, bis ich da sein muss. Das schaff’ ich locker zu Fuß. Als ich loslaufe, merke ich, warum ich eigentlich den Bus hätte nehmen sollen. Knie und Füße schmerzen. Damit meine ich nicht das unangenehme Ziehen, das man manchmal hat. Nein. Damit meine ich die Art Schmerzen, bei denen die Muskeln zucken. So als würden sie nach einer Erholungspause betteln. Kein Wunder, wirklich gesessen habe ich heute Nacht nicht. Zum Glück ändert sich das bald. Also werde ich sitzen, egal was bei den Übungen erwartet wird. Sollte jemand überhaupt etwas erwarten. Vielleicht komme ich gar nicht dran bei den motivierten Mitstreitern. Man wird sehen.

Mein Weg führt mich an Bäckereien, Outlets, Sportgeschäften, zwei Beate-Uhse Läden und noch weiteren Konsumhöllen vorbei. Ich kann die dekorierten Schaufenster förmlich rufen, schreien, betteln hören: „Du brauchst mich! Nimm mich! Für 19,99 € bereichere ich dein Leben!“ – Kurz bin ich versucht ihnen zu glauben. Dabei habe ich diesen Monat, wenn’s hochkommt, nur noch hundert Euro zur Verfügung. Und es ist erst der Zehnte. Von dem Geld muss ich als brave Bürgerin noch meine Versicherung bezahlen. Ach ja, und Essen. Auch wenn ich mich zurzeit gar nicht nach Essen fühle. Erscheint mir ewig her, dass ich Essbares überhaupt gesehen habe. Außer meinem Zucker. Als ich noch jünger gewesen bin, dachte ich … Nun, um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht so recht, was ich dachte. Dass Kippen, Cocktails und Härteres zauberhaft sind wahrscheinlich. Nun weiß ich es auf jeden Fall besser, aber gebessert hat sich dadurch nichts. Kleider, Essen, Drogen … Wer will schon auf Konsum verzichten?

Kurz vor acht taucht dann endlich mein Ziel am Horizont auf. Fraglich, ob dieses Bild passt, aber ich mag den Gedanken. Hat etwas Romantisches und Abenteuerliches, dieser Horizont. Es macht die Realität schöner. Während ich die letzten Meter mehr schlecht als recht laufe, durchzuckt mich ein Gedanke. Bin ich überhaupt auf das, was folgt, vorbereitet? Kann ich das? Viel wichtiger: Will ich das überhaupt? Wenn es dunkel ist, kann man diese Gedanken leicht in den Hintergrund drängen wie einen Haufen dreckiger Wäsche. Sie scheinen dann nicht mehr Teil von einem selbst zu sein. Man ist dann selbst jemand anderes. In diesen Momenten ist es leicht, davon zu sprechen, dass man etwas Bestimmtes „will“. Vielleicht ja deshalb Konsum. Immer und immer mehr Konsum. Intensiver, harter Konsum. Ich muss niesen. Fühl´ mich schwach. Nicht jeder Konsum ist gesund. Aber er hilft. Man bleibt bei Atem. Man hält durch. Natürlich vergisst man auch. Zumindest manchmal.

Vor der Tür bleibe ich stehen. Mein Kopf quillt über vor Zweifel. Scheint gleich zu explodieren. Alles, was jeder will, ist Freiheit. Oder? In diesem Moment geht die Tür auf. Es kommen junge, fröhliche, sich laut unterhaltende Leute raus. Ich schaue in ihre unbeschwerten Gesichter. Plötzlich fühle ich mich besser, leichter.