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RWTH-Schreibzentrum

Kategorie: ‘Allgemein’

Van Goghs Augen

18. Juli 2024 | von

Text von Hanna Dahl

Entstanden im Ramen des Kurses  „Kreatives Schreiben I im Museum“, der am 25. und 26. April im Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen stattfand.


Es ist kühl. Ich fröstele leicht und das einzige Geräusch, das hin und wieder durch den großen Saal hallt, ist ein lautes Piepen. Testweise trete ich näher an Van Gogh heran. Ja, es piept. Eine Diebstahlsicherung. Ganz dicht stehe ich vor ihm. Starre in seine Augen. Grau, ausdruckslos. Wie meine Augen. Neben ihm Nebel, hinter dem einzigen Fenster im Saal, und eine Aussicht, die einem den Atem verschlägt. Ich lehne mich an die kalte, steinerne Fensterbank und spüre unangenehm die Anwesenheit der umherstreifenden Menschen hinter mir. Lautlos schweben sie durch den Raum, mit ihren eigenen Gedanken, andächtig und ängstlich. Bedacht darauf, nicht die Aufmerksamkeit des Museumswärters auf sich zu ziehen. Ich merke schon länger, dass er mich beäugt. Völlig verständlich, denn man sieht mir an, dass ich nicht wegen der Bilder hier bin.

Ich bin ausschließlich zum Warten hier, bis du deine Runde gedreht hast. Du bist traurig, dass ich mich nicht dafür interessiere. Für dich oder die Bilder oder beides. Aber die Bilder sind wie du. Stumm und so distanziert. Nur erwarte ich nichts von Van Gogh. Seine grauen Augen sind nicht vorwurfsvoll, nicht anklagend. Aus ihnen spricht keine Enttäuschung.

Es gab Zeiten, da hatte ich gehofft, dass es im Alter besser wird. Dass du siehst, dass ich Gedanken habe, die dich interessieren könnten. Du hattest gehofft, dass es durch diese Sonntage besser wird. Aber Sonntage bedeuten für mich nur eine Langeweile, die meine Einsamkeit zu verstecken versucht. Ich stehe hier nur so da und sogar dieser Museumswärter merkt, dass ich nicht hierhergehöre. Wieso du nicht?

Mit dem Finger fahre ich die Furchen im Mauerwerk nach. Rauer Stein. Ein wenig bröselt ab. Ich höre Schritte und ich weiß, dass es deine sind. Demonstrativ starre ich weiter nach draußen, in den Nebel. Du stellst dich neben mich und eine Welle unausgesprochener Enttäuschung überrollt mich. Ich kann nicht mal sagen, ob es meine oder deine ist. Als sich unsere Blicke kreuzen, weiß ich, dass auch du es spürst. Aber gefangen in unserem männlichen Stolz, sind wir beide nicht fähig, diese Wand mit Worten einzureißen. Van Gogh vermag es nicht, unsere Beziehung zu retten und es ist absurd, dass du das zu hoffen gewagt hattest.

„Gehen wir“, sagt er.

©Hanna Dahl

Olkhon

17. August 2020 | von

von Tim Seidel

Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text über eine Reise mit der Transsibirischen-Eisenbahn durch Russland entstanden.

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Ich stehe am Ufer und grabe meine Füße in den noch warmen Sand. Vor mir bietet sich eine Szenerie, die so unfassbar schön ist, dass es fast schon kitschig erscheint. Wir stehen in unserer Lieblingsbucht am Baikalsee unweit unserer Unterkunft. Zu meiner Rechten liegt der Schamanenfels, ein fünfzig Meter hoher, extrem steiler, zerklüfteter Fels, der aussieht wie zwei siamesische Zwillinge, die versuchen, in unterschiedliche Richtungen in den See zu springen. Auf der linken Seite wächst eine Felswand in die Höhe, an der lediglich ein schmaler Ziehweg wie ein Rinnsal hinabführt. Dazwischen und weit darüber hinaus erstreckt sich der Baikalsee, der in der untergehenden Abendsonne in den fantastischsten Rosa- und Orangetönen schillert. Klein und fern sind ein paar mit Schnee bedeckte Berge, die bald den Rest der Sonne verschlucken werden. Knapp hundert Meter entfernt segelt ein Seeadler kreischend über die Wasseroberfläche. Der See strahlt eine mächtige Ruhe und Gleichgültigkeit gegenüber alledem aus.

Ich könnte noch Stunden hier stehen und die ereignislose und zugleich maßlose Szenerie in mich aufnehmen. Doch eine leichte Böe erinnert mich fröstelnd an unsere Mission.

Ich blicke an meinen bis auf die Boxershorts nackten Körper hinab. Neben mir höre ich Ludger rufen und Sekunden später rennt dieser rauschend an mir vorbei in den See und durchschneidet den bisher herrschenden Frieden. Dicht gefolgt von Jack – einem chinesischen Reisenden, den wir in unserer Unterkunft kennengelernt haben. Von hinten ruft Theresa mir zu, die die ganze Operation filmt. Auch ich stürze mich daraufhin an Eisschollen vorbei in das kristallklare Wasser, tauche einige Meter und öffne meine Augen. Alles leuchtet rosa und orange mit Ausnahme von einigen dunklen Schatten, die von den Eisschollen geworfen werden. Das Licht bricht sich traumhaft schön in dem klaren Wasser und ich kann die untergehende Sonne für einen Augenblick durch die Wasseroberfläche sehen. So schön der Moment unter Wasser auch ist, so schmerzhaft ist auch jede Sekunde. Mit einem befreienden Schrei tauche ich wieder auf und schüttle das Wasser aus meinen Haaren. Mit schnellen großen Schritten pflüge ich eilig hinter Ludger und Jack aus dem Wasser. Theresa erwartet uns, mit der bereits geöffneten Wodkaflasche und einem breiten Grinsen. In dem sonnengegerbten Gesicht wirken ihre Zähne so weiß wie von einem Jugendlichen, obwohl sie schon achtunddreißig ist. Wir lassen die Flasche kreisen, während wir im Wind trocknen. Erst jetzt bemerke ich, wie warm mir eigentlich ist. Nein, nicht warm – heiß! Meine Haut brennt kribbelnd und ich habe den Eindruck, vor Energie zu platzen.

Wieder in trockenen Klamotten steckend, setze ich mich zu den anderen in den Sand. Wir lassen weiter den Wodka kreisen und ich beginne mir eine Zigarette zu drehen. Jack bietet mir wortlos eine von seinen chinesischen Filterlosen an, welche ich dankend ablehne. Jedes Mal, wenn Jack sich eine Zigarette ansteckt bin ich irritiert, da er trotz seiner fünfundzwanzig Jahre und seinem Job als Banker noch sehr jungenhaft wirkt. Seinem drahtigen Körper und seinen feinen, fast kindlichen Gesichtszügen verleihen lediglich die ernsthaften, wachen Augen etwas Erwachsenes – und die Zigarette. Wir reden wenig. Alle genießen den Blick auf den schier endlosen See, der ein letztes Mal für heute von warmem Licht geflutet wird. Ich kann gar nicht denken, da mein Verstand so damit beschäftigt ist, jede einzelne Facette dieses einzigartigen Naturschauspiels aufzunehmen. Im Sand sitzend und in die rosige Ferne starrend überkommt mich ein Gefühl absoluten Friedens.

„Durak!“, rufen alle lachend. Die Sonne ist untergegangen und langsam kriecht die Kälte der Nacht vom See heran. „Blyat“, antworte ich nur. Ludger reicht mir grinsend den Kartenstapel und ich beginne zu mischen. Wir unterhalten uns heiter weiter über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland, China und Russland und unser Leben daheim. Jack ist seit seinem Start in Wladivostok vor zwei Wochen allein unterwegs und will in weiteren zwei Wochen in Moskau sein, um dann nach China zurückzukehren. Theresa berichtet von ihren Abenteuern in den letzten zwei Monaten in Kasachstan, der Mongolei und von der Nacht, in der sie am Ostufer des Baikalsees gecampt hat – wo wir sie getroffen haben. Während die Temperaturen sinken, steigt unsere Stimmung. Nach geleerter Wodkaflasche öffnen wir die ersten Biere und spielen noch ein paar Runden Durak, bis es zu dunkel ist. Nachdem die Nacht über uns hereingebrochen ist, lege ich mich auf den Rücken und beobachte rauchend das Firmament. Selten konnte ich so viele Sterne in einer solchen Intensität beobachten. Als die erste Sternschnuppe einen weiten Bogen über das Himmelszelt zieht, weiß ich gar nicht, was ich mir wünschen soll.

Titellos

30. Juli 2020 | von

von Matthias Cherek

Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text einer spannenden Diskussion zwischen zwei Akteuren entstanden.

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Du hast ein gutes Leben geführt. Alles in allem etwas durchschnittlich, aber du hattest niemals große Ambitionen. Deine beiden Kinder waren schon vor deinem Herzinfarkt erwachsen. Du hast niemanden allein gelassen, indem du gestorben bist. Ich hoffe, das beruhigt dich.

 

Ich bin tot?

 

Ja – tot. Du lebst nicht.

 

Also ist das hier das Jenseits?

 

Ja und nein.

 

Was bedeutet das denn?

 

Dass noch nicht entschieden wurde, welches dein Schicksal wird.

 

Was kann denn mit mir passieren? Werde ich wiedergeboren?

 

Vielleicht. Wir werden sehen, wie unser Gespräch verläuft.

 

Ist das hier eine Art Bewerbungsgespräch?

 

Ja, aber nicht so, wie du denkst. Hier wird nur untersucht, welchem Zweck du dienen kannst.

 

Was für einem Zweck soll ich denn noch dienen, wenn ich tot bin?

 

Der Tod ist nicht permanent. Bisher hat dich niemand gefunden, dein Ableben kann also noch problemlos rückgängig gemacht werden. Aber sogar nachdem dein Körper begraben wurde, gibt es Mittel und Wege, dich zurück unter die Lebenden zu schicken.

 

Du kannst mich wiederbeleben? Bist du Gott?

 

Nein, ich bin kein Gott. Ich habe deine Götter erschaffen, wie ich auch dich erschaffen habe.

 

Also bist du der Gott der Götter.

 

Nein. Niemand außer dir weiß von mir. Nicht die Menschen und nicht die Götter. Sobald entschieden wurde, was mit dir geschieht, wirst auch du nichts mehr von mir wissen. Es gibt mich gar nicht, dort wo du existierst.

 

Das verstehe ich nicht.

 

Ich weiß.

 

Und was wird jetzt aus mir?

 

Erzähl du es mir.

 

Wie kann ich denn entscheiden, was aus mir wird? Ich dachte, du hättest mich erschaffen. Dann musst du auch entscheiden.

 

Deine Entscheidung ist die Meine. Du und ich, wir sind verbunden. Ohne mich gäbe es dich nicht, aber ohne dich wäre auch ich nicht hier.

 

Also habe ich mich selbst erschaffen?

 

Genau.

 

Aber wo komme ich denn her? Wo war der Anfang?

 

Der kam von mir. Es muss immer einen Anfang geben. Und ein Ende.

 

Also, wenn ich entscheiden muss, dann möchte ich weiterleben.

 

Warum?

 

Weil tot sein so endgültig ist.

 

Das genügt nicht. Welchem Zweck dienst du? Welchen Aspekt treibst du voran?

 

Was? Ich weiß nicht, was du meinst. Das Leben muss doch keinem Zweck dienen. Es ist sein eigener Zweck.

 

Nein, nicht du. Du lebst – und stirbst – für einen Zweck.

 

Für welchen Zweck bin ich denn gestorben?

 

Ich wollte sehen, was du davon hältst.

 

Vom Sterben? Finden die Leute ihren eigenen Tod denn nicht immer schlecht?

 

Nein. Es gibt viele gute Gründe für den Tod. Die meisten sehen das ein. Um ehrlich zu sein, frage ich viele gar nicht. Aber du bist anders.

 

Bin ich etwas Besonderes? Vielleicht muss ich deshalb weiterleben.

 

Nein, du bist nichts Besonderes. Du bist anders. Aber warum bist du anders? Was ist dein Zweck?

 

Was weiß ich denn? Das ist ziemlich frustrierend. Dauernd fragst du nach meinem Zweck, aber ich habe doch keinen Schimmer, was ich hier soll.

 

Was wolltest du denn, bevor du gestorben bist?

 

Glück, Liebe, Reichtum. Solche Dinge.

 

Bist du sicher? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich etwas so Langweiliges zulassen würde.

 

Doch. Du hast doch selbst gesagt, ich hätte keine großen Ambitionen.

 

Dann lass es uns anders angehen. Erzähl mir von deinem Leben. Wer bist du, woher kommst du?

 

Also gut. Ich heiße …

 

Du erinnerst dich nicht an deinen Namen?

 

Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich an gar nichts.

 

So ist das also. Ich glaube, ich weiß jetzt, welchem Zweck du dienst.

 

Welchem denn?

 

Lebe wohl und danke.

 

Danke wofür?

 

Danke fürs Lesen.

Corona-Tagebuch

27. Juni 2020 | von

von Tim Seidel

Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

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Der Wecker klingelt, 8:00 Uhr.

Ich setze meine glänzende Bialetti auf das gleiche Kochfeld wie jeden Morgen und gehe duschen, während sich der herrliche Kaffeegeruch in der ganzen Wohnung verteilt. Man könnte meinen, es sei ein ganz normaler Montagmorgen. Doch nichts ist momentan normal. Ich klappe meinen Laptop auf und starte die erste Zoomsitzung des Tages, die erste, aber bei weitem nicht die letzte.

Die Dozentin ist überaus nett und gibt sich größte Mühe, den Stoff so gut es geht zu vermitteln. Ihre Kopfhörer sind so groß wie die Ohrenschützer eines Forstarbeiters, damit sieht die zierliche Frau eher aus wie eine Pilotin oder Funkerin im Krieg. Eine komische Analogie, die würde Macron mit Sicherheit gefallen.

Die „Vorlesung“ kommt zum Ende mit den Worten: „Bleiben Sie gesund und Zuhause.“ Zum ersten Mal seit Beginn meines Studiums wäre ich um 8:30 Uhr lieber im Audimax statt Zuhause vor meinem Laptop, mit einem lauwarmen Kaffee in meiner Hand.

Die nächste Sitzung geht zu Ende, wieder wird uns viel Gesundheit gewünscht. Irgendwie beginne ich jedes Mal innerlich „Viel Glück und viel Segen“ zu singen, wenn jemand mir Gesundheit wünscht.

Meine Kontaktlinsen fühlen sich trocken, hart an und dabei ist es erst 15:00 Uhr. Wieder wünschte ich im Audimax oder im Büro zu sein, statt zu telefonieren oder E-Mails zu schreiben. Ich wundere mich über mich selbst.

Wie oft ist ein Vorlesungsbesuch daran gescheitert, dass mir der Weg zu weit war oder ich beim Frühstücken so sehr getrödelt habe, dass es sich meine Ansicht nach nicht mehr gelohnt hat und wie oft habe ich mir gewünscht, mich einfach kurz in die Vorlesung oder ins Büro beamen zu können? Der Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen und dennoch wünschte ich, es wäre alles wieder wie früher.

Wie kommt es, dass man immer das haben will, was man nicht haben kann, statt sich zu freuen über das, was man hat? Eine Frage, auf die ich noch keine Antwort weiß, aber zum Glück habe ich momentan genug Zeit, eine zu finden.

 

Corona-Tagebuch

19. Juni 2020 | von

von Johanna Demory

Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

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Corona – ein Mantra in aller Munde, und seinen Alltag kann man vergessen

Ziemlich viele Gedanken, die sich um dieses Virus gemacht werden. Zu Recht! Es ist gefährlich. Es breitet sich rasend schnell aus. Es gefährdet Menschen, und zwar jeden. Man sieht es nur nicht. Oder doch? Über die Schreckensbilder aus dem griechischen Flüchtlingslager scrollt man schnell hinweg, in Gedanken schiebt man sie einfach zur Seite – man ist ja nicht in Griechenland. Und dann sieht man das Virus wieder nicht. Man spürt es auch nicht, wenn man es selbst noch nicht hatte, und keinen Angehörigen hat, der daran erkrankt ist. Und trotzdem hat sich alles verändert. Einkaufen – oder auch eben nicht einkaufen, wenn es um nichts Lebenswichtiges geht – ist anders. Es ist leerer, kein Gedränge mehr. Es fühlt sich anders an. Die Hände, zum Beispiel, fühlen sich schneller klebrig und dreckig an. Waschbedürftig. Einkaufen riecht anders. Nach Desinfektionsmittel? Geht so. Nicht in jedem Laden wird der Haltegriff des Einkaufwagens, nach Benutzung, mit der antibakteriellen Substanz eingenebelt. Nicht jeder benutzt die angeketteten Fläschchen, die in den Eingängen der Läden bereitstehen. Angekettet deshalb, weil sie sonst jemand mit nach Hause nehmen würde. Zur Sicherheit, und auf Vorrat natürlich. Auch Mundschutzmasken-Klau ist eine anerkannte Sportart geworden.

Irgendwie ist die Corona-Krise überall angekommen, irgendwie aber auch nicht. Wo ist sie angekommen, und wo nicht? Wenn eins feststeht, dann das: Sie ist in den Medien angekommen. Die Medien sind aus der Krise überhaupt nicht wegzudenken. Das Wort Corona steht überall geschrieben. Covid-19 wäre zu kompliziert, das benutzen nur die Virologen. Es muss einleuchtend sein, schnell lesbar, ohne Zahlen. Corona, Corona, Corona … Wie ein Mantra in aller Munde. Sätze wie: „Das darf ja jetzt nicht mehr …“, oder: „Okay, im Moment nicht, wegen Corona …“, sind zum gewohnten Anhängsel eines jeden Gesprächs geworden. In den Gedanken hat sich Corona etabliert, egal, ob man zu Hause vor dem Bildschirm sitzt, eben schnell zur Post möchte, oder beim Spaziergang versucht, eine Corona-freie Liegewiese zu finden. Die Maßnahmen sind klar, die meisten halten sich daran. Einfache Regeln. Aber da ist noch ein Rest-Zweifel in uns. Etwas bleibt jedes Mal übrig. Ungeklärte Fragen, wie lange das alles noch so weitergeht. Und vor allem, wie es danach weiter geht. Ist es irgendwann vorbei? Wird es nie vorbei sein? Manche sagen das Eine, die Nächsten behaupten das Andere. Und dann fühlt man sich unsicher. Unfähig, den Alltag wieder aufzunehmen. Er fällt ganz anders aus, unproduktiver, mit weniger Bewegung. Und man wartet nur darauf, die alten Routinen von vorher wieder aufnehmen zu können, die spannender waren, und mit mehr Bewegung darin. Und dieses Warten bedeutet: Wir sind noch nicht angekommen in der Krise. Denn auf etwas zu warten, ist oft der falsche Weg, um in etwas anzukommen, was man ernst nehmen sollte. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht anders.

 

Corona-Tagebuch

09. Juni 2020 | von

von Matthias Cherek

Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

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Ich verliere langsam den Überblick. Kontaktsperre ab drei Personen, außer Kernfamilie – was auch immer das bedeutet – Geschäfte öffnen ab wieviel hundert Quadratmetern? Außer Buchhandlungen und Autohäusern – interessant – und tausend Regeln mehr. Wo soll ich nochmal eine Maske tragen? Überlebt das Virus auf Oberflächen? Reichen zwei Meter Abstand beim Joggen? Ich habe da von einer Studie gehört, die besagt, dass während der Corona-Pandemie viel mehr Leute über Studien reden. Hat die denn ein Peer-Review? Ich weiß immer über die neuesten Entwicklungen Bescheid: In New York werden Massengräber angelegt, der Iran lügt, China vielleicht auch, Südkorea hat alles toll gemacht. Bescheid – achja, ums Bafög muss ich mich noch kümmern. Wird meine Regelstudienzeit verlängert? Schnell mal googlen, dann weiß ich … Bescheid. Die neueste Ausgabe von Vox Machina Origins wird wegen Corona nicht veröffentlich. Ich soll mich wegen der andauernden Krise in Geduld üben, ein neues Veröffentlichunsdatum wird bald bekannt gegeben. Warum wird denn die Veröffentlichung von einem digitalen Comic verschoben? Ich mache mir jetzt Waffeln. Schnell schauen, ob alles da ist – Milch, Zucker, Eier, Meh… – Ich bestelle mir jetzt Pizza.

Na toll, jetzt habe ich eine Woche nicht an meinem Corona-Tagebuch gearbeitet und schon ist alles veraltet.

Was wird von der Corona-Krise bleiben?

27. April 2020 | von

von Christoph Leuchter

Entstanden ist das Essay als Gastbeitrag für die AZ/AN im Rahmen der Corona-Pandemie.

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Was auch geschieht, wie lange auch immer das alles noch dauert – für viele ist eins längst klar: Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie zuvor.

Stimmt das? Vielleicht. Indes mit Gewissheit sagen, kann es niemand. Hat es doch ähnliche Aussagen schon im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008 gegeben. Und mal ehrlich: So wahnsinnig viel hat sich seitdem für die Menschen auf der Straße, die momentan eher zu Hause bleiben müssen, nicht verändert.

Aber – zwischen 2008 und 2020 gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die Krise damals war für die meisten Menschen eine sehr abstrakte. Banken mussten gerettet werden. Rettungsschirme wurden aufgespannt. Aber außer den Finanzexperten und denjenigen, die tatsächlich Aktien von Lehman Brothers gekauft hatten, wusste niemand so recht, was da eigentlich geschah. Die Börsen spürten es und massiv natürlich die Griechen, aber hierzulande war der ganze Spuk für die meisten schnell vorbei. Ein bisschen musste man noch um den Euro bangen, aber das war‘s dann auch: Die wenigsten Deutschen waren existenziell bedroht.

Das ist jetzt anders. Und das Ausmaß lässt sich bislang allenfalls erahnen. Sehen und fühlen kann man aber schon jetzt: Das, was die sogenannte Corona-Krise mit uns macht, betrifft plötzlich die Menschen selbst – ganz real und in Echtzeit. Nicht die da oben, nicht die Mega-Konzerne, nicht irgendwen, nein, uns alle und unmittelbar.

Das Virus ist lebensgefährlich! Und das im doppelten Sinn. Die einen kostet – und das ist am allerschlimmsten – die Krise tatsächlich das Leben. (Dabei ist es im Übrigen völlig egal, wie alt man ist – alles andere ist blanker Zynismus!) Das Leben der anderen wird in irgendeiner Form berührt sein. Corona, so schön der Name auch klingt, scheint sich vor allem zu einer psychologischen und einer wirtschaftlichen Krise auszuwachsen. Aber diesmal trifft es in erster Linie die Friseurin, die ihren Job verliert, den Mechatroniker, der in Kurzarbeit muss, und den mittelständischen Unternehmer, dem die Insolvenz droht.

Die gesundheitliche Gefahr beziehungsweise Dimension des Ganzen ist immer noch schwer zu fassen. Unzweifelhaft erkennt man sie daran, dass in den Medien aktuell die Virologen das Wort führen. Vorher kamen die in den Programmen gar nicht vor. Ansonsten kämpfen die meisten von uns eher mit den Konsequenzen des sogenannten Kontaktverbots als mit der wirklichen Bedrohung. Die Fernsehbilder italienischer Militärkonvois, die Hunderte von Leichen transportieren, wirken nur tausend Kilometer entfernt wie düstere Hollywoodproduktionen, surreal, nicht wie das wahre Leben.

Es fällt auf, dass nicht alle Experten in der Krise immer richtigliegen. Manche Virologen und Wirtschaftsweisen scheinen bei ihren Vorhersagen eher die hauseigenen Glaskugeln zu bemühen. Gleichwohl: Je länger das Ganze dauert, desto häufiger fragen die Menschen schon jetzt nach dem Sinn. Was lernen wir aus der Krise?

Erste Antworten klingen hier und da allerdings, als sei irgendjemand schuld an dem Ausbruch von Covid-19. Als müsse man Systeme oder Handlungsträger dafür zur Rechenschaft ziehen.

Das ist Unsinn! Weder der Kapitalismus hat das Virus losgetreten noch die Globalisierung. Alles andere ist Verschwörungstheorie. Eine Pandemie kommt einfach: die Pest, die Spanische Grippe, Ebola, Corona. Wie sehr sie sich ausbreitet, ist eine andere Frage. Und eine Epidemie ist auch keine Strafe Gottes. Gleichwohl muss man nicht alles in der Welt, wie wir sie kennen, grenzenlos gut finden – nicht den Turbo-Kapitalismus, der uns kurzsichtig und kurzatmig macht, nicht diejenige Globalisierung, die die Menschen vergisst, und erst recht keine Religionen, die von strafenden Göttern träumen.

Es kann nie schaden, darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft leben wollen: Wie können wir – wenn schon nicht total „entschleunigen“ – wenigstens nicht permanent überdrehen? Wie lässt sich die drohende Spaltung der Gesellschaft und der Welt überwinden? Ist es richtig, dass ein Top-Manager zig Mal so viel verdient wie eine Altenpflegerin oder ein Paketzusteller? Hat das eine vielleicht sogar mit dem anderen zu tun? Diese Fragen kann und muss man sich immer stellen. Manche Leute haben nur gerade mehr Zeit zum Denken – und vielleicht ist das gut so.

Spätestens bei der Frage, wie wir unsere Umwelt und damit auch unsere Gesundheit besser schützen, was wir dringend tun müssen, spätestens da lehrt uns die Krise, dass Lösungen nicht so einfach sind wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Weil die Welt eine komplexe ist.

Erste Reaktionen und Kommentare, die bereits jubilieren und das aktuelle „Herunterfahren“ des gesellschaftlichen Lebens als Beweis dafür anführen, dass es „auch anders geht“, darf man getrost als naiv oder ideologisch zurückweisen. Der aktuelle Zustand der Gesellschaft ist sicher weit vom Ideal entfernt – es sei denn, man ist zufällig Misanthrop oder Narzisst.

Aber noch einmal: Was können wir lernen? Müssen wir etwas lernen?

Sicher wird es Neuerungen in der nächsten Zeit des Improvisierens geben, die sich als sinnvoll erweisen; aus der Not Geborenes, das wir, wo es möglich ist, beibehalten können: Homeoffice, Videokonferenzen, Desinfektionsmittel. Manchmal sind es auch Gepflogenheiten, die wir bereits kannten, aber irgendwie vergessen hatten: Lesen, Sinnieren, Spazierengehen.

Wir lernen auch, dass die Krankenhäuser und Pflegeheime demnächst besser mit Masken und Schutzausrüstung ausgestattet sein müssen, logisch. Ach ja, wir lernen – wieder einmal –, dass Geld nicht alles, aber auch nicht unwichtig ist. Und wir lernen gleichzeitig, dass „Durchökonomisieren“ nicht überall das Maß der Dinge sein darf. Und: Alles ist wichtiger als Klopapier!

Bleibt die verwunderte Erkenntnis: Das Leben und unsere Gesellschaft sind immer noch verdammt verletzlich – auch in Zeiten von schnellerem Internet und Operationen am offenen Herzen. Das hätten wir so nicht gedacht. Für unsere Gesundheit gibt es selbst in der hochmodernen Welt keine Garantie. Aber wir leben zum Glück nicht mehr im Mittelalter und unser Gesundheitswesen kann Maßnahmen ergreifen, die bisweilen sogar erfolgreicher sind als Medikamente und Impfstoffe.

Mitte März, kurz vor dem Kontaktverbot, als sich die Entwicklung schon abzeichnete, da sagte meine unerschrockene Friseurin: „Die Krise wird auch eine Chance für uns sein. Selbst die schlimmste Katastrophe ist für irgendetwas gut.“ Mutig. Uneigennützig. Nahezu philosophisch. Aber das wussten wir ja schon immer: dass die wahren Philosophen Steinmetze, Linsenschleifer und Friseurinnen sind.

Und ob wir daraus etwas lernen oder nicht – es zeigt sich: Leben findet auch in digitalisierten Zeiten immer noch vor Ort statt. Dort leisten die kleinen und großen Helden der Krise gerade Bewundernswertes: Die Kassiererin im Supermarkt, der Student, der bei der Telefonseelsorge aushilft, Ärzte und Pfleger in Kliniken und Altenheimen sowieso. Die Liste lässt sich ins Unendliche verlängern. Selbst Politiker machen keine schlechte Figur. Und plötzlich gibt es überall Nachbarn, die sich unterstützen, Spaziergänger, die sich grüßen, Polizisten, die singend durch die Straßen ziehen und für einsame Menschen die Sonne aufgehen lassen. Das tut gut. Das lässt hoffen. Grandios, wenn das auch nach der Krise so bliebe.

 

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Christoph Leuchter ist Schriftsteller und Musiker und leitet das Schreibzentrum der RWTH-Aachen University.

NXTTXT – Interesse an einem Schreibwettbewerb?

22. November 2018 | von

Auch das Schreibzentrum macht gerne Werbung in uneigener Sache.

Dort, wo die Freude am Schreiben gefördert und auch noch entlohnt wird, sind wir Feuer und Flamme.

Aachens erster Insektenburger – überraschend saftig und nussig

19. September 2018 | von

Joel Teichmann: Revolution aus der Tiefkühltruhe – der Insektenburger

Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 im Kurs Journalistisches Schreiben

veröffentlicht in der AZ/AN im Teil Lokales


 

Revolution aus der Tiefkühltruhe – der Insektenburger

 

„Bitte probieren Sie!“ Vorsichtig begutachtet die junge Frau das handbeschriebene Schild auf der Kühltruhe. Na, was denn probieren? Ihr Blick schweift vom Papier-Schildchen zu den kleinen braunen Stückchen, die jeweils von einem Holzstäbchen durchstochen sind. „Deutschlands erster Insektenburger“, steht großgeschrieben darüber. Die Augen der Frau weiten sich, unsicher macht sie einen Schritt zurück. Ein letztes Mal blickt die Dame auf die Probestücke, bevor sie sich angewidert schüttelt und in Richtung Kasse flüchtet.

DEUTSCHLAND, KOELN, 09.10.2017, ifood conference 2017 auf der ANUGA, Boris Oezel und Max Kraemer © Joerg Sarbach

 

Die Larven des Getreideschimmelkäfers haben den Weg in die Aachener Supermärkte gefunden. Seit April dieses Jahres verkauft Rewe Reinartz in seinen beiden Filialen in Eilendorf und an der Lütticher Straße den Insektenburger. Zwar greift nicht jeder Kunde zur neuen Rindfleisch-Alternative. Dennoch: Schon nach wenigen Wochen war der Burger ausverkauft. Allerdings vergingen Jahre der Entwicklung und Tüftelei, bevor die Larven-Bulette in der Kühltruhe landen konnte.

Die Geschichte beginnt im Jahr 2013 in Südostasien: Baris Özel schlendert mit seinem Sandkastenfreund Max Krämer durch die Straßen Bangkoks. Vorbei an Händlern, die ihre Ware am Straßenrand verkaufen. Der Duft gebratenen Essens liegt in der Luft. Vor einem Straßenhändler halten sie an und blicken in eine Pfanne, randvoll gefüllt mit Insekten. Die zwei Urlauber sind neugierig, probieren die kleinen Tierchen. „Es überkam uns“, sagt Özel später. „Obwohl nicht alles schmeckte.“ Und so wird dieser Tag die beiden Freunde zu künftigen Geschäftspartnern machen. Zu den Erfindern des ersten Insektenburgers in Deutschland.

Die Insektenzucht sei ein wichtiger Baustein zur nachhaltigen Nahrungssicherung, konstatiert die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen bereits vor fünf Jahren. Im Vergleich mit der klassischen Rindfleischproduktion benötigen sie gerade einmal ein Zehntel der Futtermittel und produzieren ein Hundertstel der Treibhausgase, wirbt der Insektenburger auf seiner Verpackung. Besonders in Asien kommen Wurm und Käfer daher bereits jetzt täglich auf den Tisch. Rund zwei Milliarden Menschen ernähren sich weltweit von den krabbelnden Lebewesen – ein Drittel der Menschheit. Warum also nicht in Deutschland?

Zu Beginn ist die Geschichte des Insektenburgers eine Geschichte des Scheiterns. Özel und Krämer, damals Studenten der Geographie und BWL, bestellen sich essbare Insekten im Internet. Der WG-Mixer soll die Tierchen in einen homogenen Klumpen verwandeln. Auf den Versuch folgt prompt die Enttäuschung: „Unser Burger sah noch nicht gut genug aus“, erklärt Özel. Mithilfe des deutschen Instituts für Lebensmitteltechnik gelingt schließlich der Durchbruch: Der Insektenburger kommt im Oktober 2015 in zwei belgischen Gastronomiebetrieben auf die Speisekarte, die beiden Freunde gründen das Unternehmen „Bugfoundation“. Ein Verkauf in Deutschland bleibt hingegen untersagt. Insekten sind kein Essen, heißt es. Eine Ausnahmegenehmigung und zahlreiche strenge Auflagen wären beim Verkauf zu beachten. Ein EU-weites Lebensmittelgesetz Anfang des Jahres 2018 ändert diese Einstellung. Seitdem dürfen auch hier die Krabbeltierchen verspeist werden. „Wir haben uns gefreut wie kleine Kinder“, erinnert sich Özel. Der Weg für Deutschlands ersten Insektenburger war frei.

Schnell wird die WG zu klein und die Larven-Zucht zum niederländischen Unternehmen „Protifarm“ ausgegliedert. Vier bis sechs Wochen liegen die Würmchen dort zwischen tausenden Artgenossen in riesigen Behältern herum. „Massentierhaltung ist für die Larven das Paradies“, erläutert Özel. Schließlich sei das ihr gewohnter Lebensraum, sagt er. Nach der Brutzeit werden die Larven in eine Kühlkammer gebracht, wo sie in Schockstarre fallen und sterben. Ein Wärmebad soll anschließend die verbliebenden Keime abtöten. Etwa tausend solcher Larven formen einen Burger-Patty.

Zielgerichtet steuert ein dunkelhaariges Mädchen auf die Probestückchen im Rewe-Markt zu. „Bitte probieren Sie“, liest sie und blickt in die Truhe. Insekten also. Die Jugendliche zögert kurz, greift dann aber zu. „Schmeckt wie Falafel“, sagt sie grinsend. Ob sie es kaufen würde? Das Mädchen nickt eifrig. Nächstes Mal vielleicht.

Der Insektenburger, er schmeckt also. Zumindest waren sich darin sechs Tester und Testerinnen einig. „Wir haben den Fokus auf den Geruch und Geschmack gesetzt“, erklärt Erfinder Baris Özel. Getreu dem Motto: Die Nase isst mit. Neben den Buffalowürmern beinhaltet ein Patty unter anderem Soja, Tomatenmark, Ei, Zwiebeln und Gewürze. Generell soll es ein hochwertiges und seriöses Produkt sein, keine Mutprobe. „Es ist eben kein Lutscher mit sichtbaren Insekten“, betont Özel. Dschungelcamp und Insektenburger – das seien zwei völlig verschiedene Welten, so der Entwickler.

Und Erfolg scheint der Burger bisher auch zu haben. Die Tiefkühltruhe im Supermarkt an der Lütticher Straße ist zur Hälfte gefüllt. Im April sah das noch anders aus. Der Aachener Supermarkt war der erste Markt bundesweit, der ernsthaftes Interesse an dem Insektenburger zeigte. Und folglich auch dessen erste Verkaufsstätte in Deutschland – die Aufmerksamkeit dementsprechend hoch. Ausgerechnet am ersten April verkündete das Unternehmen den Verkauf des neuen Produkts. Ein Aprilscherz? Fehlanzeige. „Der eigentliche Scherz war, dass es kein Scherz war“, erläutert Bastian Neumann, Leiter der Filiale an der Lütticher Straße.

400 Packungen wurden zur Premiere bestellt, innerhalb von zwei Wochen waren sie ausverkauft. „Ein überragender Wert“, erklärt Michael Reinartz, Betreiber der beiden Rewe-Filialen. Von tiefgekühlten Rindfleisch-Pattys würden hingegen gerade einmal fünf bis sechs Packungen wöchentlich über die Ladentheke rutschen. 5,99 Euro kostet eine Insekten-Packung: gefüllt mit zwei großen oder alternativ sechs kleinen Pattys. „Klingt erstmal viel“, sagt Neumann. „Liegt aber im gehobenen Rindfleischniveau“. Der Grund: Derzeit sind die Rohstoffpreise der Krabbeltierchen sehr hoch, die Insektenindustrie ist noch klein. Im September automatisiert Züchter „Protifarm“ seine Anlage – vielleicht der erste Schritt zu einem preiswerteren Burger.

Der Erfolg in Aachen kommt aber nicht von ungefähr. Mit Plakaten warb der Rewe anfangs massiv für das neue Produkt – am Templergraben, Ponttor, rund um die Universität und generell dort, wo sich Studierende aufhalten könnten. „Sie sind eine mögliche Zielgruppe“, meint Neumann.

Inzwischen können jedoch nicht nur Aachener den Insektenburger im Supermarkt kaufen. Der gesamte Rewe Süd – mehr als hundert Filialen – sind nachgezogen. Auch dort komme der Burger überdurchschnittlich gut an, berichten die Entwickler. Ganz ohne Werbung.

Dennoch mag sich nicht jeder an Insekten im Lebensmittelbereich gewöhnen. Besonders in sozialen Netzwerken häuft sich auch Kritik. „Es ist für unsere Breitengrade nicht typisch“, war mehrfach zu lesen. Michael Reinartz lässt sich davon nicht beeindrucken. „Was ist denn typisch? Blutwurst?“, fragt er und runzelt die Stirn. „Wohl eher nicht.“ Schließlich zähle das vor allem bei den jüngeren Leuten keineswegs zu den Lieblingsspeisen. Der Erfolg gibt dem Rewe-Betreiber Recht.

Bislang seien es vor allem jüngere Leute, die den Insektenburger probieren, erklärt Reinartz. Selbst der Filialleiter sieht überrascht aus, als eine ältere Dame anstandslos auf die Probestückchen zusteuert. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt gewusst, was genau dort ausliegt, dann wäre sie wie viele ihrer Vorgänger an den Würfelchen vorbeigehuscht, wird sie später zugeben. Doch sie probiert – unwissend. „Ich dachte, das sei Schokolade“, lacht sie und bemerkt selbst: „Das war es wohl nicht“. Dass es stattdessen Insekten waren? „Schmeckt man nicht“, sagt sie. Denn der Insektenburger schmeckt überraschend. Überraschend normal. Nussig und saftig.

 

 

 

Menschenhilfe Hautnah und aus erster Hand

06. September 2018 | von

Ina Thomas: Eine Führung durch das Caritas-Werk in Imgenbroich

Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 im Kurs Journalistisches Schreiben

veröffentlicht in der Zeitung Ausgabe Nordeifel


Eine Führung durch das Caritas-Werk in Imgenbroich

Von Ina Thomas.

Till sitzt hinter einer Glasscheibe am Empfangstresen. Sobald jemand die „Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH (kurz: CBW)“ in Imgenbroich betritt ist Till zur Stelle: Alle Anrufer von auswärts kommen zunächst bei ihm an, er leitet diese dann in Absprache mit seinen Kollegen weiter. Genauso bei einer wichtigen Bekanntgabe, wie zum Beispiel, wenn der Fußballkurs ausfällt: Till hält die Taste auf dem Telefon und spricht die Durchsage. Der seh- und gehbehinderte junge Mann ist bereits seit 2005 im Werk in Imgenbroich. Der Empfangstresen ist sein absoluter Lieblingsarbeitsplatz.

Von hier aus übernimmt Christina Borg, Sozialarbeiterin der CBW, die Führung durch das Werk. Sie hat Soziale Arbeit studiert und arbeitet seit 2014 in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung.
In der Städteregion Aachen gibt es insgesamt sechs Standorte der Caritas GmbH, dabei sind unter anderem Wäschereien, Schreinereien, Nähereien und Druckereien. Das Werk in Imgenbroich hingegen besteht hauptsächlich zur Metallverarbeitung. Dazu gehört neben dem heilpädagogischen Arbeitsbereich, die „Metallwerkstatt“, in der wie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gearbeitet wird, die „Stanz-/Montage-Abteilung“ und den Arbeitsbereich der „Montage und Verpackung“. Hier arbeiten vor allem Menschen, die schwer eingeschränkt sind oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Auch Till und Juliane waren zuerst hier.

Wenn man durch die Sicherheitstüren und die große Lagerhalle geht, vorbei an der Glasfaserwolle und den Spanplatten, sitzt Juliane an einem Tisch im Büro. Sie wollte nach dem Schulabschluss eigentlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, doch das hat nicht funktioniert. Daraufhin kam sie zur CBW und nimmt jetzt am Berufsbildungsprogramm teil. Mittlerweile hat sie sich in Imgenbroich gut eingefunden und viele Freunde in der Werkstatt, aber trotzdem ist das für sie nicht von Dauer: „Ich gehöre hier eigentlich nicht hin“, sagt sie, und bindet sich dabei den Zopf neu. Juliane hat zahlreiche Praktika absolviert, z.B. in der Jugendherberge „Hargard“ oder im Einzelhandel bei „Takko Fashion“. Das will sie weiterverfolgen: Die Simmeratherin hat nur eine geringe geistige Einschränkung und hofft, dass sie nach ihrer Ausbildung auf den Arbeitsmarkt vermittelt werden kann. Darauf wird sie hier vorbereitet.

Der Berufsbildungsbereich (kurz: BBB) gleicht einer Ausbildung, die Menschen mit Behinderung bei der CBW absolvieren können. Jeden Mittwoch ist Schule, ansonsten sind sie in der Werkstatt. Insgesamt dauert das Programm 27 Monate und hat das Ziel, die Beschäftigten in mindestens drei Bereiche einzuarbeiten. Oft ist es jedoch schwer, sie in verschiedenen Abteilungen unterzubringen, wenn sich die BBBs einen gewissen Bereich ausgeguckt haben. „Dann müssen wir ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten, aber meistens funktioniert das auch gut.“ so Dana Bouamoud, Begleiterin des Berufsbildungsprojekts.

Heilpädagogischer Arbeitsbereich

Es klingeIt. Pause. Einige Beschäftigte laufen zum heilpädagogischen Arbeitsbereich (kurz: HPA): „Wenn sie ein bisschen Zeit haben, rennen viele aus der Werkstatt rüber und spielen ein bisschen mit den Leuten aus dem HPA.“, erzählt Borg. Im Gegensatz zur Werkstatt arbeiten hier vor allem schwerst-mehrfach behinderte Menschen. Jeder muss also ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Arbeit leisten, so verlangt es die Gesetzgebung in NRW. Natürlich ließe sich das ziemlich frei definieren, da die Menschen zwar gefördert aber nicht gedrängt werden sollen. „Sie machen nur das, was für sie tragbar ist. Das kann also auch heißen, dass ihre Aufgabe ist, pro Tag ein Blatt Papier zu schreddern“, erklärt die 29-jährige Sozialarbeiterin.

Dietmar ist ein Mitarbeiter der Stanz- und Montageabteilung. Im Gegensatz zu Juliane hat der geistig-behinderte Mann früher auf dem ersten Arbeitsmarkt gearbeitet. Jahrelang hat er in einer Kneipe in Roetgen hinter der Theke gestanden. Vor sechs Jahren kam er dann in die Werkstatt in Imgenbroich. Hier arbeitet er an den unterschiedlichsten Maschinen in der Halle. Daran kleben überall Bilder und Zeichen, die den Arbeitsablauf erklären. Es sind also ganz normale Industriegeräte, nur eben etwas bedienerfreundlicher. „Ja klar, hier ist der Umgang mit den Kollegen und dem Stress einfach viel besser, als bei meinem alten Arbeitsplatz“, antwortet er auf die Frage, ob er im Werk Imgenbroich bleiben möchte.

Geringe, aber erfolgreiche Weitervermittlung

Eigentlich ist ein Ziel der Betriebs- und Werkstätten GmbH jedoch, geeignete Beschäftigte auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Im Jahr 2017 sei dies bei 8 von etwa 1200 Beschäftigten gelungen, so Christina Borg. Auch wenn das sich nach wenig anhöre, sei das völlig normal: „Viele der Mitarbeiter mit Behinderung wollen gar nicht woanders arbeiten, weil sie hier eine Sicherheit haben, die man bei keinem anderen Arbeitsplatz hat.“

Einer der Betreuer ist Timo Steffens. Er war zuvor, genau wie die anderen Betreuer, Handwerker. Die Zusatzqualifikation für die Arbeit mit Behinderten kam erst dazu, nachdem er bei der CBW seinen Zivildienst leistete. Der Unterschied zwischen einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen und einem anderen handwerklichen Betrieb sei für ihn vor allem das Soziale: Man sei oft Ansprechpartner für persönliche Probleme, was in anderen Betrieben eher selten vorkommt. „Da könnte ich auch sagen: ‚Interessiert mich nicht, wir sind hier auf der Arbeit.‘ Aber das macht man natürlich nicht“, betont Steffens.

Im Gegensatz zu reinen Betreuungseinrichtungen hat hier auch die wirtschaftliche Leistung einen hohen Stellenwert. Es werden also genauso Aufträge erfüllt, wie überall: In der einen Halle stehen große Körbe mit bunten Plastikbällen, welche die Mitarbeiter für den Hersteller aufpumpen. Auch Kleinteile für die Autoindustrie, wie Teile von Tankverschlüssen, werden hier zusammengesetzt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes, in einer anderen Halle, ist es definitiv lauter. An den verschiedensten Geräten stehen Arbeiter mit Schutzbrillen und -Handschuhen. Hier werden Teile für Bettgestelle in LKWs aus Aluminium ausgesägt. Wenn also nachts die LKW-Fahrerkabine zu einem Schlafplatz wird, die Fahrer das Bett aus der Wand klappen, wurde dieses vielleicht von in der Werkstatt in Imgenbroich gefertigt.

Veränderung in der Form der Behinderung

In den letzten Jahren hat sich an den Beschäftigten einiges verändert: Die „klassisch geistig Behinderten“ wie u.a. Menschen mit Down-Syndrom gibt es heute kaum noch – vielleicht, weil man mittlerweile viele Krankheiten vor der Geburt feststellen könne. Die Eltern entschieden sich dann oft gegen das Kind, vermutet Dana Bouamoud. Das hieße aber nicht, dass die Zahl der Menschen mit Behinderung grundsätzlich sinkt, nur die Art der Behinderung tue dies: Viele sozial-verhaltensauffällige Menschen arbeiten heute bei der CBW. In ihrer Kindheit galten diese als „schwer erziehbar“, doch durch die mangelnde Förderung werden die Defizite immer größer. Das wirke sich auch auf die Gruppen aus, denn man müsse oft besonders stark auf die Leute eingehen, so dass sich die anderen manchmal benachteiligt fühlen. Schade daran sei, dass sie grundsätzlich kognitiv fitter als manche andere seien, sich das aber durch ihre Null-Bock-Einstellung und ihre Aggressivität kaputt machen.

Tills absolute Leidenschaft ist die Musik. In seiner Freizeit geht er gerne auf alle möglichen Konzerte oder macht selbst Musik. „Am besten ist es natürlich, wenn meine Begleitperson auch Fan der Band oder des Sängers ist, dann macht’s am meisten Spaß.“, betont er und wippt dabei auf seinem Stuhl.  Auch während der Arbeitszeiten bietet die CBW GmbH Freizeitaktivitäten für alle Mitarbeiter an: Der große Außenbereich mit viel Grün, freier Fläche und Sitzgelegenheiten ist wie gemacht für Sportkurse. Auch Computerkurse und Schreibkurse kann man belegen. In der Kantine gibt es einmal täglich warmes Essen für Jeden. Dadurch ist die Werkstatt in Imgenbroich für Menschen mit Behinderung viel mehr, als nur ein Arbeitsplatz.