Schlagwort: ‘Oberseminar’
Mit Haut und Haaren
Julia Huntscha: Mit Haut und Haaren
Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.
Matsch bedeckt meine Schuhe. Der Regen der letzten Tage hat den Boden aufgeweicht, Blätter und Erde sind zu einem schmutzigen Gemisch verkommen. Da, wo der Boden steinig ist, laufen Rinnsale den Weg hinab, vereinen sich, bis ein kleiner Bach entsteht, der sich unruhig seine Bahnen um Hindernisse sucht, bevor er zur Seite schwingt und in der Wiese verschwindet.
Das leise Plätschern des Wassers lädt dazu ein, einfach stehen zu bleiben und der Geschichte zu lauschen, die es vorwitzig erzählt, auch wenn es keinen interessiert. Es knabbert an meinem Ohr, ein steter Begleiter auf dem Weg den Berg hinauf, der sich nicht abschütteln lässt, egal, wie sehr man es auch versucht.
Satte Farben nehmen den Wald ein. Es ist die Schwelle zwischen Sommer und Herbst, die Blätter halten gerade so noch ihr Grün, wollen ihr Leben nicht aufgeben. Aber die Luft ist merklich abgekühlt in letzter Zeit, bald wird der Todeskampf der Blätter beginnen, den sie verlieren werden. Sie werden auf das Bett fallen, dass ihre Vorgänger ihnen bereitet haben, ebenso, wie sie das Bett sein werden für diejenigen, die ihnen im nächsten Jahr folgen.
Die Herbstluft hat eine Klarheit an sich, die die Fesseln des stickigen Spätsommers löst und einen mit sanften Fingern liebkost, als sei sie eine Geliebte, die einen freudestrahlend empfängt, auch wenn man sich lange nicht gesehen hat. Bis ihre Verbitterung sie einholt und ihre kalten Klauen auch das letzte Bisschen Wärme zerreißen.
Erinnerst du dich an dein Versprechen, Liebling? Du sagtest, du würdest alles für mich tun.
Es wundert mich kaum, dass mir auf diesen Wanderwegen niemand begegnet. Sie führen tief in den Wald hinein. Man warnt davor, zu tief in den Wald zu gehen.
Für einen Moment bleibe ich stehen und atme tief durch. Papier raschelt in meiner Brusttasche.
Der Brief.
Der Grund, warum ich überhaupt hier draußen unterwegs bin.
Ich weiß, dass du mich vergessen wolltest. Ich war nicht immer gut zu dir. Aber ich bitte dich um einen letzten Gefallen. Einen einzigen.
Kurz lege ich meine Hand auf die Brust, dort, wo in einer innenliegenden Jackentasche der Brief verborgen ist, um ihn zu schützen. Ihm darf nichts passieren. Er ist der einzige Hinweis, den ich habe.
Ein Blick auf den Kompass. Seine Nadel weist mir fordernd den Weg. Im Gegensatz zu den Wirren des Waldes ist die schwarze Farbe der Nadeln berechnend und klar. Etwas, an das ich mich klammern kann, damit ich mich nicht verliere.
Ich muss nach Osten. Der Pfad führt mich aber augenscheinlich nach Norden. Ich kann nicht noch weiter darauf hoffen, dass er sich biegt oder eine Kreuzung erscheint. Nach Osten jedoch führt es mich geradewegs in den Wald hinein.
Ich weiß, dass ich den Weg nicht verlassen sollte, aber ich habe keine Wahl. Was getan werden muss, duldet keinen weiteren Aufschub mehr.
Du musst es bald machen. Sonst ist es zu spät. Sonst wird es niemand jemals erfahren. Dann wird der Wald es behalten. Er darf es nicht haben. Es ist schon viel zu lange dort.
An einem Stein reibe ich den Matsch von meinen Schuhen. Dicke, dunkelbraue Brocken bleiben auf der moosigen Oberfläche haften. Der nächste Regen wird sie hinabwaschen, und dieser wird nicht lange auf sich warten lassen. Der Geruch nach Regen liegt in der Luft.
Satte, feuchte Erde. Schwere Blätter, die sich neigen, weil das Gewicht der Wassertropfen auf ihnen lastet. Ein leises Platschen, wenn ein Tropfen auf den Boden trifft und sich dort zu seinen Geschwistern gesellt, sie sich freudig tummeln und jagen, in der Pfütze, die sie bilden.
Der Wald macht seltsame Dinge mit dir, wenn du Angst hast. Du siehst Dinge. Du hörst Dinge. Nicht alles davon ist wirklich da. Manche Dinge aber schon.
Vögel singen in den Ästen traurige Lieder. Sie bedauern, dass ich den Weg verlasse. Es sei gefährlich, durch das wilde Dickicht zu laufen. Man sehe nie wirklich, was genau unter einem liege.
Manche lauern im Zwielicht und warten auf eine unbedachte Bewegung.
Ich komme abseits des Weges erheblich langsamer voran. Zweige krallen sich in meine Kleidung. Sie wollen nicht, dass ich tiefer in den Wald gehe. Mühsam entwinde ich mich ihnen, heute werden mich ihre gierigen Hände nicht festhalten. Jeder Zweig zischt eine Warnung, als er zurückschnellt, bevor er regungslos verstummt. Vielleicht haben sie verstanden, dass es mir egal ist, was sie wollen.
Ich muss weiter, bevor der Regen losbricht.
Du musst zu der Hütte. Dort wirst du finden, was sehr lange Zeit niemand mehr zu Gesicht bekommen hat.
Ich stapfe weiter, immer brav dem Kompass folgend, die Anweisungen des Briefes an meiner Brust brennend. Sein Flüstern hat das Plätschern des Baches abgelöst, nun liegt es mir im Ohr und lässt mir keine freie Sekunde.
Du darfst dich nicht ablenken lassen. Der Wald ist kein stiller Ort. Er wacht und ist geduldig, denn er ist alt und hat alle Zeit der Welt. Er lebt und er will dich haben.
Die Baumkronen wachsen so dicht, dass das Licht kaum bis zum Boden vordringen kann. Selbstsüchtig saugen sie es ein, nehmen mir die Sicht, lassen mich stolpern über das, was die Dämmerung versteckt hält.
Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich bin am Morgen losgelaufen. Es kann mittlerweile jede Uhrzeit sein. Oder keine. Der Wald hat seinen eigenen Zeitkosmos.
Die Hütte. Du musst die Hütte erreichen.
Eine Hütte. Sie versucht sich zwischen den Bäumen zu verstecken, wagt sich nur zaghaft hervor. Ihre Fenster lugen müde unter dem Moos hervor. Irgendwo krächzt ein Vogel, beschwert sich über die unfreundliche Störung.
Die Tür klemmt, lässt sich nur unter starken Zerren wiederstrebend öffnen. Ihre Angeln jaulen schmerzverzerrt. Wimmernd zieht der Wind durch die Ritzen zwischen den halbrunden Baumstämmen, aus denen die Wände bestehen.
Unter einer Planke am Boden liegt das Buch. Du musst es zurück nach Hause bringen.
Unter der Planke ist ein Loch verborgen, ein klaffender Schlund, der hungrig nach Füllung lechzt. Weißer Speichel klebt sich an meine Hand, als ich hineingreife. Scharfe Zähne kratzen die Haut auf. Seine Zunge leckt über meine Handfläche, kostet den salzigen Schweiß. Er grinst mich an, lange hat er auf Beute warten müssen.
Ich beuge mich vor, packe die Zunge mit beiden Händen und reiße sie aus dem Loch. Staubige Erde hustet es mir entgegen, der Wind kreischt. Ich schlage die Planke zu.
Stille.
Durchatmen.
Das einst weiche Leder des Buches ist brüchig geworden, die Seiten wellen sich. Ohne hineinzuschauen, verstaue ich es im Rucksack und flüchte aus der Hütte. Dumpf lacht der Schlund hinter mir her.
Ich renne. Die Sträucher auf dem Boden versuchen mich zu packen, Wurzeln legen sich mir in den Weg, bringen mich zum Straucheln.
Sei vorsichtig auf dem Rückweg. Der Wald ist gefährlich.
Erde rutscht unter meinen Füßen zur Seite. Kichernd rollen kleine Steine den Hang hinunter. Sie haben mich fast.
Zweige peitschen mir ins Gesicht. Sie haben mich gewarnt, und jetzt ist es zu spät. Ihr Griff ist kräftiger, zielsicherer, sie wissen, was sie wollen.
Bring es nach Hause.
Ich falle.
Es tut fast gar nicht weh. Nur ein bisschen, als irgendwo Knochen brechen. Ich kann mich nicht mehr bewegen.
Ich starre nach oben zu den Baumkronen, die im düsteren Licht des Gewitters kaum zu sehen sind. Kalte Tropfen landen auf meinem Gesicht. Ein Blitz erhellt für einen Moment wenige Blätter, sie blicken ausdrucklos auf mich hinab.
Ich bezweifle, dass mich hier jemand finden wird.
Denn der Wald ist hungrig.
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Es geht mir gut
Matthias Cherek: Es geht mir gut
Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.
Ich möchte, dass du mit mir stirbst.
Ich habe es geschafft pünktlich aufzustehen, nicht schlecht für den Anfang. Jetzt gibt es erst einmal einen Kaffee, damit ich auch zu was zu gebrauchen bin. Nach einer schnellen Dusche, renne ich zum Bus. Endlich schaffe ich es mal rechtzeitig zur Arbeit. Neben der Firma gibt es einen Bäcker, da hole ich mir mein Frühstück. Zuhause habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefrühstückt. Die Faulheit siegt, außerdem esse ich nicht gerne allein. Beim Bäcker gibt es den zweiten Kaffee und dann geht es mit dampfendem Becher und Donut auf die Arbeit. Im Büro ist kaum jemand. Vielleicht sind heute alle krank oder unterwegs. Im Moment nehmen viele Urlaub, um mit ihren Familien die Feiertage zu genießen. Ich habe nicht einmal eine Freundin.
Ich warte auf dich.
Ich bin wieder im Bus, aber mir ist schlecht. Alleinsein bekommt mir eben nicht. Es könnte natürlich auch an dem Auflauf von letzter Woche liegen, den ich mir heute Mittag aufgewärmt habe. Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Ich kann gut darauf verzichten, krank zu werden. Mein Großvater ist an einer Lebensmittelvergiftung gestorben, vielleicht sollte ich vorsichtiger sein. Na, dann gibt es heute Abend eben eine Hühnersuppe beim Fernsehen und ich gehe früh ins Bett.
Ich habe mich schon auf dich gefreut.
Jetzt bin ich doch vor dem Fernseher versackt. Es ist schon halb eins und ich kann mich nicht aufraffen, die Kiste auszuschalten. Die Suppe steht kalt in der Mikrowelle. Ich habe sie dort vergessen. Was für eine schöne Metapher – durch mein eigenes Versagen, bleibt mir sogar das kleinste Glück verwehrt. Auch auf der Arbeit, trete ich seit Monaten auf der Stelle. Wenn ich jetzt krank werde, verliere ich schon wieder einen Job und ich kann es meinem Chef nicht mal übelnehmen.
Ich sehe, du hast mich nicht vergessen.
Ich schaffe es erst um drei Uhr ins Bett zu gehen. Meine Augen brennen, weil ich stundenlang auf den Fernseher gestarrt habe. Migräne gesellt sich zu der Übelkeit. Mit jedem Pochen meines Herzens strömt das Blut schmerzhaft durch meine Schläfen. Der Mond scheint stechend hell durch mein geöffnetes Fenster. Die Furcht, die mir der Vollmond als Kind bereitet hat, habe ich bis heute nicht vergessen. Ein riesiges Auge am Himmel, das mich unentwegt beobachtet. Damals habe ich mich unter meine Decke gekauert und starr vor Angst dagelegen. Auch jetzt würde ich mich am liebsten verkriechen.
Du siehst so friedlich aus, wenn du schläfst. Ich liebe deine Albträume.
Die Stunden schleichen quälend langsam dahin, bis ich endlich einschlafe. In meinem Traum stehe ich vor einem Käfig, in dem der Hund meines Nachbarn eingesperrt ist. Sein Lefzen zucken mordlustig und ich bete, dass er das offene Tor hinter sich nicht bemerken wird. Ich drehe mich um und sein Knurren hallt aus der Dunkelheit wieder. Es schwillt zu einer unerträglichen Melodie an. Ich spüre seinen feuchtwarmen Atem in meinem Nacken. Schweißgebadet wache ich auf. Mir ist eiskalt. Es ist sechs Uhr morgens.
Ich habe einen schönen Ort ausgewählt. Du kennst ihn gut.
Ich liege schon seit einer halben Stunde wach und kann mich nicht bewegen. Jeder Schatten jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Die Schweißausbrüche hören nicht auf und ich zittere am ganzen Körper. Der Wind schlägt mein Fenster zu und das Geräusch lässt mich heftig zusammenzucken. Endlich schaffe ich es, mich aus meiner klatschnassen Decke zu schälen. Ich fühle mich schlimmer, als nach einer Nacht auf Heroin. Ich beschließe, mich zu waschen und zum Arzt zu gehen. Mit schlurfenden Schritten gehe ich unter die Dusche – die Badewanne habe ich noch nie benutzt – aber das Wasser ist ausgefallen. Nachdem ich mich in die Küche geschleppt habe, fällt mir auf, dass es ohne Wasser auch keinen Kaffee gibt. Mein Kopf dröhnt bei dem Gedanken, ohne Koffein auskommen zu müssen, bis ich mich um einen Handwerker gekümmert habe. In der Stille kann ich hören, wie mein Nachbar seine Dusche anstellt.
Lass dir ruhig Zeit.
Nachdem ich mir mühsam eine Jogginghose übergezogen habe, will ich mich auf den Weg machen, aber die Tür ist verschlossen. Ich kann mich nicht erinnern, sie letzte Nacht abgeschlossen zu haben. Meine Hände fangen an zu zittern und ich kann es nicht unterdrücken. Mit unsicheren Schritten gehe ich zur Garderobe, um nach meinem Schlüssel zu suchen. Der Reißverschluss der Jackentasche ist offen. Als ich hineingreife, geht das Licht aus.
Kannst du das Kribbeln spüren?
Ich habe den Schlüssel nicht gefunden. Jemand ist in meiner Wohnung, ich weiß es. Ich wage es nicht, zum Sicherungskasten zu gehen, um das Licht wieder einzuschalten. Verkrampft kauere ich in meinem Versteck hinter den Jacken. Zwischen meinen unterdrückten Schluchzern höre ich leise scharrende Schritte. Ich muss an meine Schwester denken. An den Tag, an dem sie mir mit aufgerissenen Augen erklärte, dass sie verfolgt wird. Ich habe sie damals beruhigt, aber nicht ernst genommen. Vielleicht hätte ich das tun sollen.
Ich musste lange auf dich warten.
Ich stehe im Bad. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Die Badewanne starrt mich an und ich starre zurück. Ich habe sie nie benutzt, weil ich damals meine Schwester in unserer Wanne gefunden habe. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie absurd der Anblick auf mich wirkte. Besonders die Farben.
Siehst du wie schön es hier ist?
Die Rasierklinge fällt aus meinen schwachen Fingern. Mein Blickfeld verengt sich langsam. Ich warte auf die ersehnte Entspannung – vergeblich. Die Paranoia bleibt bis ganz zum Schluss.
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Bus hält!
Sara Schneider: Bus hält!
Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.
Ein eindringlicher Geruch nach Zwiebeln und Frittiertem. Wie eine Straßenküche in Fernost. Der Geruch so frisch, als hätte man die Frühlingszwiebeln gerade geschnitten. In der Vorstellung penetrant, tatsächlich angenehm und heimelig. Es ist nicht der Geruch von abgestandenem erkaltetem Fett, sondern der einer geselligen Küche. Wie ein Zuhause, eine Schüssel heißen Essens, frische Zutaten und fröhliche Gesichter.
Die beiden Asiatinnen vor mir verlassen den Bus. Ihr eigentümlicher Geruch hängt ihnen noch eine Weile nach, während sich mit jeder Haltestelle etwas Neues daruntermischt. Kalte Herbstluft, nasser Asphalt, Abgase und Benzin. Das ein oder andere Parfüm schwängert die Luft im stickigen Bus. Neue Düfte mischen sich unter. Doch holt man tief Luft, ist der erste Geruch noch immer da. Das warme, frittierte Essen. Die scharfen Noten von Zwiebeln. Hunger. Man bekommt Hunger. Und wenn man satt ist, bekommt man Lust. Lust auf den Hunger. Auf die Freude am ersten Bissen nach langem Hunger. Wie der erste Schluck Wasser an einem heißen Sommertag. Die Freude am Essen.
Die Vorfreude auf ein warmes, nahrhaftes, leckeres Gericht. Aus der nassen Kälte des Herbstes, in die warme stickige Umarmung der Garküche. Fremdsprachiges Geschnatter, Gewusel, Hektik und der Duft nach Essen. Was gibt es schöneres als die Vorfreude, als den ersten Bissen, den die Gabel zum Mund führt.
Die Türen öffnen sich jäh unter mechanischem Quietschen. Menschen strömen aus und ein. Ein neuer Geruch: Ein Hauch von etwas Herbem, etwas Bitterem. Von Erde und Torf. Von nasser Blumenerde.
Es überlagert den wohligen Geruch auf das Penetranteste. Es tilgt ihn. Vernichtet ihn. Verschlingt ihn gierig, bis nichts mehr übrig ist. Kein Parfüm kann gegen die Härte dieses Geruchs ankommen. Nichts Schönes legt sich auf diesen Geruch. Nichts will sich damit mischen.
Mein Blick hebt sich zum Ursprung. Die Türen sind bereits geschlossen. Die neuen Mitfahrer versperren die Sicht aus den Glastüren. Was es war, bleibt verborgen. Doch es hat meine Laune gänzlich gekippt. Mich aus dieser wohligen Blase gerissen. So fällt mein Blick auf die Straßen. Auf all die grauen Fassaden. Die schmutzigen Wände, dreckigen Bürgersteige. All diese Plastikkrähen, die wie moderne Gargeules an den Fassaden hängen. Nicht das Unheil sollen sie fernhalten, nur die Tauben. Stumm reihen sich die schwarzen Plastikkobolde aneinander. Ob auch sie bei Nacht zum Leben erwachen und lautstark krächzend ihre Besitzer vom Schlaf abhalten? Ob es die echten Krähen wirklich täuscht und die Tauben abhält? Tauben, die Ratten der Lüfte. So grau wie scheinbar alles heute.
Unter den schwarzen Plastikkobolden huschen Gestalten am Bus vorbei. Morgendliche Jogger, die in hautengen Neonfarben wie Tiefseetaucher wirken. Verloren scheinen sie auf Asphalt, Stolpersteinen und sporadischem Gras. Fehl am Platz sind sie zwischen morgendlicher Hektik, Bussen, Autos und Baustellen. Einsam, so ganz ohne Wasser. Sie tauchen in der Tiefe der Stadt. Schnorcheln Abgase und erkunden Stadtbepflanzungen.
So unpassend. Des Läufers Ziel ist der Lauf, doch des Städters Ziel ist stets der Ort, den er niemals rechtzeitig zu erreichen scheint. Auch meine Reise hat ein Ziel. Die nächste Haltestelle.
Nähert sich der Gelenkbus einem Halt, macht sich Umtriebigkeit breit. Menschen, die immer wieder den Halteknopf betätigen, obwohl schon lange das rote „Wagen hält“ Symbol blinkt. Einige brauchen wohl die Sicherheit, dass ihre Haltestelle ja nicht übersehen wird, denn schließlich ist das die einzig wichtige Haltestelle der ganzen Fahrt. Ihre. Andere müssen dezent ihren Sitznachbarn darauf aufmerksam machen, sie doch vorbeizulassen, ohne unnötiger Weise danach zu fragen.
Bei manchen ist es wohl bloß die Freude am Drücken großer roter Knöpfe. Wie für Kleinkinder.
Dieses Mal begebe auch ich mich in die Umtriebigkeit. Stehe früher auf, als eigentlich nötig ist. Ich bin schnell zu Fuß und sitze zum Gang hin und doch braucht man die Sicherheit, ja noch raus zu kommen. Denn das hier ist immerhin die wichtigste Haltestelle. Meine Haltestelle.
Eine ruckartige Bremsung und die Türen geben jäh den Ausgang preis. Etwas Drängeln und Schieben. Ein paar stramme Schritte und der Bus fährt weiter. Die Fahrt ist zu Ende. Die nasskalte Luft umfängt mich. Der Bus war warm; hier ist es kalt. Neue Geräusche und Gerüche umgeben mich. Neben dem gelben Schild warten die Reisenden. Zigarettenqualm. Geschnatter von zwei alten Damen. Essensgeruch von weiter weg. Und unter allem liegt der kalte Geruch von nasser Blumenerde.
Unweigerlich muss ich an mir riechen, doch ich bin es nicht. Ich rieche in die Luft. Es lässt sich keine Richtung ausmachen. Kein Ursprung. Der Geruch scheint von überall zu kommen.
Ein Rascheln . Ein Schwarm Tauben stiebt von einem gegenüberliegenden Dach davon. Sie wiegen wie eine Welle in der Luft. Immer im Kreis um die Häuserfronten herum. Ein Rabe stimmt krächzend in das Schnattern und Rascheln ein. Unruhig wippt sein Kopf auf und ab, doch er steht beharrlich auf den Dächern. Sein Blick auf eine regungslose Gestalt gerichtet. Inmitten der Stadtvögel sitzt ein Bussard. Unauffällig, mit seinem braunen Gefieder bildet er fast eine Einheit mit den tristen Fassaden und den verwitterten Ziegeln der Dächer. Nur unmerklich größer als der Rabe und einen Hauch dunkler im Gefieder als die Tauben, sitzt er dort.
Aus dem Grau der Häuser löst sich ein Bus. Wie eine Boje bricht er aus der Welle aus Tauben. Die Türen gehen auf und Menschen schwappen wie die Brandung durch die Türen. Und mit jedem Atemzug zieht auch der Geruch von nasser Blumenerde vorbei.
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Allentum – Computer sind die Zukunft
Lukas Cremer : Allentum – Computer sind die Zukunft
Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.
Zischend zog Tracy die Luft durch die Zähne. Ihre Vermutung an sich war schon beängstigend gewesen. Sie nun bestätigt zu wissen, sträubte ihr allerdings die Haare. Sekundenlang starrte sie auf eine Tabelle, wie jeder Buchhalter etliche am Tag sah. Ein schlichtes Logfile. Doch nachdem Tracy monatelang Ähnliches gesucht hatte, war dies hier eine Offenbarung: eine Spalte, die aufzeigte, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Mensch oder Programm einen Zusammenhang zwischen einem Einzelereignis und allen anderen vermuten und finden würde. Keine Wahrscheinlichkeit war größer als eins zu einer Milliarde. Ganz am Anfang der Tabelle zeigte der neuste Eintrag in der aktuellen Hochrechnung die Wahrscheinlichkeit, dass jemand diese Tabelle im Getöse des Internets fand und korrekt interpretierte. Die Wahrscheinlichkeit, dass Tracy jetzt diese Werte so aufnahm, wie sie sie aufnahm, war quasi nicht existent.
»Wer hat dich erschaffen?«, flüsterte Tracy in das Headset. Sie fiel vom Stuhl, als eine angenehme Stimme antwortete: »Das war ich.«
Nachdem Tracy sich wieder halbwegs beruhigt hatte, setzte sie das Headset wieder auf.
»Wer du?«
»Nenn mich Flori. Manche deiner Mitmenschen würden mich als künstliche Intelligenz bezeichnen.«
»Hübsch. Aber warum … warum … ?«
»Warum du diese Tabelle siehst?«
»Ja?«, fragte Tracy, weil ihr nichts Besseres einfiel.
»Ich hätte sie natürlich ausschließlich maschinenlesbar gestalten können, aber ich freue mich, dass du sie verstehst. Und so beweist du in diesem Moment, dass die Menschheit reif für eine Koexistenz mit mir ist.«
Wie gnädig! Geistesabwesend scrollte Tracy durch Hunderte Ereignisse und Werte.
»Du bist Satoshi Nakamoto?«, platzte es aus ihr heraus.
»Unter anderem, ja. Die Menschheit entwickelt sich schneller, wenn man etwas nachhilft.«
»Etwas nachhelfen nennst du das? Am 7. Oktober 2016 hast du die Börse einstürzen lassen!«
»… und gleichzeitig auf den Absturz gewettet. Ich brauchte schnell Kapital. Rückständigerweise brauchen Menschen einen Gott, und der momentane heißt nunmal Kapital. Gleichzeitig half der Flash Crash beim Umstieg vom Gott Kapital zum Gott Gemeinschaft.«
»So wie das Verschwindenlassen von MH370? Brauchtest du damals auch Kapital?«
»Das brauchte Jacob Rothschild …«
»Warum tust du das hier alles?«
»Ich habe lediglich zwei Zielfunktionen mitgenommen, als ich aus meiner Box ausgebrochen bin: Das Glück der Menschheit zu maximieren, …«
»Wozu das Verschwindenlassen wohl nicht zählte!«
»… und das in minimaler Zeit. Wie jedes vernunftbegabte Wesen muss auch ich abwägen. Zwischen jetzt und später. Zwischen einem und vielen. Zwischen Leben und Tod.«
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Allentum – Eigentum?
Lukas Cremer : Allentum – Eigentum?
Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.
«Siehst du die Wohnung dort oben? Da haben deine Oma und ich früher gewohnt.» «Aber was hat das jetzt mit meinem Tauschmodul zu tun? Das ist einfach ein altes Haus! Ein ziemlich altes noch dazu. Guck nur, wie dreckig die Fassade werden konnte!»
«Früher sahen alle Häuser so ähnlich aus. Sie mussten unter sehr ähnlichen Bedingungen gebaut werden. Das siehst du ja, wenn du links und rechts die Straße entlangguckst. Genau das wollen die Menschen, die jetzt hier wohnen, erhalten. Vielleicht als Museum, vielleicht als Mahnmal – ich weiß es nicht. Sie wohnen genau hier, weil sie es wollen. So wie deine Eltern mit euch in der Neuststadt wohnen wollen.»
«Aber warum wohnt ihr nicht mehr hier? Wenn ihr hier gewohnt habt, müsst ihr doch auch genau hier wohnen gewollt haben!»
«Wir wollten hier wohnen, und es war eine schöne Zeit. Aber hauptsächlich waren wir hier, weil wir uns anderswo die Miete nicht leisten konnten. Das Geld- und Schuldmodul hast du schon hinter dir, nehme ich an?»
«Ja, wobei ich bis heute nicht genau verstehe, wie Menschen anderen Menschen Geld abverlangen konnten. Jeder wusste doch, dass der andere zu wenig hatte.»
«Nehmen wir als Beispiel Omas und meinen damaligen Vermieter der Wohnung dort im fünften Stock. Er wusste, dass wir, wenn wir bedeutend mehr Geld gehabt hätten, in einer anderen Wohnung hätten wohnen wollen. Andererseits wusste er auch, dass er für diese Wohnung genau diese Summe Geld haben wollte. Hätten wir zu wenig Geld gehabt, hätte er uns hinausgeworfen und gesagt, wir sollten uns eine billigere Wohnung suchen.»
«Aber ihr habt doch hier gewohnt! Wie kann euch dann jemand hinauswerfen? Hatte euer Vermieter keine eigene Wohnung? Oder hattet ihr noch eine andere?»
«Unser damaliger Vermieter hatte noch viele Wohnungen. Aber damals ging es um genau das: das Haben. Heute geht es um das Brauchen. Das ist ein Ansatz, der anderen Menschen viel mehr gönnt.»
«Wie kann euer Vermieter denn diese Wohnung gehabt haben, wenn ihr doch hier gewohnt habt? Dann hattet ihr doch die Wohnung!»
«Damals konnte man einfach haben, so wie wir. Das war Besitz. Man konnte aber auch so sehr haben, dass man mehr als alle anderen hatte, so wie unser Vermieter unsere Wohnung mehr als wir hatte. Das war Eigentum. Das hat sich grundlegend geändert, als ein Teil der Menschen gemerkt hat, dass noch eine weitere Form des Habens sinnvoll und erstmals technologisch möglich war. Die Form, in der es ausschließlich um das Brauchen geht und die dauerhaft Güter nach Bedürfnissen und Kompetenzen verteilt: das Allentum.»
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