Archiv für September 2025
„Texte in Arbeit“, Release – Ein U-Boot in Berlin, Celine Lang
Die folgende Erzählung von Celine Lang ist entstanden im Kurs „Texte in Arbeit“. In verschiedenen Szenen erzählt sie das bewegte Leben von Gertrude Sandmann.
Gertrude Sandmann (1893–1981) war eine deutsche Künstlerin jüdischer Herkunft. Sie studierte zunächst im Verein der Berliner Künstlerinnen, später an der Berliner Akademie der Künste und spezialisierte sich auf Zeichnungen und Malerei. Im Jahr 1935 erhielt sie Berufsverbot. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung und ihrer lesbischen Identität wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt, überlebte aber in der Illegalität in Berlin. Nach 1945 engagierte sie sich für Frauenrechte und war Mitbegründerin der „L 74“ – einer Gruppe für ältere lesbische Frauen. Ihre Kunst thematisiert häufig weibliche Körper, Alter und Verletzlichkeit. Sandmann blieb künstlerisch aktiv bis zu ihrem Tod und gilt als wichtige Stimme der deutschen Nachkriegskunst.
Ein U-Boot in Berlin –
die Künstlerin Gertrude Sandmann
Als „U-Boot“ bezeichneten sich Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit durch Helfende – später als „Judenretter“ bekannt – versteckt wurden.
Im Toppkeller (1926)
Der Toppkeller und das Eldorado waren bekannte Treffpunkte queeren Lebens im Berlin der 1920er Jahre. Für Gertrude Sandmann war ihr Lesbisch-Sein ein Vorteil, besonders als Künstlerin. Sie beschrieb es sinngemäß als großes Glück, da sie dadurch weniger in die damals herrschende Rolle der Frau gedrängt und sie in ihrem persönlichen Wachstum und Arbeitsdrang nicht gebremst wurde.
Dichte Rauchschwaden ziehen durch den Vorraum. Einige Herren – gut betucht, wie es scheint – drehen sich nach ihr um. Trude nimmt wahr, wie die Männer-Augen über ihren Körper wandern, sie mustern. Ist es Interesse, Schaulust, Verlangen? All das kennt sie gut. Der Grund für ihr eigenes Erscheinen an diesem Abend liegt dem auch nicht fern. Eine der Empfangsdamen bläst ihr Zigarrenrauch direkt ins Gesicht. Die Frau ist deutlich älter als sie selbst und sieht dennoch reizend aus in den schwarz-grau gestreiften Pantalons und der dunklen Weste über dem weißen Hemd. Mehr als ein keckes Lächeln kann sie ihr allerdings nicht entlocken. Trude bahnt sich den Weg durch die Grüppchen, denen ein weiteres Vordringen verwehrt bleibt.
Diese Clubs haben etwas Besonderes – auch wenn sie nicht viel hermachen mit den billigen Lampions und den vom Tanzen abgewetzten Böden: ein Raum voller Frauen, ganz ungeziert und frei. Die pastellfarbenen Töne der Abendgarderobe einiger weniger tanzen bunt durch das übermächtige Schwarz der vielen. Perlenbesetzte Stirnbänder schimmern im gedimmten Licht, ziehen Trudes Aufmerksamkeit mal hierhin, mal dorthin.
„Trude!“, dringt es durch das Stimmengewirr zu ihr. Johnny!
Nervosität steigt unerwartet heftig in Trude auf. Mit ihren knallroten Mary Janes ist sie fast so groß wie Johnny, die sich durch das Menschengewimmel zu ihr hindurch gedrängt hat. Johnny trägt einen schlichten Anzug. Wie gern Trude sie doch malen würde. Ohne den lästigen Stoff.
„Ist sie schon hier? Hast du sie gesehen?“, fragt sie überschwänglich.
„Wie wäre es, wenn du erstmal deinen Mantel ablegst?“, entgegnet Johnny.
„Entschuldige, ich bin etwas aufgeregt.“
„Wer ist das heute Abend nicht?“
Eine Dame betritt die Bühne. Man hört die klackernden Schritte auf dem Parkett, jeden ein bisschen lauter, während das Stimmengewirr langsam verebbt, bis zur vollkommenen Abwesenheit eines jeden Geräusches. Endlich hat die Frau das Mikrofon erreicht.
„Meine verehrten Damen, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Anita heute Abend nicht auftreten wird. Ihre Verfassung verwehrt es ihr.“
Ein empörtes Raunen geht durch den Raum.
„Ich befürchte“, bemerkt eine hagere Frau nicht unweit von Trude, „dass sie selbst an ihrer Verfassung schuld ist. Entweder hat sie die Cognac-Vorräte dezimiert oder wieder einmal zu viel Mehl in der Nase.“
Ihre Begleiterinnen lachen – einige verhohlen, andere schrill. Trude ist enttäuscht. Als sie gehört hat, dass Anita Berber im Toppkeller auftreten sollte, was sich wie ein Lauffeuer unter den Lesbierinnen verbreitete, da hat sie einfach kommen müssen. Seit sie Anders als die anderen im Apollo gesehen hat, ist sie fasziniert von Berber.
„Mach dir nichts daraus“, sagt Johnny nah an ihrer Seite. „Wir haben bestimmt noch mal die Gelegenheit, sie zu sehen. Hier oder im Eldorado.“
„Wie recht du hast, meine Liebe.“
Trude dreht den Kopf und sieht Johnny direkt in die dunklen Augen. Sie lässt den Blick langsam über das Gesicht wandern: Vereinzelt zieren Sommersprossen die schmale Nase, der Bogen der Braue führt zu kleinen Falten um die Augenwinkel, die sich abzuzeichnen beginnen. Die Boten des künftigen Alters sind für Trude genauso schön wie die Spuren der Jugend.
„Johnny, bist du das?“, ruft jemand von fern. Johnny wendet ihr schönes Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und Trudes Streifzug endet abrupt.
„Eine Arbeitskollegin. Kannst du mich kurz entbehren?“
Trude nickt, ohne den Blick zu senken. Johnnys Hand gleitet aus der ihren, als sie sich aufmacht und unter den Damen verschwindet. Trude atmet kurz und tief ein, dann lange aus. Sie braucht dringend einen Absinth.
***
Zu spät (1939)
Sandmann musste als Jüdin die Repressalien des Nazi-Regimes ertragen. Sie erhielt bereits 1935 ein Berufsverbot und musste ihren Zweitnamen ändern, um ihre jüdische Abstammung deutlich zu machen. Sie war von der Ausgangssperre und dem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung am öffentlichen Leben betroffen. Die „Arisierung“ bezeichnete die nationalsozialistische Praxis, die jüdische Bevölkerung zu enteignen und sich deren Besitz und Betriebe anzueignen. Obwohl sie ein Visum für England erhielt, blieb sie in Berlin, um ihre kranke Mutter zu pflegen.
Sie verbieten ihr zu arbeiten, stehlen ihr den zweiten Namen und zwingen sie, einen fremden zu tragen: Sara statt Tusnelda. Jüdisch statt germanisch. Doch religiös lebt Trude schon lange nicht mehr, hat der Gemeinde den Rücken gekehrt. Auch wenn sie kein Nationalgefühl hat, einfach nur Mensch ist, so ist Berlin dennoch ihre Heimat. Aber jetzt zählt nur noch Geburt, nicht Zugehörigkeitsgefühl.
Sie blickt sich im Haus um. Die Backsteinmauern, die früher warm und robust erschienen sind, wirken jetzt kalt und brüchig. Dann seid ihr sicher, schreibt ihre Schwester Else in dem Brief, der vor Wut zerknittert auf dem Sekretär liegt.
Er ist schon einige Wochen alt und enthält die triumphierende Mitteilung, dass sie der Arisierung entkommen sind und die Überschreibung des Elternhauses auf ihre Schwester geglückt ist. Doch nur Trude wird hier sicher sein, zumindest vorerst.
Dabei könnte sie schon lange auf und davon sein. Sie hat an so vielen Orten gelebt: Berlin, München, Paris. Auch in Italien und in der Schweiz. Sie hätte jetzt schon in England sein können.
Sie muss sich dringend beruhigen! Ihre Zähne beginnen durch das Knirschen zu schmerzen, und ihr schlankes Gesicht verkrampft sich immer mehr. Es ist ihre Entscheidung gewesen zu bleiben. Das Visum auszuschlagen, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Außerdem glaubt sie nicht, dass sie wirklich hätte gehen können. Neu anfangen und für immer fort? Nein. Hier ist ihr Zuhause. Vor einem Monat hat der Krieg begonnen und nun ist es zu spät zu gehen. „Reiß dich zusammen“, ermahnt sie sich selbst.
Sie geht hinüber zum Sekretär, glättet Elses Brief mit der Linken auf der leicht schrägen Holzplatte und nimmt Platz. Sie kann die Antwort nicht länger hinauszögern, zieht ein weißes Blatt aus der Schublade, setzt den Briefkopf auf und hält kurz inne. Trude versucht gar nicht erst, Else zu erklären, wie es ihr geht oder wie ihr Leben Stück für Stück gestohlen wird. Sie ist noch nie eine Frau vieler Worte gewesen, hat immer ihre Bilder sprechen lassen.
Mutter ist gestern Abend gestorben.
***
Flucht (1942)
Die Lage der jüdischen Bevölkerung spitzte sich weiter zu. Es gab immer mehr Deportationen; die Reaktion darauf war entweder Flucht oder Selbstmord. An eine legale Ausreise war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken.
Sie kommen. Ich weiß, dass sie kommen. Hastig nehme ich noch eine gefütterte Jacke aus der Kommode. Es ist schließlich Winter. Eine Jacke, die schon etwas aus der Mode ist, aber deren Verschwinden nicht auffallen wird. Ich darf nicht zu viel mitnehmen, sonst werden sie es nicht glauben. Dass ich meine Lebensmittelkarten nicht behalten kann, tut trotzdem weh. Ich spüre meinen Magen jetzt schon vor Leere krampfen.
Ich wende mich nicht noch einmal um, bevor ich die schwere Holztür hinter mir zuziehe. Ich muss es auch gar nicht: Viel zu gut kenne ich diese Mauern, die schon vor einiger Zeit aufgehört haben, mein Zuhause zu sein. Seit Mutter tot ist, sind sie abweisend und unbehaglich. Wo ich jetzt hingehe, wird es schlimmer sein.
Im Haus sieht es ordentlich, aber nicht zu ordentlich aus. Vor allem sieht es nicht nach Flucht aus. Ich kann nicht glauben, dass ich vor kaum einer Viertelstunde meinen Abschiedsbrief geschrieben habe. Ob sie ihn Else wirklich zukommen lassen werden? Wird sie glauben, dass ich es getan habe? Werden sie in der Spree nach mir suchen oder denken, ich sei einer der leblosen Körper in den Gassen von Kreuzberg?
Meine Hände zittern. Die Tränen, die beim Schreiben aus meinen Augen gequollen sind, lasse ich auf dem Papier zurück. Sie müssen es glauben. Meine Schrift ist krakelig und verschmiert, die Sätze sind kaum zusammenhängend. Ich wirke aufgebracht, verzweifelt, hoffnungslos. Und ich bin es auch. Kaum muss ich mich verstellen. Auch das letzte Bisschen haben sie mir entrissen. Onkel und Tante sind längst wer weiß wo oder sogar schon bei Mutter. Alles kriegen sie, die Nazis, aber mich kriegen sie nicht. Und auch nicht meine Bilder.
Ich will überleben, und wenn auch nur aus Trotz. Ich muss es nach Treptow schaffen. Draußen wende ich mich nach Osten.
***
Kammer (1944)
Durch die selbstlose Hilfe der Familie Grossmann, ihrer Lebenspartnerin Hedwig „Johnny“ Koslowski und ihrer Freundin Kitty Kuse war es möglich, Gertrude Sandmann über mehrere Jahre in Berlin zu verstecken. Durch das Rezitieren von Gedichten und mithilfe von Muskelübungen versuchte sie, sich geistig und körperlich fit zu halten.
Bald werd ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn
rezitiere ich Eichendorff.
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn
Johnny hat gesagt, dass sie nicht sicher weiß, wann sie das nächste Mal kommen kann.
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.
Das ist jetzt bestimmt schon eine Woche her, vielleicht sogar zehn Tage. Ich muss nachfragen. Frau Grossmann kommt später sicher in die Kammer. Mehr als das ist Sonjas winziges Kinderzimmer nämlich nicht. Ein wenig Brot wäre gut. Gestern hatte ich Brot.
Es fällt mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Falls Johnny etwas zugestoßen ist, würde ich es überhaupt erfahren? Aber daran darf ich nicht denken. Sie hat mir diesen Unterschlupf organisiert, sie kommt regelmäßig vorbei. Johnny lebt! Sie muss einfach leben. Wir alle müssen. Sie kommt bestimmt bald durch diese Tür und ich werde geblendet vom Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster fällt. So wie immer.
Schon lange habe ich nicht mehr aus dem Fenster gesehen. Es ist wohl Frühjahr. Im Frühjahr sind Johnny und ich einmal spazieren gegangen. An der Spree entlang. Eine Allee gesäumt von Linden hat uns vom Ufer weggeführt. Es war bitterkalt und ich habe meinen Mantel getragen. Und die Sonne schien an diesem Tag durch die noch jungen Triebe der Linden. Doch dann kann es gar nicht so kalt gewesen sein, wenn die neuen Blätter schon im Begriff waren zu sprießen. Nicht wichtig.
„Siehst du, wie schön das Licht hindurchfällt?“, habe ich Johnny gefragt und mit dem Finger nach oben gezeigt. Sie hat mich angelächelt. Kleine Grübchen, die schmale Oberlippe. Sie hat schön ausgesehen im strahlenden Licht. Wie gern hätte ich sie in diesem Moment geküsst. Es hätte kein überschwänglicher Kuss sein müssen. Ein kurzer, flüchtiger hätte genügt. Ein Kuss, der zum Ausdruck bringt, dass man einen Moment teilt. Da waren wir gerade erst liiert. Es muss 1927 gewesen sein. 17 Jahre ist das jetzt her, vielleicht sogar auf den Tag genau.
Johnny sieht, was ich sehe. Sie sieht die Schönheit im Unscheinbaren. Ein gutes Auge, nicht nur für die Kunst. Wie gerne würde ich zeichnen oder malen, aber das geht nicht. Ich hätte gerne meinen Beruf wieder. Wenn es jetzt Frühjahr ist, dann habe ich schon eineinhalb Jahre nicht mehr gezeichnet. So lange bin ich schon in diesem engen Zimmer.
Ich muss meine Übungen weitermachen. Ich bewege die Zehen, ziehe den Fuß hoch und strecke ihn wieder von mir, spanne meine Wanden an und lockere sie wieder. Immer erst links, dann rechts. Doch das ersetzt bestimmt nicht das Laufen. Wie weit ich wohl kommen würde, bis ich mich setzen müsste? Mir wird schwindelig. Diagonal lege ich mich in das quadratische Kinderzimmer. So muss ich die Beine nicht anwinkeln.
Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen …
Die Grossmanns nehmen meinetwegen so viel auf sich. Wenn ich entdeckt werde, sind wir alle tot. Wenn Johnny kommt, dann müssen wir reden. Vielleicht hat sie eine Idee, wo ich sonst noch unterkommen könnte. Vielleicht gibt es irgendwo etwas Unbewohntes, dann gefährde ich niemanden. Außer Johnny natürlich.
***
Gartenlaube (1944)
Da Gertrude Sandmann zunehmend Angst bekam, dass sie die Familie Grossmann gefährdete, floh sie in eine unbewohnte Gartenlaube. Als der Winter kam und es in der Laube zu kalt wurde, versteckte sie sich bis zum Kriegsende in der Wohnung ihrer Freundin Johnny.
Kurz und unregelmäßig tippeln die Regentropfen auf dem Dach. Zwischendurch platscht es ordentlich, wenn sich auf den Eichenblättern über der Laube kleine Lachen gebildet haben und das Laub das Gewicht nicht mehr halten kann. Allmählich nimmt der Regen ab.
Dann ein anderes, auch nicht unbekanntes Geräusch: gluckernde Fußstapfen im matschigen Rasen. Drückt man den Handballen in etwas zu feuchten Brotteig, macht es ein ähnliches Geräusch. Sie lauscht. Eine Person kommt näher, geht auf die Laube zu. Trude erhebt sich vom Boden, stellt sich hinter die Tür. Sollte sie aufschwingen, wird man sie nicht direkt entdecken.
Die Person hat es nicht eilig, sucht keinen Schutz vor dem Regen. Offenbar hat sie ein klares Ziel. Trudes Anspannung geht nicht weg.
Angekommen. Ohne vorheriges Klopfen öffnet sich die Tür langsam. „Trude?“, klingt es unsicher, leise. Die hohe Stimme mischt sich mit dem Klang der berstenden Tropfen.
„Ich bin hier.“
Die Augen, in die sie blickt, sind dunkel. Kein Lächeln. Johnny. Sie fragt nicht, warum Trude so schwer atmet. Sie fragt nicht, warum sie hinter der Tür steht. Sie weiß es.
„Ich werde nicht lange bleiben können. Nur, bis der Regen aufhört.“
Bis eben hat Trude noch Angst davor gehabt, zufällig von jemandem, der Schutz vor dem Regen sucht, entdeckt zu werden. Jetzt versteht sie: Der Regen ist eine gute Tarnung. Johnny kann ihn als Ausrede nutzen, falls jemand fragt, warum sie aus einer alten Laube kommt.
„Wie geht es dir?“
Es ist ihr unangenehm. Sie weiß, wie sie aussieht. Die spitzen Knochen, über die ihre Haut gespannt ist wie Leinen auf einen Keilrahmen, zeichnen sich unter dem zerlumpten Sommerkleid kantig ab. Trude verschränkt die Arme vor dem abgemagerten Körper. Nur noch 45 Kilogramm oder sogar weniger. Jedes Mal, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild in einer Glasscheibe entdeckt, wendet sie sich sofort ab. Sie könnte es Johnny nicht verübeln, wenn sie das Gleiche täte.
Johnny gibt acht, dass der Boden bei ihren Schritten nicht knarzt. Sie greift in ihre Weste. Eine gesalzene Kartoffel ist viel. Praktisch ein Festmahl. Und Trude merkt, wie vorsichtig Johnny ihr gegenüber ist. Als traue sie sich nicht, sie zu berühren. Als habe sie Angst, ihr wehzutun. Vielleicht findet sie sie sogar abstoßend, so zögerlich ist sie. Trude hasst es, berührt zu werden, wenn sie so aussieht. Wenn sich beide doch umarmen, dann fühlt es sich hart und förmlich an. Trude hasst es, sich bei dem Gedanken schuldig zu fühlen.
Sie löst ihren Krallengriff und nimmt die Kartoffel: „Das ist zu viel.“ Ihre Stimme kratzt beim Sprechen.
„Die Kartoffeln in der Ration waren diesmal groß. Mach dir keine Gedanken deswegen.“
Beide wissen sie, dass Johnny lügt, und Trude beginnt zu essen. Der Regen lässt schneller nach, als es ihnen lieb ist. An die Wand gelehnt rutschen sie allmählich näher aneinander, bis Johnny den Arm um sie legt. Nein, Trude hasst es doch nicht: das Gefühl, berührt zu werden. Sie hasst es, kein gemeinsames Leben nach ihrer Vorstellung führen zu können. Sie hasst es, nicht die Frau für Johnny sein zu können, die sie gerne sein will. Natürlich ist sie Johnny dankbar, aber immer nur verstecken, das ist doch kein Leben. Wenn der Krieg nur vorbei wäre! Trude weiß nicht, wie lange sie noch durchhalten kann.
***
Frei (1945)
Nach Kriegsende war Sandmann wieder künstlerisch tätig und wirkte an mehreren Ausstellungen mit. Sie schuf ein beeindruckendes Gesamtwerk an Gemälden und Zeichnungen. In sehr bescheidenen Verhältnissen lebte sie dennoch überwiegend von Entschädigungszahlungen, die ihr als Folge des Holocausts sowie der zur Zeit des Nationalsozialismus unmöglichen Berufsausübung zustanden.
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Nachhall (1967)
Während des Zweiten Weltkriegs begaben sich die Einwohner bei Bombenangriffen in den Luftschutzbunker. Die Türen zu ihren Wohnungen mussten offengelassen werden, damit der Luftschutzwart im Anschluss die Gebäude begutachten konnte, um Instabilitäten zu erkennen. Gertrude Sandmann wurde zweimal bei diesen Rundgängen entdeckt, aber durch Herrn Grossmanns Einfluss kam es nicht zu einer Meldung. Später wurde er selbst Luftschutzwart, um sie besser schützen zu können. Die Beziehung zu Johnny endete gegen 1956. Danach lernte Sandmann die Artistin Tamara Streck kennen und das Paar war bis zu Tamaras Tod liiert.
Die Kohle krächzt über das Papier. Der Kieferwinkel stimmt noch nicht ganz. Er müsste steiler sein. Das Mädchen ist kess gewesen, das muss sie einfangen. Dazu beigetragen haben bestimmt auch der Blick und die elegante Haltung, aber die Kessheit entstand vor allem durch den leicht geneigten Kopf mit der spitzwinkligen Kieferlinie – da ist sich Trude sicher. Sie dreht den Kohlestab zwischen Zeigefinger und Daumen, während ihr Blick über die rauen Fasern des Zeichenkartons schweift. Mit dem Mittelfinger der gleichen Hand wischt sie über die korrigierte Linie den Hals des frechen Mädchens hinab. Und dann immer wieder hin und her, bis die Fingerkuppe warm wird. Besser!
Ein Knarzen im Flur, das plötzlich ohrenbetäubend laut wird. Das Geräusch reißt ihr die Finger weg, und für einen Moment ist es absolut still. Nur das Rauschen in Trudes Ohren schwillt weiter an.
Die Bombe muss ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Ich kauere im Kinderzimmer, regungslos, nur der Brustkorb hebt und senkt sich. Die Sirene hat bereits Entwarnung gegeben. Da höre ich lautes Trampeln auf der Treppe. Ich springe auf. Aus der Tür hinaus vorbei an der kleinen Küchenzeile. Verstecken! Besser verstecken. In die Zimmer werden sie gucken. Ich sehe den klobigen Schreibtisch. Die linke Säule besteht aus Schubkästen, aber die rechte hat eine Tür. Frau Grossmann hat diese Seite ausgeräumt und alles, was darin war, anderweitig verstaut. Ich öffne die Schranktür und mache mich so klein, wie ich kann. Dann krieche ich hinein. Weil ich selbst immer weniger werde, habe ich von Mal zu Mal mehr Platz, wobei von Platz eigentlich keine Rede sein kann. Ich schließe die Tür so rasch und leise wie möglich.
Die Grossmanns sind bereits im Luftschutzbunker. Ein Privileg, das mir nicht zuteilwird. Da höre ich wieder ein lautes Knarzen, diesmal im Raum: Der Luftschutzwart macht den Kontrollgang. Findet er mich? Ich halte die Luft an, während er sich im Raum nach Schäden umsieht. Seine Schritte kommen langsam näher.
Trude klammert sich mit ihrer Linken so fest an die Staffelei, dass der Schmerz im Handballen sie wieder zu sich kommen lässt. Jemand ist an der Tür. Es ist nicht 1943, es ist 1967. Tamara ist an der Tür. Trude kann nun auch Stimmen neben dem Restrauschen vernehmen. Sie blickt von ihrer Hand hoch in das Gesicht der jungen Frau auf dem Papier.
Tamara klopft nicht an: „Liebes, der neue Nachbar von 87 hat sich eben vorgestellt. Er lädt nächste Woche zu einem kleinen Umtrunk ein.“
Tamara nimmt Trudes linke Hand von der Staffelei in ihre Rechte. Sie lächelt. Trudes Hand ist faltig und von kleinen Altersflecken gezeichnet, Tamaras hingegen ist noch glatt und frei von den Zeichen der Zeit. Sie lächelt zurück. Tamara weist mit dem Kinn zum Zeichenkarton: „Sie hat etwas an sich. Etwas Kühnes. Ich mag sie.“
Nach einem Kuss auf Trudes Schläfe drückt sie einmal sanft die Hand ihrer Liebsten, lässt sie los und geht aus dem Raum.
***
So weit (1981)
In den 1970er und 1980er Jahren erstarkten die Lesben- und Frauenbewegungen in Europa. Gertrude Sandmann war Gründungsmitglied der Gruppe „L 74“, die eine Gemeinschaft älterer lesbischer Frauen darstellte. Die Gruppe brachte unter anderem die UkZ – kurz für „Unsere kleine Zeitung“ – heraus, für die Sandmann Illustrationen anfertigte. Ihre Zeichnung „Liebende“ zierte mehrere Jahre die Titelseite. Nach langer Krankheit starb Sandmann am 6. Januar 1981 in Berlin.
Ich kann gehen. Keine Behandlungen mehr. Der Krebs wird gewinnen und das ist in Ordnung. Mein Körper hat so lange mitgemacht. Damals im Dritten Reich war ich aufgrund meiner miserablen Gesundheit nicht einmal in der Lage, Zwangsarbeit zu leisten. Trotzdem bin ich jetzt 87. Das hätte ich nicht gedacht. All das Hungern, all das Leid!
Auch meine Tamara musste schon gehen, obwohl sie so viel jünger war. Ihr Körper hat viel ertragen müssen, musste sich ständig verbiegen. Ich habe nie einen ihrer Auftritte gesehen, aber sie hat trotzdem immer die Eleganz der Akrobatin ausgestrahlt. Sie hatte Esprit. Auch noch, als wir uns kennengelernt haben.
Ich habe Glück gehabt. Ich habe wundervolle Menschen gekannt, die mich geliebt und beschützt haben. Die Grossmanns und Johnny. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass wir uns wiederfinden. Aber es ist zu viel passiert. Es war danach nicht mehr so wie vorher. Johnny war meine Retterin. Aber irgendwann musste ich nicht mehr gerettet werden. Da war ich frei und sie immer noch gefangen in ihrer alten Rolle. Ich nehme es ihr nicht übel. In mir haben auch so viele Gefühle getobt, dass meine Liebe darin einfach untergegangen ist. Vielleicht können wir uns beide vergeben. Vielleicht sehe ich Johnny ja wieder, wer weiß das schon.
Ich bin ein sogenanntes U-Boot: Während des Krieges bin ich jahrelang in Berlin untergetaucht. Ich habe den Nazis getrotzt. Überlebt. Danach habe ich weitergelebt und weiter geschaffen. Das ist viel.
Ich bin jetzt so weit …
Quellen und weiterführende Literatur
Anna Havemann: „Gertrude Sandmann. Künstlerin und Frauenrechtlerin“, 2., erweiterte Auflage, Hentrich & Hentrich 2011 (Jüdische Miniaturen, Band 2).
Marcella Schmidt: „Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950“, Frölich & Kaufmann 1984.
Weiterführende Links
Gertrude Sandmann (fembio.org)
sandmann_schoppmann_d.pdf (lesbengeschichte.org)
Gertrude Sandmann – Berlinische Galerie
Frauen im Widerstand: Biografie (frauen-im-widerstand-33-45.de)
Unter Einsatz ihres Lebens | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de)
Das verwendete Bildmaterial stammt aus:
Die Gedichtzeilen stammen aus Joseph von Eichendorff: „Abschied“ und Alfred Wolfenstein: „Städter“.
