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RWTH-Schreibzentrum

Kategorie: ‘Oberseminar’

„Texte in Arbeit“, Release – Ein U-Boot in Berlin, Celine Lang

18. September 2025 | von

Die folgende Erzählung von Celine Lang ist entstanden im Kurs „Texte in Arbeit“. In verschiedenen Szenen erzählt sie das bewegte Leben von Gertrude Sandmann.

Gertrude Sandmann (1893–1981) war eine deutsche Künstlerin jüdischer Herkunft. Sie studierte zunächst im Verein der Berliner Künstlerinnen, später an der Berliner Akademie der Künste und spezialisierte sich auf Zeichnungen und Malerei. Im Jahr 1935 erhielt sie Berufsverbot. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung und ihrer lesbischen Identität wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt, überlebte aber in der Illegalität in Berlin. Nach 1945 engagierte sie sich für Frauenrechte und war Mitbegründerin der „L 74“ – einer Gruppe für ältere lesbische Frauen. Ihre Kunst thematisiert häufig weibliche Körper, Alter und Verletzlichkeit. Sandmann blieb künstlerisch aktiv bis zu ihrem Tod und gilt als wichtige Stimme der deutschen Nachkriegskunst.

 

 

Ein U-Boot in Berlin –

die Künstlerin Gertrude Sandmann

Als „U-Boot“ bezeichneten sich Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit durch Helfende – später als „Judenretter“ bekannt – versteckt wurden.

 

Im Toppkeller (1926)

Der Toppkeller und das Eldorado waren bekannte Treffpunkte queeren Lebens im Berlin der 1920er Jahre. Für Gertrude Sandmann war ihr Lesbisch-Sein ein Vorteil, besonders als Künstlerin. Sie beschrieb es sinngemäß als großes Glück, da sie dadurch weniger in die damals herrschende Rolle der Frau gedrängt und sie in ihrem persönlichen Wachstum und Arbeitsdrang nicht gebremst wurde.

Dichte Rauchschwaden ziehen durch den Vorraum. Einige Herren – gut betucht, wie es scheint – drehen sich nach ihr um. Trude nimmt wahr, wie die Männer-Augen über ihren Körper wandern, sie mustern. Ist es Interesse, Schaulust, Verlangen? All das kennt sie gut. Der Grund für ihr eigenes Erscheinen an diesem Abend liegt dem auch nicht fern. Eine der Empfangsdamen bläst ihr Zigarrenrauch direkt ins Gesicht. Die Frau ist deutlich älter als sie selbst und sieht dennoch reizend aus in den schwarz-grau gestreiften Pantalons und der dunklen Weste über dem weißen Hemd. Mehr als ein keckes Lächeln kann sie ihr allerdings nicht entlocken. Trude bahnt sich den Weg durch die Grüppchen, denen ein weiteres Vordringen verwehrt bleibt.

Diese Clubs haben etwas Besonderes – auch wenn sie nicht viel hermachen mit den billigen Lampions und den vom Tanzen abgewetzten Böden: ein Raum voller Frauen, ganz ungeziert und frei. Die pastellfarbenen Töne der Abendgarderobe einiger weniger tanzen bunt durch das übermächtige Schwarz der vielen. Perlenbesetzte Stirnbänder schimmern im gedimmten Licht, ziehen Trudes Aufmerksamkeit mal hierhin, mal dorthin.

„Trude!“, dringt es durch das Stimmengewirr zu ihr. Johnny!

Nervosität steigt unerwartet heftig in Trude auf. Mit ihren knallroten Mary Janes ist sie fast so groß wie Johnny, die sich durch das Menschengewimmel zu ihr hindurch gedrängt hat. Johnny trägt einen schlichten Anzug. Wie gern Trude sie doch malen würde. Ohne den lästigen Stoff.

„Ist sie schon hier? Hast du sie gesehen?“, fragt sie überschwänglich.

„Wie wäre es, wenn du erstmal deinen Mantel ablegst?“, entgegnet Johnny.

„Entschuldige, ich bin etwas aufgeregt.“

„Wer ist das heute Abend nicht?“

Eine Dame betritt die Bühne. Man hört die klackernden Schritte auf dem Parkett, jeden ein bisschen lauter, während das Stimmengewirr langsam verebbt, bis zur vollkommenen Abwesenheit eines jeden Geräusches. Endlich hat die Frau das Mikrofon erreicht.

„Meine verehrten Damen, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Anita heute Abend nicht auftreten wird. Ihre Verfassung verwehrt es ihr.“

Ein empörtes Raunen geht durch den Raum.

„Ich befürchte“, bemerkt eine hagere Frau nicht unweit von Trude, „dass sie selbst an ihrer Verfassung schuld ist. Entweder hat sie die Cognac-Vorräte dezimiert oder wieder einmal zu viel Mehl in der Nase.“

Ihre Begleiterinnen lachen – einige verhohlen, andere schrill. Trude ist enttäuscht. Als sie gehört hat, dass Anita Berber im Toppkeller auftreten sollte, was sich wie ein Lauffeuer unter den Lesbierinnen verbreitete, da hat sie einfach kommen müssen. Seit sie Anders als die anderen im Apollo gesehen hat, ist sie fasziniert von Berber.

„Mach dir nichts daraus“, sagt Johnny nah an ihrer Seite. „Wir haben bestimmt noch mal die Gelegenheit, sie zu sehen. Hier oder im Eldorado.“

„Wie recht du hast, meine Liebe.“

Trude dreht den Kopf und sieht Johnny direkt in die dunklen Augen. Sie lässt den Blick langsam über das Gesicht wandern: Vereinzelt zieren Sommersprossen die schmale Nase, der Bogen der Braue führt zu kleinen Falten um die Augenwinkel, die sich abzuzeichnen beginnen. Die Boten des künftigen Alters sind für Trude genauso schön wie die Spuren der Jugend.

„Johnny, bist du das?“, ruft jemand von fern. Johnny wendet ihr schönes Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und Trudes Streifzug endet abrupt.

„Eine Arbeitskollegin. Kannst du mich kurz entbehren?“

Trude nickt, ohne den Blick zu senken. Johnnys Hand gleitet aus der ihren, als sie sich aufmacht und unter den Damen verschwindet. Trude atmet kurz und tief ein, dann lange aus. Sie braucht dringend einen Absinth.

 

***

 

Zu spät (1939)

Sandmann musste als Jüdin die Repressalien des Nazi-Regimes ertragen. Sie erhielt bereits 1935 ein Berufsverbot und musste ihren Zweitnamen ändern, um ihre jüdische Abstammung deutlich zu machen. Sie war von der Ausgangssperre und dem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung am öffentlichen Leben betroffen. Die „Arisierung“ bezeichnete die nationalsozialistische Praxis, die jüdische Bevölkerung zu enteignen und sich deren Besitz und Betriebe anzueignen. Obwohl sie ein Visum für England erhielt, blieb sie in Berlin, um ihre kranke Mutter zu pflegen.

Sie verbieten ihr zu arbeiten, stehlen ihr den zweiten Namen und zwingen sie, einen fremden zu tragen: Sara statt Tusnelda. Jüdisch statt germanisch. Doch religiös lebt Trude schon lange nicht mehr, hat der Gemeinde den Rücken gekehrt. Auch wenn sie kein Nationalgefühl hat, einfach nur Mensch ist, so ist Berlin dennoch ihre Heimat. Aber jetzt zählt nur noch Geburt, nicht Zugehörigkeitsgefühl.

Sie blickt sich im Haus um. Die Backsteinmauern, die früher warm und robust erschienen sind, wirken jetzt kalt und brüchig. Dann seid ihr sicher, schreibt ihre Schwester Else in dem Brief, der vor Wut zerknittert auf dem Sekretär liegt.

Er ist schon einige Wochen alt und enthält die triumphierende Mitteilung, dass sie der Arisierung entkommen sind und die Überschreibung des Elternhauses auf ihre Schwester geglückt ist. Doch nur Trude wird hier sicher sein, zumindest vorerst.

Dabei könnte sie schon lange auf und davon sein. Sie hat an so vielen Orten gelebt: Berlin, München, Paris. Auch in Italien und in der Schweiz. Sie hätte jetzt schon in England sein können.

Sie muss sich dringend beruhigen! Ihre Zähne beginnen durch das Knirschen zu schmerzen, und ihr schlankes Gesicht verkrampft sich immer mehr. Es ist ihre Entscheidung gewesen zu bleiben. Das Visum auszuschlagen, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Außerdem glaubt sie nicht, dass sie wirklich hätte gehen können. Neu anfangen und für immer fort? Nein. Hier ist ihr Zuhause. Vor einem Monat hat der Krieg begonnen und nun ist es zu spät zu gehen. „Reiß dich zusammen“, ermahnt sie sich selbst.

Sie geht hinüber zum Sekretär, glättet Elses Brief mit der Linken auf der leicht schrägen Holzplatte und nimmt Platz. Sie kann die Antwort nicht länger hinauszögern, zieht ein weißes Blatt aus der Schublade, setzt den Briefkopf auf und hält kurz inne. Trude versucht gar nicht erst, Else zu erklären, wie es ihr geht oder wie ihr Leben Stück für Stück gestohlen wird. Sie ist noch nie eine Frau vieler Worte gewesen, hat immer ihre Bilder sprechen lassen.

Mutter ist gestern Abend gestorben.

 

***

 

Flucht (1942)

Die Lage der jüdischen Bevölkerung spitzte sich weiter zu. Es gab immer mehr Deportationen; die Reaktion darauf war entweder Flucht oder Selbstmord. An eine legale Ausreise war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken.

Sie kommen. Ich weiß, dass sie kommen. Hastig nehme ich noch eine gefütterte Jacke aus der Kommode. Es ist schließlich Winter. Eine Jacke, die schon etwas aus der Mode ist, aber deren Verschwinden nicht auffallen wird. Ich darf nicht zu viel mitnehmen, sonst werden sie es nicht glauben. Dass ich meine Lebensmittelkarten nicht behalten kann, tut trotzdem weh. Ich spüre meinen Magen jetzt schon vor Leere krampfen.

Ich wende mich nicht noch einmal um, bevor ich die schwere Holztür hinter mir zuziehe. Ich muss es auch gar nicht: Viel zu gut kenne ich diese Mauern, die schon vor einiger Zeit aufgehört haben, mein Zuhause zu sein. Seit Mutter tot ist, sind sie abweisend und unbehaglich. Wo ich jetzt hingehe, wird es schlimmer sein.

Im Haus sieht es ordentlich, aber nicht zu ordentlich aus. Vor allem sieht es nicht nach Flucht aus. Ich kann nicht glauben, dass ich vor kaum einer Viertelstunde meinen Abschiedsbrief geschrieben habe. Ob sie ihn Else wirklich zukommen lassen werden? Wird sie glauben, dass ich es getan habe? Werden sie in der Spree nach mir suchen oder denken, ich sei einer der leblosen Körper in den Gassen von Kreuzberg?

Meine Hände zittern. Die Tränen, die beim Schreiben aus meinen Augen gequollen sind, lasse ich auf dem Papier zurück. Sie müssen es glauben. Meine Schrift ist krakelig und verschmiert, die Sätze sind kaum zusammenhängend. Ich wirke aufgebracht, verzweifelt, hoffnungslos. Und ich bin es auch. Kaum muss ich mich verstellen. Auch das letzte Bisschen haben sie mir entrissen. Onkel und Tante sind längst wer weiß wo oder sogar schon bei Mutter. Alles kriegen sie, die Nazis, aber mich kriegen sie nicht. Und auch nicht meine Bilder.

Ich will überleben, und wenn auch nur aus Trotz. Ich muss es nach Treptow schaffen. Draußen wende ich mich nach Osten.

 

***

 

Kammer (1944)

Durch die selbstlose Hilfe der Familie Grossmann, ihrer Lebenspartnerin Hedwig „Johnny“ Koslowski und ihrer Freundin Kitty Kuse war es möglich, Gertrude Sandmann über mehrere Jahre in Berlin zu verstecken. Durch das Rezitieren von Gedichten und mithilfe von Muskelübungen versuchte sie, sich geistig und körperlich fit zu halten.

Bald werd ich dich verlassen,

Fremd in der Fremde gehn

rezitiere ich Eichendorff.

Auf buntbewegten Gassen

Des Lebens Schauspiel sehn

Johnny hat gesagt, dass sie nicht sicher weiß, wann sie das nächste Mal kommen kann.

Und mitten in dem Leben

Wird deines Ernsts Gewalt

Mich Einsamen erheben,

So wird mein Herz nicht alt.

Das ist jetzt bestimmt schon eine Woche her, vielleicht sogar zehn Tage. Ich muss nachfragen. Frau Grossmann kommt später sicher in die Kammer. Mehr als das ist Sonjas winziges Kinderzimmer nämlich nicht. Ein wenig Brot wäre gut. Gestern hatte ich Brot.

Es fällt mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Falls Johnny etwas zugestoßen ist, würde ich es überhaupt erfahren? Aber daran darf ich nicht denken. Sie hat mir diesen Unterschlupf organisiert, sie kommt regelmäßig vorbei. Johnny lebt! Sie muss einfach leben. Wir alle müssen. Sie kommt bestimmt bald durch diese Tür und ich werde geblendet vom Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster fällt. So wie immer.

Schon lange habe ich nicht mehr aus dem Fenster gesehen. Es ist wohl Frühjahr. Im Frühjahr sind Johnny und ich einmal spazieren gegangen. An der Spree entlang. Eine Allee gesäumt von Linden hat uns vom Ufer weggeführt. Es war bitterkalt und ich habe meinen Mantel getragen. Und die Sonne schien an diesem Tag durch die noch jungen Triebe der Linden. Doch dann kann es gar nicht so kalt gewesen sein, wenn die neuen Blätter schon im Begriff waren zu sprießen. Nicht wichtig.

„Siehst du, wie schön das Licht hindurchfällt?“, habe ich Johnny gefragt und mit dem Finger nach oben gezeigt. Sie hat mich angelächelt. Kleine Grübchen, die schmale Oberlippe. Sie hat schön ausgesehen im strahlenden Licht. Wie gern hätte ich sie in diesem Moment geküsst. Es hätte kein überschwänglicher Kuss sein müssen. Ein kurzer, flüchtiger hätte genügt. Ein Kuss, der zum Ausdruck bringt, dass man einen Moment teilt. Da waren wir gerade erst liiert. Es muss 1927 gewesen sein. 17 Jahre ist das jetzt her, vielleicht sogar auf den Tag genau.

Johnny sieht, was ich sehe. Sie sieht die Schönheit im Unscheinbaren. Ein gutes Auge, nicht nur für die Kunst. Wie gerne würde ich zeichnen oder malen, aber das geht nicht. Ich hätte gerne meinen Beruf wieder. Wenn es jetzt Frühjahr ist, dann habe ich schon eineinhalb Jahre nicht mehr gezeichnet. So lange bin ich schon in diesem engen Zimmer.

Ich muss meine Übungen weitermachen. Ich bewege die Zehen, ziehe den Fuß hoch und strecke ihn wieder von mir, spanne meine Wanden an und lockere sie wieder. Immer erst links, dann rechts. Doch das ersetzt bestimmt nicht das Laufen. Wie weit ich wohl kommen würde, bis ich mich setzen müsste? Mir wird schwindelig. Diagonal lege ich mich in das quadratische Kinderzimmer. So muss ich die Beine nicht anwinkeln.

Dicht wie Löcher eines Siebes stehn

Fenster beieinander, drängend fassen …

Die Grossmanns nehmen meinetwegen so viel auf sich. Wenn ich entdeckt werde, sind wir alle tot. Wenn Johnny kommt, dann müssen wir reden. Vielleicht hat sie eine Idee, wo ich sonst noch unterkommen könnte. Vielleicht gibt es irgendwo etwas Unbewohntes, dann gefährde ich niemanden. Außer Johnny natürlich.

 

***

 

Gartenlaube (1944)

Da Gertrude Sandmann zunehmend Angst bekam, dass sie die Familie Grossmann gefährdete, floh sie in eine unbewohnte Gartenlaube. Als der Winter kam und es in der Laube zu kalt wurde, versteckte sie sich bis zum Kriegsende in der Wohnung ihrer Freundin Johnny.

Kurz und unregelmäßig tippeln die Regentropfen auf dem Dach. Zwischendurch platscht es ordentlich, wenn sich auf den Eichenblättern über der Laube kleine Lachen gebildet haben und das Laub das Gewicht nicht mehr halten kann. Allmählich nimmt der Regen ab.

Dann ein anderes, auch nicht unbekanntes Geräusch: gluckernde Fußstapfen im matschigen Rasen. Drückt man den Handballen in etwas zu feuchten Brotteig, macht es ein ähnliches Geräusch. Sie lauscht. Eine Person kommt näher, geht auf die Laube zu. Trude erhebt sich vom Boden, stellt sich hinter die Tür. Sollte sie aufschwingen, wird man sie nicht direkt entdecken.

Die Person hat es nicht eilig, sucht keinen Schutz vor dem Regen. Offenbar hat sie ein klares Ziel. Trudes Anspannung geht nicht weg.

Angekommen. Ohne vorheriges Klopfen öffnet sich die Tür langsam.  „Trude?“, klingt es unsicher, leise. Die hohe Stimme mischt sich mit dem Klang der berstenden Tropfen.

„Ich bin hier.“

Die Augen, in die sie blickt, sind dunkel. Kein Lächeln. Johnny. Sie fragt nicht, warum Trude so schwer atmet. Sie fragt nicht, warum sie hinter der Tür steht. Sie weiß es.

„Ich werde nicht lange bleiben können. Nur, bis der Regen aufhört.“

Bis eben hat Trude noch Angst davor gehabt, zufällig von jemandem, der Schutz vor dem Regen sucht, entdeckt zu werden. Jetzt versteht sie: Der Regen ist eine gute Tarnung. Johnny kann ihn als Ausrede nutzen, falls jemand fragt, warum sie aus einer alten Laube kommt.

„Wie geht es dir?“

Es ist ihr unangenehm. Sie weiß, wie sie aussieht. Die spitzen Knochen, über die ihre Haut gespannt ist wie Leinen auf einen Keilrahmen, zeichnen sich unter dem zerlumpten Sommerkleid kantig ab.  Trude verschränkt die Arme vor dem abgemagerten Körper. Nur noch 45 Kilogramm oder sogar weniger. Jedes Mal, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild in einer Glasscheibe entdeckt, wendet sie sich sofort ab. Sie könnte es Johnny nicht verübeln, wenn sie das Gleiche täte.

Johnny gibt acht, dass der Boden bei ihren Schritten nicht knarzt. Sie greift in ihre Weste. Eine gesalzene Kartoffel ist viel. Praktisch ein Festmahl. Und Trude merkt, wie vorsichtig Johnny ihr gegenüber ist. Als traue sie sich nicht, sie zu berühren. Als habe sie Angst, ihr wehzutun. Vielleicht findet sie sie sogar abstoßend, so zögerlich ist sie. Trude hasst es, berührt zu werden, wenn sie so aussieht. Wenn sich beide doch umarmen, dann fühlt es sich hart und förmlich an. Trude hasst es, sich bei dem Gedanken schuldig zu fühlen.

Sie löst ihren Krallengriff und nimmt die Kartoffel: „Das ist zu viel.“ Ihre Stimme kratzt beim Sprechen.

„Die Kartoffeln in der Ration waren diesmal groß. Mach dir keine Gedanken deswegen.“

Beide wissen sie, dass Johnny lügt, und Trude beginnt zu essen. Der Regen lässt schneller nach, als es ihnen lieb ist. An die Wand gelehnt rutschen sie allmählich näher aneinander, bis Johnny den Arm um sie legt. Nein, Trude hasst es doch nicht: das Gefühl, berührt zu werden. Sie hasst es, kein gemeinsames Leben nach ihrer Vorstellung führen zu können. Sie hasst es, nicht die Frau für Johnny sein zu können, die sie gerne sein will. Natürlich ist sie Johnny dankbar, aber immer nur verstecken, das ist doch kein Leben. Wenn der Krieg nur vorbei wäre! Trude weiß nicht, wie lange sie noch durchhalten kann.

 

***

 

Frei (1945)

Nach Kriegsende war Sandmann wieder künstlerisch tätig und wirkte an mehreren Ausstellungen mit. Sie schuf ein beeindruckendes Gesamtwerk an Gemälden und Zeichnungen. In sehr bescheidenen Verhältnissen lebte sie dennoch überwiegend von Entschädigungszahlungen, die ihr als Folge des Holocausts sowie der zur Zeit des Nationalsozialismus unmöglichen Berufsausübung zustanden.

 

 

***

 

Nachhall (1967)

Während des Zweiten Weltkriegs begaben sich die Einwohner bei Bombenangriffen in den Luftschutzbunker. Die Türen zu ihren Wohnungen mussten offengelassen werden, damit der Luftschutzwart im Anschluss die Gebäude begutachten konnte, um Instabilitäten zu erkennen. Gertrude Sandmann wurde zweimal bei diesen Rundgängen entdeckt, aber durch Herrn Grossmanns Einfluss kam es nicht zu einer Meldung. Später wurde er selbst Luftschutzwart, um sie besser schützen zu können. Die Beziehung zu Johnny endete gegen 1956. Danach lernte Sandmann die Artistin Tamara Streck kennen und das Paar war bis zu Tamaras Tod liiert.

Die Kohle krächzt über das Papier. Der Kieferwinkel stimmt noch nicht ganz. Er müsste steiler sein. Das Mädchen ist kess gewesen, das muss sie einfangen. Dazu beigetragen haben bestimmt auch der Blick und die elegante Haltung, aber die Kessheit entstand vor allem durch den leicht geneigten Kopf mit der spitzwinkligen Kieferlinie – da ist sich Trude sicher. Sie dreht den Kohlestab zwischen Zeigefinger und Daumen, während ihr Blick über die rauen Fasern des Zeichenkartons schweift. Mit dem Mittelfinger der gleichen Hand wischt sie über die korrigierte Linie den Hals des frechen Mädchens hinab. Und dann immer wieder hin und her, bis die Fingerkuppe warm wird. Besser!

Ein Knarzen im Flur, das plötzlich ohrenbetäubend laut wird. Das Geräusch reißt ihr die Finger weg, und für einen Moment ist es absolut still. Nur das Rauschen in Trudes Ohren schwillt weiter an.

Die Bombe muss ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Ich kauere im Kinderzimmer, regungslos, nur der Brustkorb hebt und senkt sich. Die Sirene hat bereits Entwarnung gegeben. Da höre ich lautes Trampeln auf der Treppe. Ich springe auf.  Aus der Tür hinaus vorbei an der kleinen Küchenzeile. Verstecken! Besser verstecken. In die Zimmer werden sie gucken. Ich sehe den klobigen Schreibtisch. Die linke Säule besteht aus Schubkästen, aber die rechte hat eine Tür. Frau Grossmann hat diese Seite ausgeräumt und alles, was darin war, anderweitig verstaut. Ich öffne die Schranktür und mache mich so klein, wie ich kann. Dann krieche ich hinein. Weil ich selbst immer weniger werde, habe ich von Mal zu Mal mehr Platz, wobei von Platz eigentlich keine Rede sein kann. Ich schließe die Tür so rasch und leise wie möglich.

Die Grossmanns sind bereits im Luftschutzbunker. Ein Privileg, das mir nicht zuteilwird. Da höre ich wieder ein lautes Knarzen, diesmal im Raum: Der Luftschutzwart macht den Kontrollgang. Findet er mich? Ich halte die Luft an, während er sich im Raum nach Schäden umsieht. Seine Schritte kommen langsam näher.

Trude klammert sich mit ihrer Linken so fest an die Staffelei, dass der Schmerz im Handballen sie wieder zu sich kommen lässt. Jemand ist an der Tür. Es ist nicht 1943, es ist 1967. Tamara ist an der Tür. Trude kann nun auch Stimmen neben dem Restrauschen vernehmen. Sie blickt von ihrer Hand hoch in das Gesicht der jungen Frau auf dem Papier.

Tamara klopft nicht an: „Liebes, der neue Nachbar von 87 hat sich eben vorgestellt. Er lädt nächste Woche zu einem kleinen Umtrunk ein.“

Tamara nimmt Trudes linke Hand von der Staffelei in ihre Rechte. Sie lächelt. Trudes Hand ist faltig und von kleinen Altersflecken gezeichnet, Tamaras hingegen ist noch glatt und frei von den Zeichen der Zeit. Sie lächelt zurück. Tamara weist mit dem Kinn zum Zeichenkarton: „Sie hat etwas an sich. Etwas Kühnes. Ich mag sie.“

Nach einem Kuss auf Trudes Schläfe drückt sie einmal sanft die Hand ihrer Liebsten, lässt sie los und geht aus dem Raum.

 

***

 

So weit (1981)

In den 1970er und 1980er Jahren erstarkten die Lesben- und Frauenbewegungen in Europa. Gertrude Sandmann war Gründungsmitglied der Gruppe „L 74“, die eine Gemeinschaft älterer lesbischer Frauen darstellte. Die Gruppe brachte unter anderem die UkZ – kurz für „Unsere kleine Zeitung“ – heraus, für die Sandmann Illustrationen anfertigte. Ihre Zeichnung „Liebende“ zierte mehrere Jahre die Titelseite. Nach langer Krankheit starb Sandmann am 6. Januar 1981 in Berlin.

Ich kann gehen. Keine Behandlungen mehr. Der Krebs wird gewinnen und das ist in Ordnung. Mein Körper hat so lange mitgemacht. Damals im Dritten Reich war ich aufgrund meiner miserablen Gesundheit nicht einmal in der Lage, Zwangsarbeit zu leisten. Trotzdem bin ich jetzt 87. Das hätte ich nicht gedacht. All das Hungern, all das Leid!

Auch meine Tamara musste schon gehen, obwohl sie so viel jünger war. Ihr Körper hat viel ertragen müssen, musste sich ständig verbiegen. Ich habe nie einen ihrer Auftritte gesehen, aber sie hat trotzdem immer die Eleganz der Akrobatin ausgestrahlt. Sie hatte Esprit. Auch noch, als wir uns kennengelernt haben.

Ich habe Glück gehabt. Ich habe wundervolle Menschen gekannt, die mich geliebt und beschützt haben. Die Grossmanns und Johnny. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass wir uns wiederfinden. Aber es ist zu viel passiert. Es war danach nicht mehr so wie vorher. Johnny war meine Retterin. Aber irgendwann musste ich nicht mehr gerettet werden. Da war ich frei und sie immer noch gefangen in ihrer alten Rolle. Ich nehme es ihr nicht übel. In mir haben auch so viele Gefühle getobt, dass meine Liebe darin einfach untergegangen ist. Vielleicht können wir uns beide vergeben. Vielleicht sehe ich Johnny ja wieder, wer weiß das schon.

Ich bin ein sogenanntes U-Boot: Während des Krieges bin ich jahrelang in Berlin untergetaucht. Ich habe den Nazis getrotzt. Überlebt. Danach habe ich weitergelebt und weiter geschaffen. Das ist viel.

Ich bin jetzt so weit …

 

 


 

 

Quellen und weiterführende Literatur

Anna Havemann: „Gertrude Sandmann. Künstlerin und Frauenrechtlerin“, 2., erweiterte Auflage, Hentrich & Hentrich 2011 (Jüdische Miniaturen, Band 2).

Marcella Schmidt: „Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950“,  Frölich & Kaufmann 1984.

 

Weiterführende Links

Gertrude Sandmann (fembio.org)

sandmann_schoppmann_d.pdf (lesbengeschichte.org)

Gertrude Sandmann, jüdische lesbische Malerin und Grafikerin (1893-1981): Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V., Berlin (nbhs.de)

Aus der Zeit fallen – taz.de

Gertrude Sandmann – Berlinische Galerie

Frauen im Widerstand: Biografie (frauen-im-widerstand-33-45.de)

Unter Einsatz ihres Lebens | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de)

 

Das verwendete Bildmaterial stammt aus:

Süddeutsche Mitteilungen : alliiertes Nachrichtenblatt, Sonder-Ausgabe – Mittwoch, 09.05.1945 – Deutsches Zeitungsportal (deutsche-digitale-bibliothek.de)

 

Die Gedichtzeilen stammen aus Joseph von Eichendorff: „Abschied“ und Alfred Wolfenstein: „Städter“.

 

 

 

 

 

 

 

4 mal x

19. Juli 2019 | von

von Leonie Schmidt

Entstanden ist das Gedicht im Sommersemester 2019 in unserem Kurs „Texte in Arbeit (Oberseminar)“.


4 mal x

Ich rolle mit 4 freien Plätzen
in meinen 4 Wänden
auf meinen 4 Reifen
um 8 Uhr Richtung Arbeit

in 8 Stunden

rolle ich auf meinen 4 Reifen
in meinen 4 Wänden
mit 4 freien Plätzen
um 16 Uhr Richtung zu Hause.

Rolladen runter

12. Juli 2019 | von

von Loana Epping

Entstanden ist das Gedicht im Sommersemester 2019 in unserem Kurs „Texte in Arbeit (Oberseminar)“.


Rolladen runter

Bewegungslos
In einem Bett ohne Wärme
Dein lebloser Körper
Kein Wort dich zu wecken

Der Staub liegt hier schon
Lange und von flackernden Bildern
Angestrahlte Kinderaugen
Glänzen

Bei der nächsten Begegnung
Dein lebloser Körper
Besprenkelt von schillerndem Metall
Und dein Lächeln
Dein Angesicht des Todes

Am letzten Tag
Rührt sich dein Finger
Für eine Erinnerung
An das Gefühl
Zu fliegen

Was geht?

05. Juli 2019 | von

von Leonie Schmidt

Entstanden ist das Gedicht im Sommersemester 2019 in unserem Kurs  „Texte in Arbeit (Oberseminar)“.


Was geht?

Ich wohne
In einem großen Haus
Sogar mit Garten.

Ich wohne
In einem großen Haus
Sogar mit Garage.

Ich wohne
Nicht in einer reichen Familie
Sondern in einem Studierendenwohnheim

Und was ich noch verschwiegen habe:

Wir haben einen Waschraum.
Denn wir wohnen mit 7 Waschmaschinen
Und 299 Personen!

Ich wohne
In einem Zimmer mit 15m im Karree
Mit drei anderen in einer Vierer-WG

Und wenn meine Wäschetonne voll ist:

Gehe ich zu unserem Waschraum
Denn wir wohnen mit 7 Waschmaschinen
Und fast 300 Leuten!

Krass, das geht?
299 Personen auf 7 Waschmaschinen?
Man könnte denken, alle seien stetig besetzt
doch dabei hat man sich verschätzt.

Wohnten wir in einem anderen Haus,
hätte wohl jeder und jede

seine und ihre
eigene
Waschmaschine.

Und gebraucht würde sie
pro Woche

für
eine
Stunde.

Carsharing ist schon bekannt
Waschmaschinensharing noch nicht so sehr
aber auch das geht erstaunlich charmant.

Versteckt auf weitem Feld

28. Juni 2019 | von

von Loana Epping

Entstanden ist das Gedicht im Sommersemester 2019 in unserem Kurs „Texte in Arbeit (Oberseminar)“.


Versteckt auf weitem Feld

Geh an den Ort, an dem du sicher bist
Ein großer Karton auf Kunstrasen
In einer Welt ohne Eltern
In einer Zeit
Bei der das Surren der Kühltruhe –
Wie das Schnurren der Katze –
Den wortlosen Raum erfüllt
Zähl bis zehn, nachdem du gegessen hast

Geh an den Ort, an dem du deine Erinnerungen versteckt hast
Mit Kirschkernen vergraben
Wo tröstliche Bilder
Von offenen Särgen
Den unbemerkten Pfad entlang sprießen
Bleib dort
Bis der nächste Tag sich zeigt
Zwischen den Fäden des Fliegengitters

Mit Haut und Haaren

29. August 2018 | von

Julia Huntscha: Mit Haut und Haaren

 

Entstanden ist der Text im Sommersemester 2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.

 


Matsch bedeckt meine Schuhe. Der Regen der letzten Tage hat den Boden aufgeweicht, Blätter und Erde sind zu einem schmutzigen Gemisch verkommen. Da, wo der Boden steinig ist, laufen Rinnsale den Weg hinab, vereinen sich, bis ein kleiner Bach entsteht, der sich unruhig seine Bahnen um Hindernisse sucht, bevor er zur Seite schwingt und in der Wiese verschwindet.

Das leise Plätschern des Wassers lädt dazu ein, einfach stehen zu bleiben und der Geschichte zu lauschen, die es vorwitzig erzählt, auch wenn es keinen interessiert. Es knabbert an meinem Ohr, ein steter Begleiter auf dem Weg den Berg hinauf, der sich nicht abschütteln lässt, egal, wie sehr man es auch versucht.

Satte Farben nehmen den Wald ein. Es ist die Schwelle zwischen Sommer und Herbst, die Blätter halten gerade so noch ihr Grün, wollen ihr Leben nicht aufgeben. Aber die Luft ist merklich abgekühlt in letzter Zeit, bald wird der Todeskampf der Blätter beginnen, den sie verlieren werden. Sie werden auf das Bett fallen, dass ihre Vorgänger ihnen bereitet haben, ebenso, wie sie das Bett sein werden für diejenigen, die ihnen im nächsten Jahr folgen.

Die Herbstluft hat eine Klarheit an sich, die die Fesseln des stickigen Spätsommers löst und einen mit sanften Fingern liebkost, als sei sie eine Geliebte, die einen freudestrahlend empfängt, auch wenn man sich lange nicht gesehen hat. Bis ihre Verbitterung sie einholt und ihre kalten Klauen auch das letzte Bisschen Wärme zerreißen.

Erinnerst du dich an dein Versprechen, Liebling? Du sagtest, du würdest alles für mich tun.

Es wundert mich kaum, dass mir auf diesen Wanderwegen niemand begegnet. Sie führen tief in den Wald hinein. Man warnt davor, zu tief in den Wald zu gehen.

Für einen Moment bleibe ich stehen und atme tief durch. Papier raschelt in meiner Brusttasche.

Der Brief.

Der Grund, warum ich überhaupt hier draußen unterwegs bin.

Ich weiß, dass du mich vergessen wolltest. Ich war nicht immer gut zu dir. Aber ich bitte dich um einen letzten Gefallen. Einen einzigen.

            Kurz lege ich meine Hand auf die Brust, dort, wo in einer innenliegenden Jackentasche der Brief verborgen ist, um ihn zu schützen. Ihm darf nichts passieren. Er ist der einzige Hinweis, den ich habe.

Ein Blick auf den Kompass. Seine Nadel weist mir fordernd den Weg. Im Gegensatz zu den Wirren des Waldes ist die schwarze Farbe der Nadeln berechnend und klar. Etwas, an das ich mich klammern kann, damit ich mich nicht verliere.

Ich muss nach Osten. Der Pfad führt mich aber augenscheinlich nach Norden. Ich kann nicht noch weiter darauf hoffen, dass er sich biegt oder eine Kreuzung erscheint. Nach Osten jedoch führt es mich geradewegs in den Wald hinein.

Ich weiß, dass ich den Weg nicht verlassen sollte, aber ich habe keine Wahl. Was getan werden muss, duldet keinen weiteren Aufschub mehr.

Du musst es bald machen. Sonst ist es zu spät. Sonst wird es niemand jemals erfahren. Dann wird der Wald es behalten. Er darf es nicht haben. Es ist schon viel zu lange dort.

            An einem Stein reibe ich den Matsch von meinen Schuhen. Dicke, dunkelbraue Brocken bleiben auf der moosigen Oberfläche haften. Der nächste Regen wird sie hinabwaschen, und dieser wird nicht lange auf sich warten lassen. Der Geruch nach Regen liegt in der Luft.

Satte, feuchte Erde. Schwere Blätter, die sich neigen, weil das Gewicht der Wassertropfen auf ihnen lastet. Ein leises Platschen, wenn ein Tropfen auf den Boden trifft und sich dort zu seinen Geschwistern gesellt, sie sich freudig tummeln und jagen, in der Pfütze, die sie bilden.

Der Wald macht seltsame Dinge mit dir, wenn du Angst hast. Du siehst Dinge. Du hörst Dinge. Nicht alles davon ist wirklich da. Manche Dinge aber schon.

            Vögel singen in den Ästen traurige Lieder. Sie bedauern, dass ich den Weg verlasse. Es sei gefährlich, durch das wilde Dickicht zu laufen. Man sehe nie wirklich, was genau unter einem liege.

Manche lauern im Zwielicht und warten auf eine unbedachte Bewegung.

Ich komme abseits des Weges erheblich langsamer voran. Zweige krallen sich in meine Kleidung. Sie wollen nicht, dass ich tiefer in den Wald gehe. Mühsam entwinde ich mich ihnen, heute werden mich ihre gierigen Hände nicht festhalten. Jeder Zweig zischt eine Warnung, als er zurückschnellt, bevor er regungslos verstummt. Vielleicht haben sie verstanden, dass es mir egal ist, was sie wollen.

Ich muss weiter, bevor der Regen losbricht.

Du musst zu der Hütte. Dort wirst du finden, was sehr lange Zeit niemand mehr zu Gesicht bekommen hat.

Ich stapfe weiter, immer brav dem Kompass folgend, die Anweisungen des Briefes an meiner Brust brennend. Sein Flüstern hat das Plätschern des Baches abgelöst, nun liegt es mir im Ohr und lässt mir keine freie Sekunde.

Du darfst dich nicht ablenken lassen. Der Wald ist kein stiller Ort. Er wacht und ist geduldig, denn er ist alt und hat alle Zeit der Welt. Er lebt und er will dich haben.

            Die Baumkronen wachsen so dicht, dass das Licht kaum bis zum Boden vordringen kann. Selbstsüchtig saugen sie es ein, nehmen mir die Sicht, lassen mich stolpern über das, was die Dämmerung versteckt hält.

Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich bin am Morgen losgelaufen. Es kann mittlerweile jede Uhrzeit sein. Oder keine. Der Wald hat seinen eigenen Zeitkosmos.

Die Hütte. Du musst die Hütte erreichen.

Eine Hütte. Sie versucht sich zwischen den Bäumen zu verstecken, wagt sich nur zaghaft hervor. Ihre Fenster lugen müde unter dem Moos hervor. Irgendwo krächzt ein Vogel, beschwert sich über die unfreundliche Störung.

Die Tür klemmt, lässt sich nur unter starken Zerren wiederstrebend öffnen. Ihre Angeln jaulen schmerzverzerrt. Wimmernd zieht der Wind durch die Ritzen zwischen den halbrunden Baumstämmen, aus denen die Wände bestehen.

Unter einer Planke am Boden liegt das Buch. Du musst es zurück nach Hause bringen.

            Unter der Planke ist ein Loch verborgen, ein klaffender Schlund, der hungrig nach Füllung lechzt. Weißer Speichel klebt sich an meine Hand, als ich hineingreife. Scharfe Zähne kratzen die Haut auf. Seine Zunge leckt über meine Handfläche, kostet den salzigen Schweiß. Er grinst mich an, lange hat er auf Beute warten müssen.

Ich beuge mich vor, packe die Zunge mit beiden Händen und reiße sie aus dem Loch. Staubige Erde hustet es mir entgegen, der Wind kreischt. Ich schlage die Planke zu.

Stille.

Durchatmen.

Das einst weiche Leder des Buches ist brüchig geworden, die Seiten wellen sich. Ohne hineinzuschauen, verstaue ich es im Rucksack und flüchte aus der Hütte. Dumpf lacht der Schlund hinter mir her.

Ich renne. Die Sträucher auf dem Boden versuchen mich zu packen, Wurzeln legen sich mir in den Weg, bringen mich zum Straucheln.

Sei vorsichtig auf dem Rückweg. Der Wald ist gefährlich.

            Erde rutscht unter meinen Füßen zur Seite. Kichernd rollen kleine Steine den Hang hinunter. Sie haben mich fast.

Zweige peitschen mir ins Gesicht. Sie haben mich gewarnt, und jetzt ist es zu spät. Ihr Griff ist kräftiger, zielsicherer, sie wissen, was sie wollen.

Bring es nach Hause.

Ich falle.

Es tut fast gar nicht weh. Nur ein bisschen, als irgendwo Knochen brechen. Ich kann mich nicht mehr bewegen.

Ich starre nach oben zu den Baumkronen, die im düsteren Licht des Gewitters kaum zu sehen sind. Kalte Tropfen landen auf meinem Gesicht. Ein Blitz erhellt für einen Moment wenige Blätter, sie blicken ausdrucklos auf mich hinab.

Ich bezweifle, dass mich hier jemand finden wird.

Denn der Wald ist hungrig.

Es geht mir gut

15. August 2018 | von

Matthias Cherek: Es geht mir gut

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.

 


Ich möchte, dass du mit mir stirbst.

Ich habe es geschafft pünktlich aufzustehen, nicht schlecht für den Anfang. Jetzt gibt es erst einmal einen Kaffee, damit ich auch zu was zu gebrauchen bin. Nach einer schnellen Dusche, renne ich zum Bus. Endlich schaffe ich es mal rechtzeitig zur Arbeit. Neben der Firma gibt es einen Bäcker, da hole ich mir mein Frühstück. Zuhause habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefrühstückt. Die Faulheit siegt, außerdem esse ich nicht gerne allein. Beim Bäcker gibt es den zweiten Kaffee und dann geht es mit dampfendem Becher und Donut auf die Arbeit. Im Büro ist kaum jemand. Vielleicht sind heute alle krank oder  unterwegs. Im Moment nehmen viele Urlaub, um mit ihren Familien die Feiertage zu genießen. Ich habe nicht einmal eine Freundin.

Ich warte auf dich.

Ich bin wieder im Bus, aber mir ist schlecht. Alleinsein bekommt mir eben nicht. Es könnte natürlich auch an dem Auflauf von letzter Woche liegen, den ich mir heute Mittag aufgewärmt habe. Hoffentlich ist es nichts Ernstes. Ich kann gut darauf verzichten, krank zu werden. Mein Großvater ist an einer Lebensmittelvergiftung gestorben, vielleicht sollte ich vorsichtiger sein. Na, dann gibt es heute Abend eben eine Hühnersuppe beim Fernsehen und ich gehe früh ins Bett.

Ich habe mich schon auf dich gefreut.

Jetzt bin ich doch vor dem Fernseher versackt. Es ist schon halb eins und ich kann mich nicht aufraffen, die Kiste auszuschalten. Die Suppe steht kalt in der Mikrowelle. Ich habe sie dort vergessen. Was für eine schöne Metapher – durch mein eigenes Versagen, bleibt mir sogar das kleinste Glück verwehrt. Auch auf der Arbeit, trete ich seit Monaten auf der Stelle. Wenn ich jetzt krank werde, verliere ich schon wieder einen Job und ich kann es meinem Chef nicht mal übelnehmen.

Ich sehe, du hast mich nicht vergessen.

Ich schaffe es erst um drei Uhr ins Bett zu gehen. Meine Augen brennen, weil ich stundenlang auf den Fernseher gestarrt habe. Migräne gesellt sich zu der Übelkeit. Mit jedem Pochen meines Herzens strömt das Blut schmerzhaft durch meine Schläfen. Der Mond scheint stechend hell durch mein geöffnetes Fenster. Die Furcht, die mir der Vollmond als Kind bereitet hat, habe ich bis heute nicht vergessen. Ein riesiges Auge am Himmel, das mich unentwegt beobachtet. Damals habe ich mich unter meine Decke gekauert und starr vor Angst dagelegen. Auch jetzt würde ich mich am liebsten verkriechen.

Du siehst so friedlich aus, wenn du schläfst. Ich liebe deine Albträume.

Die Stunden schleichen quälend langsam dahin, bis ich endlich einschlafe. In meinem Traum stehe ich vor einem Käfig, in dem der Hund meines Nachbarn eingesperrt ist. Sein Lefzen zucken mordlustig und ich bete, dass er das offene Tor hinter sich nicht bemerken wird. Ich drehe mich um und sein Knurren hallt aus der Dunkelheit wieder. Es schwillt zu einer unerträglichen Melodie an. Ich spüre seinen feuchtwarmen Atem in meinem Nacken. Schweißgebadet wache ich auf. Mir ist eiskalt. Es ist sechs Uhr morgens.

Ich habe einen schönen Ort ausgewählt. Du kennst ihn gut.

Ich liege schon seit einer halben Stunde wach und kann mich nicht bewegen. Jeder Schatten jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Die Schweißausbrüche hören nicht auf und ich zittere am ganzen Körper. Der Wind schlägt mein Fenster zu und das Geräusch lässt mich heftig zusammenzucken. Endlich schaffe ich es, mich aus meiner klatschnassen Decke zu schälen. Ich fühle mich schlimmer, als nach einer Nacht auf Heroin. Ich beschließe, mich zu waschen und zum Arzt zu gehen. Mit schlurfenden Schritten gehe ich unter die Dusche – die Badewanne habe ich noch nie benutzt – aber das Wasser ist ausgefallen. Nachdem ich mich in die Küche geschleppt habe, fällt mir auf, dass es ohne Wasser auch keinen Kaffee gibt. Mein Kopf dröhnt bei dem Gedanken, ohne Koffein auskommen zu müssen, bis ich mich um einen Handwerker gekümmert habe. In der Stille kann ich hören, wie mein Nachbar seine Dusche anstellt.

Lass dir ruhig Zeit.

Nachdem ich mir mühsam eine Jogginghose übergezogen habe, will ich mich auf den Weg machen, aber die Tür ist verschlossen. Ich kann mich nicht erinnern, sie letzte Nacht abgeschlossen zu haben. Meine Hände fangen an zu zittern und ich kann es nicht unterdrücken. Mit unsicheren Schritten gehe ich zur Garderobe, um nach meinem Schlüssel zu suchen. Der Reißverschluss der Jackentasche ist offen. Als ich hineingreife, geht das Licht aus.

Kannst du das Kribbeln spüren?

Ich habe den Schlüssel nicht gefunden. Jemand ist in meiner Wohnung, ich weiß es. Ich wage es nicht, zum Sicherungskasten zu gehen, um das Licht wieder einzuschalten. Verkrampft kauere ich in meinem Versteck hinter den Jacken. Zwischen meinen unterdrückten Schluchzern höre ich leise scharrende Schritte. Ich muss an meine Schwester denken. An den Tag, an dem sie mir mit aufgerissenen Augen erklärte, dass sie verfolgt wird. Ich habe sie damals beruhigt, aber nicht ernst genommen. Vielleicht hätte ich das tun sollen.

Ich musste lange auf dich warten.

Ich stehe im Bad. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich hierhergekommen bin. Die Badewanne starrt mich an und ich starre zurück. Ich habe sie nie benutzt, weil ich damals meine Schwester in unserer Wanne gefunden habe. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie absurd der Anblick auf mich wirkte. Besonders die Farben.

Siehst du wie schön es hier ist?

Die Rasierklinge fällt aus meinen schwachen Fingern. Mein Blickfeld verengt sich langsam. Ich warte auf die ersehnte Entspannung – vergeblich. Die Paranoia bleibt bis ganz zum Schluss.

Bus hält!

18. Juli 2018 | von

Sara Schneider: Bus hält!

 

Entstanden ist der Text im Wintersemester 2017/2018 in unserem Oberseminar Texte in Arbeit.

 


Ein eindringlicher Geruch nach Zwiebeln und Frittiertem. Wie eine Straßenküche in Fernost. Der Geruch so frisch, als hätte man die Frühlingszwiebeln gerade geschnitten. In der Vorstellung penetrant, tatsächlich angenehm und heimelig. Es ist nicht der Geruch von abgestandenem erkaltetem Fett, sondern der einer geselligen Küche. Wie ein Zuhause, eine Schüssel heißen Essens, frische Zutaten und fröhliche Gesichter.

Die beiden Asiatinnen vor mir verlassen den Bus. Ihr eigentümlicher Geruch hängt ihnen noch eine Weile nach, während sich mit jeder Haltestelle etwas Neues daruntermischt. Kalte Herbstluft, nasser Asphalt, Abgase und Benzin. Das ein oder andere Parfüm schwängert die Luft im stickigen Bus. Neue Düfte mischen sich unter. Doch holt man tief Luft, ist der erste Geruch noch immer da. Das warme, frittierte Essen. Die scharfen Noten von Zwiebeln. Hunger. Man bekommt Hunger. Und wenn man satt ist, bekommt man Lust. Lust auf den Hunger. Auf die Freude am ersten Bissen nach langem Hunger. Wie der erste Schluck Wasser an einem heißen Sommertag. Die Freude am Essen.

Die Vorfreude auf ein warmes, nahrhaftes, leckeres Gericht. Aus der nassen Kälte des Herbstes, in die warme stickige Umarmung der Garküche. Fremdsprachiges Geschnatter, Gewusel, Hektik und der Duft nach Essen. Was gibt es schöneres als die Vorfreude, als den ersten Bissen, den die Gabel zum Mund führt.

 

Die Türen öffnen sich jäh unter mechanischem Quietschen. Menschen strömen aus und ein. Ein neuer Geruch: Ein Hauch von etwas Herbem, etwas Bitterem. Von Erde und Torf. Von nasser Blumenerde.

Es überlagert den wohligen Geruch auf das Penetranteste. Es tilgt ihn. Vernichtet ihn. Verschlingt ihn gierig, bis nichts mehr übrig ist. Kein Parfüm kann gegen die Härte dieses Geruchs ankommen. Nichts Schönes legt sich auf diesen Geruch. Nichts will sich damit mischen.

Mein Blick hebt sich zum Ursprung. Die Türen sind bereits geschlossen. Die neuen Mitfahrer versperren die Sicht aus den Glastüren. Was es war, bleibt verborgen. Doch es hat meine Laune gänzlich gekippt. Mich aus dieser wohligen Blase gerissen. So fällt mein Blick auf die Straßen. Auf all die grauen Fassaden. Die schmutzigen Wände, dreckigen Bürgersteige. All diese Plastikkrähen, die wie moderne Gargeules an den Fassaden hängen. Nicht das Unheil sollen sie fernhalten, nur die Tauben. Stumm reihen sich die schwarzen Plastikkobolde aneinander. Ob auch sie bei Nacht zum Leben erwachen und lautstark krächzend ihre Besitzer vom Schlaf abhalten? Ob es die echten Krähen wirklich täuscht und die Tauben abhält? Tauben, die Ratten der Lüfte. So grau wie scheinbar alles heute.

Unter den schwarzen Plastikkobolden huschen Gestalten am Bus vorbei. Morgendliche Jogger, die in hautengen Neonfarben wie Tiefseetaucher wirken. Verloren scheinen sie auf Asphalt, Stolpersteinen und sporadischem Gras. Fehl am Platz sind sie zwischen morgendlicher Hektik, Bussen, Autos und Baustellen. Einsam, so ganz ohne Wasser. Sie tauchen in der Tiefe der Stadt. Schnorcheln Abgase und erkunden Stadtbepflanzungen.

 

So unpassend. Des Läufers Ziel ist der Lauf, doch des Städters Ziel ist stets der Ort, den er niemals rechtzeitig zu erreichen scheint. Auch meine Reise hat ein Ziel. Die nächste Haltestelle.

Nähert sich der Gelenkbus einem Halt, macht sich Umtriebigkeit breit. Menschen, die immer wieder den Halteknopf betätigen, obwohl schon lange das rote „Wagen hält“ Symbol blinkt. Einige brauchen wohl die Sicherheit, dass ihre Haltestelle ja nicht übersehen wird, denn schließlich ist das die einzig wichtige Haltestelle der ganzen Fahrt. Ihre. Andere müssen dezent ihren Sitznachbarn darauf aufmerksam machen, sie doch vorbeizulassen, ohne unnötiger Weise danach zu fragen.

Bei manchen ist es wohl bloß die Freude am Drücken großer roter Knöpfe. Wie für Kleinkinder.

Dieses Mal begebe auch ich mich in die Umtriebigkeit. Stehe früher auf, als eigentlich nötig ist. Ich bin schnell zu Fuß und sitze zum Gang hin und doch braucht man die Sicherheit, ja noch raus zu kommen. Denn das hier ist immerhin die wichtigste Haltestelle. Meine Haltestelle.

Eine ruckartige Bremsung und die Türen geben jäh den Ausgang preis. Etwas Drängeln und Schieben. Ein paar stramme Schritte und der Bus fährt weiter. Die Fahrt ist zu Ende. Die nasskalte Luft umfängt mich. Der Bus war warm; hier ist es kalt. Neue Geräusche und Gerüche umgeben mich. Neben dem gelben Schild warten die Reisenden. Zigarettenqualm. Geschnatter von zwei alten Damen. Essensgeruch von weiter weg. Und unter allem liegt der kalte Geruch von nasser Blumenerde.

Unweigerlich muss ich an mir riechen, doch ich bin es nicht. Ich rieche in die Luft. Es lässt sich keine Richtung ausmachen. Kein Ursprung. Der Geruch scheint von überall zu kommen.

 

Ein Rascheln . Ein Schwarm Tauben stiebt von einem gegenüberliegenden Dach davon. Sie wiegen wie eine Welle in der Luft. Immer im Kreis um die Häuserfronten herum. Ein Rabe stimmt krächzend in das Schnattern und Rascheln ein. Unruhig wippt sein Kopf auf und ab, doch er steht beharrlich auf den Dächern. Sein Blick auf eine regungslose Gestalt gerichtet. Inmitten der Stadtvögel sitzt ein Bussard. Unauffällig, mit seinem braunen Gefieder bildet er fast eine Einheit mit den tristen Fassaden und den verwitterten Ziegeln der Dächer. Nur unmerklich größer als der Rabe und einen Hauch dunkler im Gefieder als die Tauben, sitzt er dort.

Aus dem Grau der Häuser löst sich ein Bus. Wie eine Boje bricht er aus der Welle aus Tauben. Die Türen gehen auf und Menschen schwappen wie die Brandung durch die Türen. Und mit jedem Atemzug zieht auch der Geruch von nasser Blumenerde vorbei.