Kategorie: ‘Veranstaltungen’
Das Buch ist tot – Es lebe das Buch!
„Es geht uns mit Büchern wie mit den Menschen. Wir machen zwar viele Bekanntschaften, aber nur wenige erwählen wir zu unseren Freunden.“ (Ludwig Feuerbach)
Die Türglocke klingelt. Ein kleiner Raum, der durch seine deckenhohen Regale verwinkelt erscheint: Geheimnisvolle Atmosphäre. Wenig Platz für aufwendige Dekorationen und Nippes, dafür eine schier endlose Aneinanderreihung von Buchrücken. Zu viele, um sie auf einen Blick zu erfassen. Wer hier etwas auf die Schnelle sucht, muss einen der fachkundigen Buchhändler fragen. Alle anderen lädt die kleine aber feine Buchhandlung in Aachen zum Stöbern ein.
Fast die Hälfte des Buchumsatzes bestreitet der Sortimentsbuchhandel mit 48,2 Prozent. Dahinter positioniert sich mit 20,9 Prozent der Verkauf durch die Verlage. Internetbuchhandel nimmt in Deutschland 2015 lediglich 17,4 Prozent ein. Der durchschnittliche Ladenpreis eines gedruckten Buches liegt bei 14,95 Euro. Trotz gestiegener Medienkonkurrenz ist in den letzten zehn Jahren die Kaufkraft an gedruckten Büchern nahezu stabil geblieben. Eine Umfrage hat ergeben, dass der beliebteste Leseort das Sofa oder der Sessel ist.
Ein Durchgangszimmer. Beide Seiten mit Regalen verziert, die bis unter die Decke reichen. Auf ihnen stehen Buchrücken an Buchrücken aneinandergereiht. Der Anblick überwältigt, die Farbe an den Wänden ist nicht mehr zu erkennen. Zwei tiefe Sessel laden zum gemütlichen Verweilen ein. Gleich daneben bietet das Büro einen ähnlichen Anblick. Mit einer Ausnahme: Hier findet noch ein Schreibtisch Platz. Der Autor Christoph Leisten (56) schreibt seit 1996. Bisher hat er zwei Prosawerke und vier Gedichtbände beim Rimbaud-Verlag in Aachen veröffentlicht.
Die prächtige Glasfassade einer großen Buchhandelskette in Aachen bietet ein beeindruckendes Bild. Im Inneren fühlt man sich wie in einem Bienenstock. Überall herrscht reges Treiben, trotzdem findet man die nötige Ruhe, um entspannt die Regale entlangstreifen zu können. „Dass sich unsere Kunden wohlfühlen, ist uns sehr wichtig“, erläutert Benjamin Schell, Pressesprecher. Die zahlreichen Leseecken, das hauseigene Café oder die Arbeitsplätze auf der obersten Etage, überall kann man für eine Weile dem Alltagstrott entfliehen. Trotz der riesigen Auswahl sei das gedruckte Buch für die Buchhandlung immer noch das wichtigste Kulturgut, erklärt Schell. „Gedruckte Bücher erfinden sich immer wieder neu, weil sie mit der Zeit gehen.“
Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels berichtet: „Bücher sind unverzichtbar für die Entwicklung unserer Gesellschaft und deren Ideale.“
Geschätzter Umsatz des deutschen Buchhandels stagniert in den letzten 15 Jahren zwischen 9,4 und 9,2 Mrd. Euro. Sind Verkaufsplattformen im Internet eine große Konkurrenz? Die große Buch-handlung in Aachen grenzt sich davon ab. „Wir sind persönlicher als das Internet“, erklärt Schell. Zwar bekomme man dort Buchvorschläge, aber diese seien nach bestimmten Logarithmen geschaltet und können keine kompetente Beratung durch einen fachkundigen Buchhändler ersetzen. Lyriker und Buchautor Christoph Leisten beurteilt die Lage so: „Große Ketten ziehen viel Laufkundschaft an, daher ist das Internet eher für sie eine Konkurrenz, wenn auch eine geringe.“ Kleine Buchläden aber seien durch dieses Angebot nicht bedroht, da sie einen soliden Kundenstamm haben. Woher er das so genau weiß? Als Student hat er in der Würselener Buchhandlung von Martin Schulz gejobbt.
Der Umschlag sieht aus wie ein Päckchen von DHL. Realistisch gestaltet, mit Absenderadresse und Barcode. Unten der Hinweis, es vor Regen zu schützen. Die Haptik: Für den Buchkäufer ein entscheidendes Kriterium. Wenn das Cover die Aufmerksamkeit erregt hat, ent-scheidet sich nach dem Lesen des Klappentextes, ob man das Buch kauft. Zuhause angekommen, reißt man „Das Paket“ von Sebastian Fitzek ungeduldig auf. Mit dem Geruch frischer Druckerschwärze in der Nase schlägt man das erste Kapitel einer neuen Welt auf.
Bis auf die Schiebetüren und den typischen Bankteppich zeugt in der Stadtbibliothek Köln Ehrenfeld nichts mehr davon, dass dieses Gebäude eine ehemalige Sparkassen-Filiale ist. Der Eingangsbe-reich ist großzügig angelegt. Mittig positioniert stehen DVDs. Auf der rechten Seite ist ein breites Angebot an Sachliteratur und Romanen zu finden. Links die gemütliche Kinderecke. In der Nische an der Wand sitzt ein Vater mit seiner vierjährigen Tochter zusammen mit dem Buch Ein Geburtstagsfest für Lieselotte. Aufgeregt trippelt ein zweijähriger Junge Richtung Bücherkiste. Für die ganz Kleinen gibt es extra dicke Pappbilderbücher.
„Gedruckte Bücher sind für mich Lebensbegleiter, sie sind von einer eigenen Aura umgeben, die ihre elektronische Version niemals haben kann“, erklärt Christoph Leisten.
Klein, handlich, kompakt: Der E-Book-Reader. Ob der Kindle von Amazon, die E-Ausleihe der Bibliotheken oder die i-Book-App von Apple: Sie alle machen es möglich, Bücher digital zu lesen. Mittlerweile kann man fast überall E-Book-Reader kaufen. „Im Vergleich zum gedruckten Buch, ist der E-Book-Verkauf relativ gering“, klärt Benjamin Schell auf.
Bücher digital zu lesen, hat Vorteile: Der Koffer für den Urlaub ist nicht mehr zu Dreiviertel mit Büchern vollgestopft, weil man sie bequem auf den Reader laden kann. Und abends im Bett braucht man kein zusätzliches Licht zum Lesen. Für Christoph Leisten sind E-Books rein pragmatisch. „Wenn ich reise, lade ich gerne Nachschlagewerke auf meinen Reader, damit ich sie nicht schleppen muss.“ Und Christoph Leisten reist oft. In Marokko war er bereits über vierzig Mal. Über seine Erfahrungen in diesem Land schreibt er in Marrakesch, Djemaa el Fna und Argana. Notizen aus Marokko.
„Eine gute Bibliothek ist immer eine Begegnungsstätte. Ich sage immer: Man kommt wegen der Medien und bleibt wegen der Menschen!“ Cordula Nötzelmann, Leiterin der Kölner Zweigstellen, beantwortet damit die Frage, warum die Bibliotheken so großen Zulauf haben. 2016 besuchten in Deutschland 119. Mio. Menschen öffentliche Bibliotheken und liehen dort 450. Mio. Medien aus.
Während die öffentlichen Bibliotheken mit einem vielfältigen Angebot an gedruckten Büchern und digitalen Medien punkten, hat sich die Deutsche Nationalbibliothek längst von ihren Büchern verabschiedet. Statt gedruckten Büchern stehen den Nutzern nur noch E-Books zur Verfügung. Argumente für die Umstrukturierung: Gedruckte Bücher wiesen irgendwann Gebrauchsspuren auf und Reparaturen seien kostspielig. Lieber verbannt man die wertvollen Artefakte in den Keller, wo ihnen keiner mehr Leid zufügen kann.
Bücher haben Charakter, gerade weil sie gelesen werden. Eine Stammkundin aus Köln Ehrenfeld erzählt: „Ich leihe hauptsächlich Koch- und Backbücher aus, weil ich gerne neue Dinge ausprobiere.“ Auf die Frage, warum sie diese nicht in der Buchhandlung kauft, gesteht sie mit einem verlegenen Grinsen, da stünden keine Anmerkungen drin. Für die Bibliotheken, egal ob öffentlich oder wissenschaftlich, ein altbekanntes Problem: Die Notizen am Rand.
Unscheinbare Kästen erobern das Land. Zwei Seiten aus Glas, der Rest umgeben von einer edlen, dunklen Holzvertäfelung, Viele Passanten laufen in Aachen um den mysteriösen Kasten Ecke Passstraße/Grüner Weg herum, aber dennoch an ihm vorbei. Die Meisten sind zu sehr mit ihren Smartphones beschäftigt. Von der Passstraße aus nähert sich eine etwa Siebzigjährige Dame mit ihrem Enkel. Der fünfjährige Junge hat seine dicke Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Als sie vor der Glasvitrine stehen bleiben, bilden sich vor ihren Gesichtern weiße Atemwolken. Was verbirgt der Kasten? Richtig, Bücher! Die Beiden stehen vor einem öffentlichen Bücherschrank. Darin findet sich eine breite Auswahl: Hemingway neben Rosamunde Pilcher, Emilia Galotti neben Harry Potter.
Das Projekt der öffentlichen Bücherschränke wird in Aachen seit Winter 2012 von der IG Aachener Portal e.V. gefördert. Damit wird Menschen kostenlos Literatur zur Verfügung gestellt. Vor allem sozial Benachteiligte haben so die Möglichkeit an Lesestoff zu gelangen. Das Projekt lebt ausschließlich durch die Partizipation der Nutzer. Wer ein Buch mitnimmt, kann es entweder zurückbringen oder ein anderes, lesenswertes Buch hineinstellen.
„Einige Bücher verlieren mit der Zeit ihre Bedeutung, einige bleiben bedeutend und andere gewinnen ihre Bedeutung erst nach Jahren“, so Leisten. Bücher seien Auslöser für Erinnerungen und Emotionen, erklärt er und sagt, dass er kein Buch weggeben kann. Für ihn sind seine Bücher ein Stück seiner Seele.
Personennahverkehr in Hamburg. Menschen aller Altersklassen tummeln sich in den VHH-Bussen. Einige von ihnen müssen zur Schule, andere haben Termine beim Arzt oder müssen zur Arbeit. In vielen Städten schauen Fahrgäste gelangweilt aus den Fenstern und sind dem gewöhnungsbedürftigen Musikgeschmack ihrer Nachbarn ausgeliefert. Nicht so in den Hamburger Bussen. Gleich hinter der Fahrerkabine ist ein rotes Regal montiert. Darauf stehen Bücher, die während der Fahrt von den Fahrgästen gelesen werden dürfen. Und auch darüber hinaus dürfen die Bücher genutzt werden: Ähnlich wie bei den Bücherschränken, funktioniert das System der sogenannten „Buchhaltestellen“. Das Gebrauchtwarenkaufhaus STILBRUCH hat die Bücherbusse ins Leben gerufen. Seit 2010 existiert die Kooperation mit der VHH, die mittlerweile über 100 Buchhaltestellen installiert hat.
„Wenn du nicht all deine Bücher lesen kannst, dann nehme sie wenigstens zur Hand, streichle ein wenig über sie, schau’ etwas hinein, lasse sie irgendwo auffallen und lese die ersten Sätze, auf die dein Auge fällt, stelle sie selbst aufs Bord zurück, ordne sie nach deinen Vorstellungen so, daß du wenigstens weißt, wo sie sind. Lass’ sie deine Freunde ein; lasse sie auf alle Fälle deine Bekannten sein.“ (Winston Churchill)
Aachen. Hier findet jährlich im September die COMICADE-Messe statt. Das Besondere: Mehr als fünfzig hochkarätige Comic-Zeichner lassen sich vor Ort bei der Arbeit über die Schulter schauen. Und Kreative dürfen in Zeichenkursen ihr Können unter Beweis stellen. Auf Buchmessen kann man in die faszinierende Welt der Literatur eintauchen. Das Angebot ist nicht nur auf Bücher beschränkt. Im Programm: Lesungen, Vorträge und Preisverleihungen. Messen sind nicht nur für Verleger, Agenten und Buchhändler interessant, sondern auch für Leser.
Zuversicht in die Leser hat die Vertrauensbibliothek auf der Insel Langeoog seit vielen Jahren. Einheimische und Touristen können sich hier sprichwörtlich bedienen. So kann man seinen Urlaub entspannt mit unvorhergesehener Leselektüre erweitern. Es wird darauf vertraut, dass die Bücher ihren Weg zurück finden. Dank um-fangreicher Schenkungen umfasst der Be-stand rund 3000 Bücher.
„Ich mag es, wenn man Büchern ansieht, dass sie gelesen worden sind. Das macht ihren persönlichen Charme aus“, erzählt Benjamin Schell.
Freitag 13.00 Uhr. Das Kloster in Sankt Augustin öffnet seine Tore. Ein riesiger Raum mit einer gewölbten Decke erstreckt sich. Es riecht nach Staub und Papier. Die Gänge sind schmal, teilweise verwinkelt. Auf jeder Seite Regale, vollgestopft mit Büchern. Auf dem Bücherflohmarkt der Steyler Missionare kann man jeden Freitag von 13. bis 16. Uhr Bücher zum Kilopreis ergattern. Hauptsächlich Theologie und Kirchengeschichte, aber auch an Romanen und Sachbüchern mangelt es nicht. In der Kinderecke jubelt ein zehnjähriger Junge und läuft aufgeregt zu seiner Mutter, die nicht weit entfernt bei den Kochbüchern steht: In seinen Händen Der Räuber Hotzenplotz. Die Einnahmen spendet das Kloster an gemeinnützige Organisationen weltweit. So versucht das Kloster die Welt durch Bücher ein Stückchen besser machen. Ein Besuch lohnt sich allemal.
Bücher zu lesen, erweitert den Horizont. Nicht umsonst heißt es: „Lesen bildet!“ Bücher entführen den Leser in andere Welten. Sie sind Lebensbegleiter, ob nun beim Aufschlagen oder Zuklappen eines Kapitels. Ihre Art und Weise Geschichten zu erzählen und damit den Leser zu faszinieren, wird niemals aussterben. Es lebe das Buch!
5 spannende Fragen über Bücher:
Wie viele Seiten muss ein Buch haben, um ein Buch zu sein? 49 Seiten, das hat die UNESCO beschlossen!
Was ist das teuerste Buch und wem gehört es? Der Codex Leichester von Leonardo da Vinci. Bill Gates hat es 1994 gekauft. Heute liegt der geschätzte Wert des Buches bei 49 Mio. US-Dollar.
Was ist das meistverkaufte Buch aller Zeiten? Die Bibel mit bis zu 6 Mrd. Ausgaben.
Welches Buch wird am häufigsten gestohlen? Das Guinness Buch der Rekorde.
Was war das erste Buch, das auf einer Schreibmaschine geschrieben wurde? „Tom Sawyers Abenteuer“ von Mark Twain entstand 1874 als erstes Buch auf der Schreibmaschine.
Werke von Christoph Leisten:
▶ Argana. Notizen aus Marokko (Prosawerk) 2016
▶ bis zur schwerelosigkeit. (Gedichte) 2010
▶ der mond vergebens. (Gedichte aus zehn Jahren) 2006
▶ Marrakesch, Djemaa el Fna (Prosawerk) 2005
▶ In diesem licht. (Gedichte) 2003
▶ Entfernte Nähe. (Gedichte) 2001
Regenzeit – ZKS Story
Draußen regnet’s und ihr habt Lust auf Pizza? Da haben wir jetzt genau das Richtige für euch: eine Kurzgeschichte aus unserem Oberseminar: Texte in Arbeit.
Christine Hendriks versteht wie man unsere Gesellschaft durch eine scheinbar subtile Alltagssituation kritisieren kann. Taucht ein in die Zukunft mit quadratischer Paprikapizza und gefährlichem Regen und/oder gefährlichem Reden…
Regenzeit
Fira ist mit ihrer Mutter in der Innenstadt unterwegs. Es ist warm und regnet in Strömen wie jedes Jahr an Weihnachten. Graue Rinnsale umspülen ihre Gummistiefel.
Gut, dass ich dein Kleid eben noch imprägniert habe. Firas Mutter hat es eilig.
Mama, ich hab Hunger. Keine Antwort. Fira versucht mit den großen Schritten mitzuhalten. Eine Windböe weht ihr beinahe den Regenhut vom Kopf.
Seufz. Ihre Mutter bleibt stehen, drückt ihr den Hut fest auf den Kopf und macht den Gummizug einhändig fest. Der Regen ist ungesund.
Ich weiß. Mama, ich hab HUNGER!
Quälgeist.
Fira lacht zufrieden. Sie lassen sich zu einer kleinen Pizzeria führen. Es ist voll und der Boden bedeckt mit Pfützen. An der Theke sind noch drei Hocker frei. Fira betrachtet die Abbildungen und sucht sich eine Pizza mit Paprika aus. Die hatte ihre Oma früher immer gebacken, mit roten Paprika von ihrem Balkon. Leider war sie vor zwei Jahren bei einem Unwetter gestorben und den Balkon gab es auch nicht mehr. Fira bestätigt ihre Wahl. Vielen Dank für ihre Bestellung. Noch 15 Minuten bis zum Servieren.
Kind, du musst was trinken.
Fira nickt und schlürft die Cola durch einen dicken Strohhalm. Dabei zeigt sie ihrer Mutter die Ergebnisse vom letzten Test in Rechtschreibung.
Fast kein Fehler, sehr schön. Daumen hoch.
Fira freut sich.
Noch 10 Minuten bis zum Servieren. Sie schaut aus dem Fenster auf die Straße. Die Wassermassen sammeln sich in einer Rinne in der Mitte der Straße und fließen von da aus in den großen Kanalschacht. Menschen laufen mit gelben Plastikrucksäcken am Fenster vorbei. Es kribbelt in Firas Händen.
Schau mal. Ein alter Mann steht in der Tür der Pizzeria. Er trägt ein unförmiges Regencape und schüttelt einen Stock mit einer Halbkugel aus Stoff, sodass Regentropfen in alle Richtungen spritzen. Die Leute rümpfen die Nase und drehen sich weg. Er faltet das Ding zusammen und lässt seine glänzenden Augen über die Tische gleiten. Schließlich fällt sein Blick auf den letzten freien Hocker neben Fira. Er lächelt und setzt sich.
Mama, ich hab Angst.
Das ist nur ein Stummer. Und vor dem Schirm brauchst du keine Angst zu haben. Fira betrachtet ihn aus dem Augenwinkel, während er den Plastikumhang ablegt. Darunter kommen oben ein weißes Shirt mit hohem Kragen mit zwei spitzen Ecken und unten eine grobe blaue Hose zum Vorschein. Das sieht komisch aus.
Mama, er imprägniert nicht. Warum?
Er ist zurückgeblieben.
Noch 5 Minuten bis zum Servieren. Fira spürt das Grummeln in ihrem Bauch, aber der alte Mann hat ihre Neugier geweckt. Sie will ihn kontaktieren. − Er hat keine Nummer! Ihr Blick fällt auf seine leeren Hände und Fira zuckt zusammen. Er ist wirklich stumm. Der Mann schaut die Bedienung an und macht merkwürdige Gesten. Fira versteht nicht, was er meint, aber die Frau scheint ihn zu kennen. Sie stellt ihm mit der rechten Hand einen großen Bierkrug hin. Er nimmt ihn in beide Hände und hebt ihn direkt an den Mund. Igitt. Fira schüttelt sich. Kann er denn nicht das Trinkrohr benutzen? Sie schlürft an ihrer Cola.
Hier ist deine Pizza. Die Bedienung balanciert einen Teller vor sie hin. Darauf ist die viereckige Paprikapizza, in handliche Quadrate geschnitten. Fira entkoppelt ihre rechte Hand vom Sel-phone, nimmt sich ein Stück und beginnt zu essen.
„Guten Appetit, Kleine.“ Fira schielt zu dem alten Mann hoch, als sie die merkwürdigen Laute hört. Seine Augen schauen sie aus tiefen Höhlen an und er bewegt die Lippen.
Mama, ich mag keine Stummen.
Er tut dir nichts. Lass es dir schmecken.
Acht
Vor was haben wir eigentlich heute noch Angst? Krankheit, Einsamkeit oder doch der guten alten Spinne? Beate Böker hat in unserem Seminar: Texte in Arbeit eine ergreifende Kurzgeschichte geschrieben. Irgendwo zwischen Fiktion und Zukunft. Los geht`s in Zehn, Neun:
Acht
Nur noch eine Viertelstunde bis Feierabend. Dann einkaufen, kochen und den Rest des Abends gemeinsam fernsehen. Wir sind froh, wenn wir hier raus kommen.
Im Büro ist alles wie üblich. Die Kollegen schauen unauffällig hinüber, doch sobald ich ihre gaffenden Blicke erwidert möchte, sehen sie weg und tun so, als seien sie beschäftigt. Doch ich weiß, dass sie mich anstarren. Ich spüre ihre Blicke wieder, sobald ich nicht mehr hinsehe. Sie lassen mich nicht aus den Augen. Wahrscheinlich raten ihnen ihre Instinkte, mich gleich an Ort und Stelle zu beseitigen, wie sie es üblicherweise tun würden, wenn sie mir in ihren Kellern oder Garagen begegnen.
Jasmins Finger tanzen unter mir über die Tastatur. Sie ignoriert die Blicke; wahrscheinlich bemerkt sie die Gaffer gar nicht mehr. Menschen sind immerhin Gewohnheitstiere, so viel habe ich schon herausgefunden. Ich hingegen bin mir nicht sicher, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde. Ich bin schließlich eine Spinne.
Bei einem Verkehrsunfall wurde ein großer Teil von Jasmins Gehirn zerstört. Dank einer neuartigen Behandlungsmethode hat sie überlebt: Mein Körper sitzt in Jasmins Schädel und ersetzt die fehlenden Teile ihres Hirns. Die Folgen sind für uns beide akzeptabel. Wenn Jasmin schläft, sehe ich, was sie träumt. Eigenartigerweise kann ich ihre Gedanken nicht lesen, wenn sie wach ist – sie aber dafür meine. Das ist praktisch, weil sie dadurch direkt weiß, wenn ich hungrig bin.
Meine haarigen Beine hängen rechts und links an ihrem Kopf herunter. Über ihrer Stirn, dort wo einst der Haaransatz war, sitzen jetzt meine Beißer und direkt darüber meine acht Augen. Alles was Jasmin sieht, sehe ich also auch.
Jasmin fährt danach endlich den Rechner runter und packt ihre Sachen. Wir verlassen das Büro. Ich kann eine Welle der Erleichterung hinter uns spüren, ein Aufatmen, als seien die Kollegen froh, dass wir endlich weg sind.
Auf dem Korridor stehen einige Leute vor dem Aufzug. Als sie uns kommen sehen, entschließen sie sich plötzlich alle gleichzeitig dazu, die Treppe zu nehmen. Sie grüßen Jasmin zwar höflich im Vorbeigehen, doch ihre Körperhaltung und ihr gezwungenes Vermeiden von Blickkontakt erinnern an Flucht.
Während wir zu seichtem Aufzug-Swing nach unten fahren, mache ich mir Gedanken, wie Jasmin es wohl empfindet, von allen gemieden zu werden. Es hat lange gedauert, aber irgendwann habe ich begriffen, dass Menschen Rudeltiere sind und Gesellschaft mit ihresgleichen suchen.
Ruiniere ich ihr Leben, weil sie meinetwegen keinen Anschluss findet? Oder ruiniert sie meines, weil man mich, um sie zu retten, aus dem Dschungel Sumatras entführt und auf einen Menschenkopf in Deutschland verpflanzt hat? Ich könnte im Urwald das gewöhnliche Leben einer Spinne leben, aber auch mir bleibt die Möglichkeit ein normales Leben zu führen für immer versagt.
„Zerbrich dir nicht unseren Kopf!“, sagt Jasmin und schiebt mir einen Keks zwischen die Beißer, wie immer, wenn ich solchen Gedanken nachgehe.
Ich mag Kekse. Aber sie lösen das Problem nicht. Nicht auf Dauer.
ZKS Story – Fahr doch mal mit
Ferienzeit ist Reisezeit! Pünktlich dazu eine Kurzgeschichte aus der Feder von Marie Ludwig aus unserem Oberseminar: Texte in Arbeit. Wir wünschen euch schöne Feiertage und falls ihr auf Reisen geht, eine gute Fahrt!
Fahr doch mal mit
Eine Kurzgeschichte von Marie Ludwig
Bunte Lichter, laute Musik und eine unwahrscheinliche Hitze – auf den ersten Blick würde man denken, dass ich mich in einer Disco befände. Doch dem ist nicht so! Ich bin auf der A3. Genau genommen zwischen Oberhausen und Düsseldorf in einer proppenvollen Mitfahrgelegenheit: Zehn Menschen, die sich wohl nie auf „normalem“ Wege begegnet wären, noch eine verbliebene Stunde Fahrt und ich mittendrin. „Was war die verrückteste Geschichte, die du in deinem Leben jemals erlebt hast“, frage ich mich im Stillen, während ich ein Guckloch in das beschlagene Fenster wische: diese Fahrt ist sicherlich eine von solchen Geschichten, die man nur einmal erlebt.
Ich saß auf meinem Koffer an der U-Bahn-Station Friedrichsstraße in Berlin. Relativ zufrieden mit mir, dass ich das Mistding durch drei U-Bahnen, zwei Treppen ohne Rollfunktion und tausend drängelnde Menschenmassen katapultiert hatte. Alles lief nach Plan: Ich hatte die Kofferaktion überstanden, mir sogar noch ein fluffiges Croissant organisiert und ich hatte eine Mitfahrgelegenheit, die mich in 10 Minuten an ebendiesem Punkt abholen sollte. Gebannt beobachtete ich die Kennzeichen der Autos, die auf den Vorplatz der U-Bahnstation fuhren. Ich hatte gerade einen besonders großen Fetzen von meinem Croissant abgerissen, als ich ihn sah: Der weiße Transporter rollte auf mich zu und hielt mit der Stoßstange unmittelbar vor meiner Nase. Meine Augen, die voller Erstaunen bisher nur das Nummernschild wahrgenommen hatten, schweiften nach oben und starrten in das Gesicht des Fahrers Jerome. Dieser nickte mir zu, beugte sich aus dem Fenster und fragte: „Du Marie?“ Ich nickte, konnte mich aber nicht aus meiner Schockstarre herauswinden. Der circa 50-jährige Mann hinter dem Steuer des Wagens hätte einem Jerome nicht unähnlicher sein können. Dicke Pranken, auf einem mit grauem Plüsch besetzten Lenker. Dahinter ein voluminöser Körper, der mit seiner spärlichen Kopfbehaarung bis an die Autodecke reichte. Mit der linken Hand aus dem Fenster gestikulierend, gab mir Jerome zu verstehen, dass ich mich ins Auto bewegen sollte. Ich schluckte, schlang die Überreste des Croissants herunter und wuchtete meinen Koffer in Richtung Seitentüre.
Die Tür öffnete sich mit Wucht, und ich blickte in die Gesichter von sieben Menschen. Sieben Menschen, die sich scheinbar nicht besonders freuten mich zu sehen. „Ähm Jerome, du bist dir sicher, dass ich da noch reinpasse“, fragte ich kleinlaut durch den Schlitz zwischen Fenster und seinem speckigen Nacken. „Ich nix Jerome, Jerome krank! Ich Herr Virtis. Große Auto, viel Platz!“, bemerkte Herr
Virtis selbstzufrieden. Ich beschloss nichts mehr zu sagen und quetschte mich samt Koffer hinter Herr Virtis Sitz. In Embryonalstellung beobachtete ich meine Mitfahrer. Auf der Vorderbank: drei Typen, gleicher Klamottenstil, gleiche Frisuren. In meiner Bank: zwei Mädels, die unterschiedlicher nicht hätten sein können! Die Eine: blond, geschminkt, Minirock, künstliche Fingernägel. Die Andere: Piercings in Lippe und Braue, stämmig, kurze, gegelte Haare. In der letzten Reihe: eine schlafende Person und zwei unscheinbare Typen, die mit ihren Reiserucksäcken auf dem Schoß wenig glücklich dreinschauten. Doch schnell galt meine Aufmerksamkeit nur Einem: Herrn Virtis. Sich lauthals über den Verkehr beschwerend, manövrierte er den Transporter über die noch so kleinste Lücke durch den Berliner Straßenverkehr.
Trotz des wild auf- und abhüpfenden Herrn Virtis war die blonde Extensionschönheit Alina neben mir bereits bei der Autobahnauffahrt eingeschlafen. Während ich interessiert ihren mit Kleber benetzten Wimpernrand und ihr vom Makeup modelliertes Gesicht beobachtete, erfreuten sich die drei Jungs aus der ersten Reihe an Alinas offenstehenden Mund. Aus Verpackungsresten und Spucke bastelten die Sportstudenten kleine Kügelchen, die sie in Alinas Schlund zu versenken versuchten. Nach einer Verpackung Toffifee war es dann endlich soweit: Alina erwachte aus ihrem Schönheitsschlaf und spuckte zahlreiche Kügelchen in ihre Hände. Leicht verwirrt schüttelte sie ihre Haarpracht, wobei etliche Kügelchen auf uns herabschneiten. „Alta, jetzt bin isch voll dreckisch ey!“, keifte sie mehrfach im Auto herum und versuchte sich aus dem Toffifeebälleparadies zu befreien. Die Sportis auf der Vorderbank kugelten sich vor Freude und brachten mit ihren Witzen das ganze Auto in Hochstimmung. Naja, fast das ganze. Herr Virtis hatte nebenbei angefangen lauthals auf Türkisch über Headset zu telefonieren und nahm an dem Geschehen im Auto wenig teil. Inmitten dieses Zusammenspiels von türkischen Impulsivvorträgen, lachenden Fahrgästen und Alinas Hasstirade gegen Kügelchen in Ausschnitt, Haar und Hose, erwachte die schlafende Person auf dem Rücksitz. „Ey, Junge, ich muss mal sicken, jo!“, grummelte er mit benommener Stimme. Herr Virtis, der nicht sonderlich erfreut über die Unterbrechung seines Telefonats schien, drehte sich mit einem „Hä?“ zu uns um. Mit hektischen Handgriffen übernahm einer der Sportis kurzerhand das Steuer. „Du Pipi?“, fragte er mit hochgezogenen Brauen und wendete sich ächzend wieder nach vorn.
An der Raststätte angekommen, rannte der bisher unter der Jacke Verborgene eilends in Richtung der sanitären Anlagen. Als er zurückkehrte, konnte ich ihn zum ersten Mal wirklich wahrnehmen: ein spindeldürres Männlein, Baggyhose, Tanktop, rote Augen und das Kurioseste: drei kunterbunte Gameboys, die an seinem Gürtel befestigt, in seinen Schritt baumelten. Dass diese Elektrogeräte nicht nur für seine persönliche Bespaßung bestimmt waren, sollte ich noch schmerzvoll erfahren. In einigem Durcheinander und einer unglaublichen Redewelle des jüngst erwachten Gameboy-Jonas, stiegen wir zurück ins Auto. Noch zweieinhalb Stunden! Herr Virtis, der sich an der Raststätte mit einigen Snacks versorgt hatte, begann in einem unfassbaren Tempo Sonnenblumenkerne zu naschen. Wie ein Eichhörnchen trennte er Schalen vom Kern und spuckte Ungenießbares auf Armaturenbrett und Fußboden. Unglücklicherweise war jedoch das Fenster einen Spalt breit geöffnet. Vom Fahrtwind erfasst, ergoss sich ein Schalenregen über mich und die hintere Reihe. Ergriffen von diesem rauschenden Lautstärkepegel verkündet Gameboy-Jonas, dass er DJ sei und in Berlin bei einer „3-Tage-wach-Party“ aufgelegt habe. Alina, die der Toffiefeekampf stark gezeichnet hatte, drehte sich zu ihm um und verlangte nach einer Hörprobe. Ein Fehler!
Und da sitze ich nun. Irgendwo auf der A3. In einem weißen Transporter mit Entertainmentprogramm. Denn Jonas hat seine Gameboys nicht umsonst mit dabei. Zwischen Tetres- und Super-Mario-Sounds packt er zur visuellen Unterstützung einen Mini-Beamer aus, über welchen wir zahlreiche seiner Auftritte an der Autodecke miterleben dürfen. Nach einer Viertelstunde haben wir alle das Verlangen, dass Düsseldorf schnell in Sicht kommen möge! Nach einer halben Stunde versuchen wir Jonas klarzumachen, dass wir seine Musik schätzen, uns aber die bisherige Vorführung reichen würde. Nach einer Dreiviertelstunde steht die Stimmung im Auto an der Grenze zur Eskalation. Die Sportis und meine Reihe verlangen eindringlich, dass Jonas die Musik abdrehen soll. Die Rucksackfraktion neben ihm scheint bereits fertig mit der Welt zu sein. Von ihnen ist kein Lebenszeichen mehr zu vernehmen. Gameboy-Jonas scheint dies alles nicht zu stören; ekstatisch bewegt er sich zu den Rhythmen seiner Musik.
Als die rollende Gameboydisco nach einer Stunde Dauerbeschallung endlich auf den Düsseldorfer Parkplatz am HBF rollt, dröhnt es in meinem Kopf. Extension-Alina wirft sich schluchzend in die Arme eines muskelbepackten Sonnenstudiohelden, während ich mit einem Grinsen beobachte, wie der Rest der Besatzung fluchtartig in alle Richtungen davonströmt. Nur einer scheint nicht gehen zu wollen: Jonas packt mit sehnsüchtigem Blick seine Gameboys in den Rucksack, zieht seine Jacke an, bedankt sich für die tolle Fahrt und geht auf einen Mann in Anzug vor einer Mercedesklasse zu. Optisch scheint sein Vater die Leidenschaft für Gameboys wohl nicht zu teilen. Herr Virtis hingegen wartet ungeduldig darauf, dass seine zehn neuen Mitfahrer endlich Platz genommen haben. Diese blicken den vermeintlichen Jerome genauso ungläubig an wie ich am Morgen. Ich versichere ihnen mit einem Lachen, dass Herr Virtis ein ganz toller Fahrer sei und beobachte grinsend, wie der Transporter mit einem Affenzahn vom Parkplatz zurück in Richtung Berlin brettert.
Als ich am selben Abend unter der Dusche stehe und versonnen die Tetresmusik summe, fällt mein Blick auf das Abflussgitter: Ein Fetzen Toffifeepapier und einige Sonnenblumenkerne wirbeln im Wasser umher. Von dieser Fahrt habe ich doch wohl mehr mitgenommen, als ich dachte.
Auf ein Neues
Die Semesterferien sind da und auch die letzten Texte aus unserem Business-Writing-Kurs trudeln bei uns ein. Über mehrere Monate sind in Kooperation mit der IVU spannende Texte über Projekte des Unternehmens entstanden, die wir zusammen mit der Unternehmenskommunikation der IVU verfeinert haben. Wer von euch auch gerne einen Businesss-Writing-Kurs belegen möchte, kann sich freuen: Nächstes Jahr im Sommersemester findet der Kurs wieder statt.
Inzwischen ist das neue Kursangebot für das Wintersemester 2014/2015 online: Vom Kreativen Schreiben, über Journalistisches Schreiben bis hin zum Training Schriftsprache und Wissenschaftlichem Schreiben ist für jeden was dabei! Auch eine Lange Nacht der aufgeschobenen Hausarbeiten wird es im Februar 2015 wieder geben.
Die Anmeldephase beginnt bei uns am 01. August 2014. Wer Lust hat, im September schon durchzustarten: Frau Münzberg von der Duden-Redaktion kommt wieder zu uns und wird die Crashkurse „Gefühltes Komma ‒ richtiges Komma?“ – Zeichensetzung (Termin: 25.09.2014, 11.00 – 13.00 Uhr) und Zweifelsfälle: deutsche Grammatik in zwei Stunden (Termin: 30.09.2014, 11.00 – 13.00 Uhr) halten.
Anmelden könnt Ihr euch wie gewohnt unter Campus: Sommersemester 2014/Interdiziplinäres Lehrangebot/Sprache.
Wir wünschen euch sonnige und entspannte Ferien und freuen uns euch bald wieder in den Kursen vom ZKS zu sehen.