„Texte in Arbeit“, Release – Ein U-Boot in Berlin, Celine Lang
Die folgende Erzählung von Celine Lang ist entstanden im Kurs „Texte in Arbeit“. In verschiedenen Szenen erzählt sie das bewegte Leben von Gertrude Sandmann.
Gertrude Sandmann (1893–1981) war eine deutsche Künstlerin jüdischer Herkunft. Sie studierte zunächst im Verein der Berliner Künstlerinnen, später an der Berliner Akademie der Künste und spezialisierte sich auf Zeichnungen und Malerei. Im Jahr 1935 erhielt sie Berufsverbot. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung und ihrer lesbischen Identität wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt, überlebte aber in der Illegalität in Berlin. Nach 1945 engagierte sie sich für Frauenrechte und war Mitbegründerin der „L 74“ – einer Gruppe für ältere lesbische Frauen. Ihre Kunst thematisiert häufig weibliche Körper, Alter und Verletzlichkeit. Sandmann blieb künstlerisch aktiv bis zu ihrem Tod und gilt als wichtige Stimme der deutschen Nachkriegskunst.
Ein U-Boot in Berlin –
die Künstlerin Gertrude Sandmann
Als „U-Boot“ bezeichneten sich Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit durch Helfende – später als „Judenretter“ bekannt – versteckt wurden.
Im Toppkeller (1926)
Der Toppkeller und das Eldorado waren bekannte Treffpunkte queeren Lebens im Berlin der 1920er Jahre. Für Gertrude Sandmann war ihr Lesbisch-Sein ein Vorteil, besonders als Künstlerin. Sie beschrieb es sinngemäß als großes Glück, da sie dadurch weniger in die damals herrschende Rolle der Frau gedrängt und sie in ihrem persönlichen Wachstum und Arbeitsdrang nicht gebremst wurde.
Dichte Rauchschwaden ziehen durch den Vorraum. Einige Herren – gut betucht, wie es scheint – drehen sich nach ihr um. Trude nimmt wahr, wie die Männer-Augen über ihren Körper wandern, sie mustern. Ist es Interesse, Schaulust, Verlangen? All das kennt sie gut. Der Grund für ihr eigenes Erscheinen an diesem Abend liegt dem auch nicht fern. Eine der Empfangsdamen bläst ihr Zigarrenrauch direkt ins Gesicht. Die Frau ist deutlich älter als sie selbst und sieht dennoch reizend aus in den schwarz-grau gestreiften Pantalons und der dunklen Weste über dem weißen Hemd. Mehr als ein keckes Lächeln kann sie ihr allerdings nicht entlocken. Trude bahnt sich den Weg durch die Grüppchen, denen ein weiteres Vordringen verwehrt bleibt.
Diese Clubs haben etwas Besonderes – auch wenn sie nicht viel hermachen mit den billigen Lampions und den vom Tanzen abgewetzten Böden: ein Raum voller Frauen, ganz ungeziert und frei. Die pastellfarbenen Töne der Abendgarderobe einiger weniger tanzen bunt durch das übermächtige Schwarz der vielen. Perlenbesetzte Stirnbänder schimmern im gedimmten Licht, ziehen Trudes Aufmerksamkeit mal hierhin, mal dorthin.
„Trude!“, dringt es durch das Stimmengewirr zu ihr. Johnny!
Nervosität steigt unerwartet heftig in Trude auf. Mit ihren knallroten Mary Janes ist sie fast so groß wie Johnny, die sich durch das Menschengewimmel zu ihr hindurch gedrängt hat. Johnny trägt einen schlichten Anzug. Wie gern Trude sie doch malen würde. Ohne den lästigen Stoff.
„Ist sie schon hier? Hast du sie gesehen?“, fragt sie überschwänglich.
„Wie wäre es, wenn du erstmal deinen Mantel ablegst?“, entgegnet Johnny.
„Entschuldige, ich bin etwas aufgeregt.“
„Wer ist das heute Abend nicht?“
Eine Dame betritt die Bühne. Man hört die klackernden Schritte auf dem Parkett, jeden ein bisschen lauter, während das Stimmengewirr langsam verebbt, bis zur vollkommenen Abwesenheit eines jeden Geräusches. Endlich hat die Frau das Mikrofon erreicht.
„Meine verehrten Damen, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Anita heute Abend nicht auftreten wird. Ihre Verfassung verwehrt es ihr.“
Ein empörtes Raunen geht durch den Raum.
„Ich befürchte“, bemerkt eine hagere Frau nicht unweit von Trude, „dass sie selbst an ihrer Verfassung schuld ist. Entweder hat sie die Cognac-Vorräte dezimiert oder wieder einmal zu viel Mehl in der Nase.“
Ihre Begleiterinnen lachen – einige verhohlen, andere schrill. Trude ist enttäuscht. Als sie gehört hat, dass Anita Berber im Toppkeller auftreten sollte, was sich wie ein Lauffeuer unter den Lesbierinnen verbreitete, da hat sie einfach kommen müssen. Seit sie Anders als die anderen im Apollo gesehen hat, ist sie fasziniert von Berber.
„Mach dir nichts daraus“, sagt Johnny nah an ihrer Seite. „Wir haben bestimmt noch mal die Gelegenheit, sie zu sehen. Hier oder im Eldorado.“
„Wie recht du hast, meine Liebe.“
Trude dreht den Kopf und sieht Johnny direkt in die dunklen Augen. Sie lässt den Blick langsam über das Gesicht wandern: Vereinzelt zieren Sommersprossen die schmale Nase, der Bogen der Braue führt zu kleinen Falten um die Augenwinkel, die sich abzuzeichnen beginnen. Die Boten des künftigen Alters sind für Trude genauso schön wie die Spuren der Jugend.
„Johnny, bist du das?“, ruft jemand von fern. Johnny wendet ihr schönes Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme kommt, und Trudes Streifzug endet abrupt.
„Eine Arbeitskollegin. Kannst du mich kurz entbehren?“
Trude nickt, ohne den Blick zu senken. Johnnys Hand gleitet aus der ihren, als sie sich aufmacht und unter den Damen verschwindet. Trude atmet kurz und tief ein, dann lange aus. Sie braucht dringend einen Absinth.
***
Zu spät (1939)
Sandmann musste als Jüdin die Repressalien des Nazi-Regimes ertragen. Sie erhielt bereits 1935 ein Berufsverbot und musste ihren Zweitnamen ändern, um ihre jüdische Abstammung deutlich zu machen. Sie war von der Ausgangssperre und dem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung am öffentlichen Leben betroffen. Die „Arisierung“ bezeichnete die nationalsozialistische Praxis, die jüdische Bevölkerung zu enteignen und sich deren Besitz und Betriebe anzueignen. Obwohl sie ein Visum für England erhielt, blieb sie in Berlin, um ihre kranke Mutter zu pflegen.
Sie verbieten ihr zu arbeiten, stehlen ihr den zweiten Namen und zwingen sie, einen fremden zu tragen: Sara statt Tusnelda. Jüdisch statt germanisch. Doch religiös lebt Trude schon lange nicht mehr, hat der Gemeinde den Rücken gekehrt. Auch wenn sie kein Nationalgefühl hat, einfach nur Mensch ist, so ist Berlin dennoch ihre Heimat. Aber jetzt zählt nur noch Geburt, nicht Zugehörigkeitsgefühl.
Sie blickt sich im Haus um. Die Backsteinmauern, die früher warm und robust erschienen sind, wirken jetzt kalt und brüchig. Dann seid ihr sicher, schreibt ihre Schwester Else in dem Brief, der vor Wut zerknittert auf dem Sekretär liegt.
Er ist schon einige Wochen alt und enthält die triumphierende Mitteilung, dass sie der Arisierung entkommen sind und die Überschreibung des Elternhauses auf ihre Schwester geglückt ist. Doch nur Trude wird hier sicher sein, zumindest vorerst.
Dabei könnte sie schon lange auf und davon sein. Sie hat an so vielen Orten gelebt: Berlin, München, Paris. Auch in Italien und in der Schweiz. Sie hätte jetzt schon in England sein können.
Sie muss sich dringend beruhigen! Ihre Zähne beginnen durch das Knirschen zu schmerzen, und ihr schlankes Gesicht verkrampft sich immer mehr. Es ist ihre Entscheidung gewesen zu bleiben. Das Visum auszuschlagen, um sich um ihre Mutter zu kümmern. Außerdem glaubt sie nicht, dass sie wirklich hätte gehen können. Neu anfangen und für immer fort? Nein. Hier ist ihr Zuhause. Vor einem Monat hat der Krieg begonnen und nun ist es zu spät zu gehen. „Reiß dich zusammen“, ermahnt sie sich selbst.
Sie geht hinüber zum Sekretär, glättet Elses Brief mit der Linken auf der leicht schrägen Holzplatte und nimmt Platz. Sie kann die Antwort nicht länger hinauszögern, zieht ein weißes Blatt aus der Schublade, setzt den Briefkopf auf und hält kurz inne. Trude versucht gar nicht erst, Else zu erklären, wie es ihr geht oder wie ihr Leben Stück für Stück gestohlen wird. Sie ist noch nie eine Frau vieler Worte gewesen, hat immer ihre Bilder sprechen lassen.
Mutter ist gestern Abend gestorben.
***
Flucht (1942)
Die Lage der jüdischen Bevölkerung spitzte sich weiter zu. Es gab immer mehr Deportationen; die Reaktion darauf war entweder Flucht oder Selbstmord. An eine legale Ausreise war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu denken.
Sie kommen. Ich weiß, dass sie kommen. Hastig nehme ich noch eine gefütterte Jacke aus der Kommode. Es ist schließlich Winter. Eine Jacke, die schon etwas aus der Mode ist, aber deren Verschwinden nicht auffallen wird. Ich darf nicht zu viel mitnehmen, sonst werden sie es nicht glauben. Dass ich meine Lebensmittelkarten nicht behalten kann, tut trotzdem weh. Ich spüre meinen Magen jetzt schon vor Leere krampfen.
Ich wende mich nicht noch einmal um, bevor ich die schwere Holztür hinter mir zuziehe. Ich muss es auch gar nicht: Viel zu gut kenne ich diese Mauern, die schon vor einiger Zeit aufgehört haben, mein Zuhause zu sein. Seit Mutter tot ist, sind sie abweisend und unbehaglich. Wo ich jetzt hingehe, wird es schlimmer sein.
Im Haus sieht es ordentlich, aber nicht zu ordentlich aus. Vor allem sieht es nicht nach Flucht aus. Ich kann nicht glauben, dass ich vor kaum einer Viertelstunde meinen Abschiedsbrief geschrieben habe. Ob sie ihn Else wirklich zukommen lassen werden? Wird sie glauben, dass ich es getan habe? Werden sie in der Spree nach mir suchen oder denken, ich sei einer der leblosen Körper in den Gassen von Kreuzberg?
Meine Hände zittern. Die Tränen, die beim Schreiben aus meinen Augen gequollen sind, lasse ich auf dem Papier zurück. Sie müssen es glauben. Meine Schrift ist krakelig und verschmiert, die Sätze sind kaum zusammenhängend. Ich wirke aufgebracht, verzweifelt, hoffnungslos. Und ich bin es auch. Kaum muss ich mich verstellen. Auch das letzte Bisschen haben sie mir entrissen. Onkel und Tante sind längst wer weiß wo oder sogar schon bei Mutter. Alles kriegen sie, die Nazis, aber mich kriegen sie nicht. Und auch nicht meine Bilder.
Ich will überleben, und wenn auch nur aus Trotz. Ich muss es nach Treptow schaffen. Draußen wende ich mich nach Osten.
***
Kammer (1944)
Durch die selbstlose Hilfe der Familie Grossmann, ihrer Lebenspartnerin Hedwig „Johnny“ Koslowski und ihrer Freundin Kitty Kuse war es möglich, Gertrude Sandmann über mehrere Jahre in Berlin zu verstecken. Durch das Rezitieren von Gedichten und mithilfe von Muskelübungen versuchte sie, sich geistig und körperlich fit zu halten.
Bald werd ich dich verlassen,
Fremd in der Fremde gehn
rezitiere ich Eichendorff.
Auf buntbewegten Gassen
Des Lebens Schauspiel sehn
Johnny hat gesagt, dass sie nicht sicher weiß, wann sie das nächste Mal kommen kann.
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht alt.
Das ist jetzt bestimmt schon eine Woche her, vielleicht sogar zehn Tage. Ich muss nachfragen. Frau Grossmann kommt später sicher in die Kammer. Mehr als das ist Sonjas winziges Kinderzimmer nämlich nicht. Ein wenig Brot wäre gut. Gestern hatte ich Brot.
Es fällt mir immer schwerer, mich zu konzentrieren. Falls Johnny etwas zugestoßen ist, würde ich es überhaupt erfahren? Aber daran darf ich nicht denken. Sie hat mir diesen Unterschlupf organisiert, sie kommt regelmäßig vorbei. Johnny lebt! Sie muss einfach leben. Wir alle müssen. Sie kommt bestimmt bald durch diese Tür und ich werde geblendet vom Sonnenlicht, das durch das Küchenfenster fällt. So wie immer.
Schon lange habe ich nicht mehr aus dem Fenster gesehen. Es ist wohl Frühjahr. Im Frühjahr sind Johnny und ich einmal spazieren gegangen. An der Spree entlang. Eine Allee gesäumt von Linden hat uns vom Ufer weggeführt. Es war bitterkalt und ich habe meinen Mantel getragen. Und die Sonne schien an diesem Tag durch die noch jungen Triebe der Linden. Doch dann kann es gar nicht so kalt gewesen sein, wenn die neuen Blätter schon im Begriff waren zu sprießen. Nicht wichtig.
„Siehst du, wie schön das Licht hindurchfällt?“, habe ich Johnny gefragt und mit dem Finger nach oben gezeigt. Sie hat mich angelächelt. Kleine Grübchen, die schmale Oberlippe. Sie hat schön ausgesehen im strahlenden Licht. Wie gern hätte ich sie in diesem Moment geküsst. Es hätte kein überschwänglicher Kuss sein müssen. Ein kurzer, flüchtiger hätte genügt. Ein Kuss, der zum Ausdruck bringt, dass man einen Moment teilt. Da waren wir gerade erst liiert. Es muss 1927 gewesen sein. 17 Jahre ist das jetzt her, vielleicht sogar auf den Tag genau.
Johnny sieht, was ich sehe. Sie sieht die Schönheit im Unscheinbaren. Ein gutes Auge, nicht nur für die Kunst. Wie gerne würde ich zeichnen oder malen, aber das geht nicht. Ich hätte gerne meinen Beruf wieder. Wenn es jetzt Frühjahr ist, dann habe ich schon eineinhalb Jahre nicht mehr gezeichnet. So lange bin ich schon in diesem engen Zimmer.
Ich muss meine Übungen weitermachen. Ich bewege die Zehen, ziehe den Fuß hoch und strecke ihn wieder von mir, spanne meine Wanden an und lockere sie wieder. Immer erst links, dann rechts. Doch das ersetzt bestimmt nicht das Laufen. Wie weit ich wohl kommen würde, bis ich mich setzen müsste? Mir wird schwindelig. Diagonal lege ich mich in das quadratische Kinderzimmer. So muss ich die Beine nicht anwinkeln.
Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen …
Die Grossmanns nehmen meinetwegen so viel auf sich. Wenn ich entdeckt werde, sind wir alle tot. Wenn Johnny kommt, dann müssen wir reden. Vielleicht hat sie eine Idee, wo ich sonst noch unterkommen könnte. Vielleicht gibt es irgendwo etwas Unbewohntes, dann gefährde ich niemanden. Außer Johnny natürlich.
***
Gartenlaube (1944)
Da Gertrude Sandmann zunehmend Angst bekam, dass sie die Familie Grossmann gefährdete, floh sie in eine unbewohnte Gartenlaube. Als der Winter kam und es in der Laube zu kalt wurde, versteckte sie sich bis zum Kriegsende in der Wohnung ihrer Freundin Johnny.
Kurz und unregelmäßig tippeln die Regentropfen auf dem Dach. Zwischendurch platscht es ordentlich, wenn sich auf den Eichenblättern über der Laube kleine Lachen gebildet haben und das Laub das Gewicht nicht mehr halten kann. Allmählich nimmt der Regen ab.
Dann ein anderes, auch nicht unbekanntes Geräusch: gluckernde Fußstapfen im matschigen Rasen. Drückt man den Handballen in etwas zu feuchten Brotteig, macht es ein ähnliches Geräusch. Sie lauscht. Eine Person kommt näher, geht auf die Laube zu. Trude erhebt sich vom Boden, stellt sich hinter die Tür. Sollte sie aufschwingen, wird man sie nicht direkt entdecken.
Die Person hat es nicht eilig, sucht keinen Schutz vor dem Regen. Offenbar hat sie ein klares Ziel. Trudes Anspannung geht nicht weg.
Angekommen. Ohne vorheriges Klopfen öffnet sich die Tür langsam. „Trude?“, klingt es unsicher, leise. Die hohe Stimme mischt sich mit dem Klang der berstenden Tropfen.
„Ich bin hier.“
Die Augen, in die sie blickt, sind dunkel. Kein Lächeln. Johnny. Sie fragt nicht, warum Trude so schwer atmet. Sie fragt nicht, warum sie hinter der Tür steht. Sie weiß es.
„Ich werde nicht lange bleiben können. Nur, bis der Regen aufhört.“
Bis eben hat Trude noch Angst davor gehabt, zufällig von jemandem, der Schutz vor dem Regen sucht, entdeckt zu werden. Jetzt versteht sie: Der Regen ist eine gute Tarnung. Johnny kann ihn als Ausrede nutzen, falls jemand fragt, warum sie aus einer alten Laube kommt.
„Wie geht es dir?“
Es ist ihr unangenehm. Sie weiß, wie sie aussieht. Die spitzen Knochen, über die ihre Haut gespannt ist wie Leinen auf einen Keilrahmen, zeichnen sich unter dem zerlumpten Sommerkleid kantig ab. Trude verschränkt die Arme vor dem abgemagerten Körper. Nur noch 45 Kilogramm oder sogar weniger. Jedes Mal, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild in einer Glasscheibe entdeckt, wendet sie sich sofort ab. Sie könnte es Johnny nicht verübeln, wenn sie das Gleiche täte.
Johnny gibt acht, dass der Boden bei ihren Schritten nicht knarzt. Sie greift in ihre Weste. Eine gesalzene Kartoffel ist viel. Praktisch ein Festmahl. Und Trude merkt, wie vorsichtig Johnny ihr gegenüber ist. Als traue sie sich nicht, sie zu berühren. Als habe sie Angst, ihr wehzutun. Vielleicht findet sie sie sogar abstoßend, so zögerlich ist sie. Trude hasst es, berührt zu werden, wenn sie so aussieht. Wenn sich beide doch umarmen, dann fühlt es sich hart und förmlich an. Trude hasst es, sich bei dem Gedanken schuldig zu fühlen.
Sie löst ihren Krallengriff und nimmt die Kartoffel: „Das ist zu viel.“ Ihre Stimme kratzt beim Sprechen.
„Die Kartoffeln in der Ration waren diesmal groß. Mach dir keine Gedanken deswegen.“
Beide wissen sie, dass Johnny lügt, und Trude beginnt zu essen. Der Regen lässt schneller nach, als es ihnen lieb ist. An die Wand gelehnt rutschen sie allmählich näher aneinander, bis Johnny den Arm um sie legt. Nein, Trude hasst es doch nicht: das Gefühl, berührt zu werden. Sie hasst es, kein gemeinsames Leben nach ihrer Vorstellung führen zu können. Sie hasst es, nicht die Frau für Johnny sein zu können, die sie gerne sein will. Natürlich ist sie Johnny dankbar, aber immer nur verstecken, das ist doch kein Leben. Wenn der Krieg nur vorbei wäre! Trude weiß nicht, wie lange sie noch durchhalten kann.
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Frei (1945)
Nach Kriegsende war Sandmann wieder künstlerisch tätig und wirkte an mehreren Ausstellungen mit. Sie schuf ein beeindruckendes Gesamtwerk an Gemälden und Zeichnungen. In sehr bescheidenen Verhältnissen lebte sie dennoch überwiegend von Entschädigungszahlungen, die ihr als Folge des Holocausts sowie der zur Zeit des Nationalsozialismus unmöglichen Berufsausübung zustanden.
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Nachhall (1967)
Während des Zweiten Weltkriegs begaben sich die Einwohner bei Bombenangriffen in den Luftschutzbunker. Die Türen zu ihren Wohnungen mussten offengelassen werden, damit der Luftschutzwart im Anschluss die Gebäude begutachten konnte, um Instabilitäten zu erkennen. Gertrude Sandmann wurde zweimal bei diesen Rundgängen entdeckt, aber durch Herrn Grossmanns Einfluss kam es nicht zu einer Meldung. Später wurde er selbst Luftschutzwart, um sie besser schützen zu können. Die Beziehung zu Johnny endete gegen 1956. Danach lernte Sandmann die Artistin Tamara Streck kennen und das Paar war bis zu Tamaras Tod liiert.
Die Kohle krächzt über das Papier. Der Kieferwinkel stimmt noch nicht ganz. Er müsste steiler sein. Das Mädchen ist kess gewesen, das muss sie einfangen. Dazu beigetragen haben bestimmt auch der Blick und die elegante Haltung, aber die Kessheit entstand vor allem durch den leicht geneigten Kopf mit der spitzwinkligen Kieferlinie – da ist sich Trude sicher. Sie dreht den Kohlestab zwischen Zeigefinger und Daumen, während ihr Blick über die rauen Fasern des Zeichenkartons schweift. Mit dem Mittelfinger der gleichen Hand wischt sie über die korrigierte Linie den Hals des frechen Mädchens hinab. Und dann immer wieder hin und her, bis die Fingerkuppe warm wird. Besser!
Ein Knarzen im Flur, das plötzlich ohrenbetäubend laut wird. Das Geräusch reißt ihr die Finger weg, und für einen Moment ist es absolut still. Nur das Rauschen in Trudes Ohren schwillt weiter an.
Die Bombe muss ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Ich kauere im Kinderzimmer, regungslos, nur der Brustkorb hebt und senkt sich. Die Sirene hat bereits Entwarnung gegeben. Da höre ich lautes Trampeln auf der Treppe. Ich springe auf. Aus der Tür hinaus vorbei an der kleinen Küchenzeile. Verstecken! Besser verstecken. In die Zimmer werden sie gucken. Ich sehe den klobigen Schreibtisch. Die linke Säule besteht aus Schubkästen, aber die rechte hat eine Tür. Frau Grossmann hat diese Seite ausgeräumt und alles, was darin war, anderweitig verstaut. Ich öffne die Schranktür und mache mich so klein, wie ich kann. Dann krieche ich hinein. Weil ich selbst immer weniger werde, habe ich von Mal zu Mal mehr Platz, wobei von Platz eigentlich keine Rede sein kann. Ich schließe die Tür so rasch und leise wie möglich.
Die Grossmanns sind bereits im Luftschutzbunker. Ein Privileg, das mir nicht zuteilwird. Da höre ich wieder ein lautes Knarzen, diesmal im Raum: Der Luftschutzwart macht den Kontrollgang. Findet er mich? Ich halte die Luft an, während er sich im Raum nach Schäden umsieht. Seine Schritte kommen langsam näher.
Trude klammert sich mit ihrer Linken so fest an die Staffelei, dass der Schmerz im Handballen sie wieder zu sich kommen lässt. Jemand ist an der Tür. Es ist nicht 1943, es ist 1967. Tamara ist an der Tür. Trude kann nun auch Stimmen neben dem Restrauschen vernehmen. Sie blickt von ihrer Hand hoch in das Gesicht der jungen Frau auf dem Papier.
Tamara klopft nicht an: „Liebes, der neue Nachbar von 87 hat sich eben vorgestellt. Er lädt nächste Woche zu einem kleinen Umtrunk ein.“
Tamara nimmt Trudes linke Hand von der Staffelei in ihre Rechte. Sie lächelt. Trudes Hand ist faltig und von kleinen Altersflecken gezeichnet, Tamaras hingegen ist noch glatt und frei von den Zeichen der Zeit. Sie lächelt zurück. Tamara weist mit dem Kinn zum Zeichenkarton: „Sie hat etwas an sich. Etwas Kühnes. Ich mag sie.“
Nach einem Kuss auf Trudes Schläfe drückt sie einmal sanft die Hand ihrer Liebsten, lässt sie los und geht aus dem Raum.
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So weit (1981)
In den 1970er und 1980er Jahren erstarkten die Lesben- und Frauenbewegungen in Europa. Gertrude Sandmann war Gründungsmitglied der Gruppe „L 74“, die eine Gemeinschaft älterer lesbischer Frauen darstellte. Die Gruppe brachte unter anderem die UkZ – kurz für „Unsere kleine Zeitung“ – heraus, für die Sandmann Illustrationen anfertigte. Ihre Zeichnung „Liebende“ zierte mehrere Jahre die Titelseite. Nach langer Krankheit starb Sandmann am 6. Januar 1981 in Berlin.
Ich kann gehen. Keine Behandlungen mehr. Der Krebs wird gewinnen und das ist in Ordnung. Mein Körper hat so lange mitgemacht. Damals im Dritten Reich war ich aufgrund meiner miserablen Gesundheit nicht einmal in der Lage, Zwangsarbeit zu leisten. Trotzdem bin ich jetzt 87. Das hätte ich nicht gedacht. All das Hungern, all das Leid!
Auch meine Tamara musste schon gehen, obwohl sie so viel jünger war. Ihr Körper hat viel ertragen müssen, musste sich ständig verbiegen. Ich habe nie einen ihrer Auftritte gesehen, aber sie hat trotzdem immer die Eleganz der Akrobatin ausgestrahlt. Sie hatte Esprit. Auch noch, als wir uns kennengelernt haben.
Ich habe Glück gehabt. Ich habe wundervolle Menschen gekannt, die mich geliebt und beschützt haben. Die Grossmanns und Johnny. Wie sehr ich mir gewünscht habe, dass wir uns wiederfinden. Aber es ist zu viel passiert. Es war danach nicht mehr so wie vorher. Johnny war meine Retterin. Aber irgendwann musste ich nicht mehr gerettet werden. Da war ich frei und sie immer noch gefangen in ihrer alten Rolle. Ich nehme es ihr nicht übel. In mir haben auch so viele Gefühle getobt, dass meine Liebe darin einfach untergegangen ist. Vielleicht können wir uns beide vergeben. Vielleicht sehe ich Johnny ja wieder, wer weiß das schon.
Ich bin ein sogenanntes U-Boot: Während des Krieges bin ich jahrelang in Berlin untergetaucht. Ich habe den Nazis getrotzt. Überlebt. Danach habe ich weitergelebt und weiter geschaffen. Das ist viel.
Ich bin jetzt so weit …
Quellen und weiterführende Literatur
Anna Havemann: „Gertrude Sandmann. Künstlerin und Frauenrechtlerin“, 2., erweiterte Auflage, Hentrich & Hentrich 2011 (Jüdische Miniaturen, Band 2).
Marcella Schmidt: „Eldorado: Homosexuelle Frauen und Männer in Berlin 1850-1950“, Frölich & Kaufmann 1984.
Weiterführende Links
Gertrude Sandmann (fembio.org)
sandmann_schoppmann_d.pdf (lesbengeschichte.org)
Gertrude Sandmann – Berlinische Galerie
Frauen im Widerstand: Biografie (frauen-im-widerstand-33-45.de)
Unter Einsatz ihres Lebens | Jüdische Allgemeine (juedische-allgemeine.de)
Das verwendete Bildmaterial stammt aus:
Die Gedichtzeilen stammen aus Joseph von Eichendorff: „Abschied“ und Alfred Wolfenstein: „Städter“.
Van Goghs Augen
Text von Hanna Dahl
Entstanden im Ramen des Kurses „Kreatives Schreiben I im Museum“, der am 25. und 26. April im Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen stattfand.
Es ist kühl. Ich fröstele leicht und das einzige Geräusch, das hin und wieder durch den großen Saal hallt, ist ein lautes Piepen. Testweise trete ich näher an Van Gogh heran. Ja, es piept. Eine Diebstahlsicherung. Ganz dicht stehe ich vor ihm. Starre in seine Augen. Grau, ausdruckslos. Wie meine Augen. Neben ihm Nebel, hinter dem einzigen Fenster im Saal, und eine Aussicht, die einem den Atem verschlägt. Ich lehne mich an die kalte, steinerne Fensterbank und spüre unangenehm die Anwesenheit der umherstreifenden Menschen hinter mir. Lautlos schweben sie durch den Raum, mit ihren eigenen Gedanken, andächtig und ängstlich. Bedacht darauf, nicht die Aufmerksamkeit des Museumswärters auf sich zu ziehen. Ich merke schon länger, dass er mich beäugt. Völlig verständlich, denn man sieht mir an, dass ich nicht wegen der Bilder hier bin.
Ich bin ausschließlich zum Warten hier, bis du deine Runde gedreht hast. Du bist traurig, dass ich mich nicht dafür interessiere. Für dich oder die Bilder oder beides. Aber die Bilder sind wie du. Stumm und so distanziert. Nur erwarte ich nichts von Van Gogh. Seine grauen Augen sind nicht vorwurfsvoll, nicht anklagend. Aus ihnen spricht keine Enttäuschung.
Es gab Zeiten, da hatte ich gehofft, dass es im Alter besser wird. Dass du siehst, dass ich Gedanken habe, die dich interessieren könnten. Du hattest gehofft, dass es durch diese Sonntage besser wird. Aber Sonntage bedeuten für mich nur eine Langeweile, die meine Einsamkeit zu verstecken versucht. Ich stehe hier nur so da und sogar dieser Museumswärter merkt, dass ich nicht hierhergehöre. Wieso du nicht?
Mit dem Finger fahre ich die Furchen im Mauerwerk nach. Rauer Stein. Ein wenig bröselt ab. Ich höre Schritte und ich weiß, dass es deine sind. Demonstrativ starre ich weiter nach draußen, in den Nebel. Du stellst dich neben mich und eine Welle unausgesprochener Enttäuschung überrollt mich. Ich kann nicht mal sagen, ob es meine oder deine ist. Als sich unsere Blicke kreuzen, weiß ich, dass auch du es spürst. Aber gefangen in unserem männlichen Stolz, sind wir beide nicht fähig, diese Wand mit Worten einzureißen. Van Gogh vermag es nicht, unsere Beziehung zu retten und es ist absurd, dass du das zu hoffen gewagt hattest.
„Gehen wir“, sagt er.
©Hanna Dahl
Olkhon
von Tim Seidel
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text über eine Reise mit der Transsibirischen-Eisenbahn durch Russland entstanden.
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Ich stehe am Ufer und grabe meine Füße in den noch warmen Sand. Vor mir bietet sich eine Szenerie, die so unfassbar schön ist, dass es fast schon kitschig erscheint. Wir stehen in unserer Lieblingsbucht am Baikalsee unweit unserer Unterkunft. Zu meiner Rechten liegt der Schamanenfels, ein fünfzig Meter hoher, extrem steiler, zerklüfteter Fels, der aussieht wie zwei siamesische Zwillinge, die versuchen, in unterschiedliche Richtungen in den See zu springen. Auf der linken Seite wächst eine Felswand in die Höhe, an der lediglich ein schmaler Ziehweg wie ein Rinnsal hinabführt. Dazwischen und weit darüber hinaus erstreckt sich der Baikalsee, der in der untergehenden Abendsonne in den fantastischsten Rosa- und Orangetönen schillert. Klein und fern sind ein paar mit Schnee bedeckte Berge, die bald den Rest der Sonne verschlucken werden. Knapp hundert Meter entfernt segelt ein Seeadler kreischend über die Wasseroberfläche. Der See strahlt eine mächtige Ruhe und Gleichgültigkeit gegenüber alledem aus.
Ich könnte noch Stunden hier stehen und die ereignislose und zugleich maßlose Szenerie in mich aufnehmen. Doch eine leichte Böe erinnert mich fröstelnd an unsere Mission.
Ich blicke an meinen bis auf die Boxershorts nackten Körper hinab. Neben mir höre ich Ludger rufen und Sekunden später rennt dieser rauschend an mir vorbei in den See und durchschneidet den bisher herrschenden Frieden. Dicht gefolgt von Jack – einem chinesischen Reisenden, den wir in unserer Unterkunft kennengelernt haben. Von hinten ruft Theresa mir zu, die die ganze Operation filmt. Auch ich stürze mich daraufhin an Eisschollen vorbei in das kristallklare Wasser, tauche einige Meter und öffne meine Augen. Alles leuchtet rosa und orange mit Ausnahme von einigen dunklen Schatten, die von den Eisschollen geworfen werden. Das Licht bricht sich traumhaft schön in dem klaren Wasser und ich kann die untergehende Sonne für einen Augenblick durch die Wasseroberfläche sehen. So schön der Moment unter Wasser auch ist, so schmerzhaft ist auch jede Sekunde. Mit einem befreienden Schrei tauche ich wieder auf und schüttle das Wasser aus meinen Haaren. Mit schnellen großen Schritten pflüge ich eilig hinter Ludger und Jack aus dem Wasser. Theresa erwartet uns, mit der bereits geöffneten Wodkaflasche und einem breiten Grinsen. In dem sonnengegerbten Gesicht wirken ihre Zähne so weiß wie von einem Jugendlichen, obwohl sie schon achtunddreißig ist. Wir lassen die Flasche kreisen, während wir im Wind trocknen. Erst jetzt bemerke ich, wie warm mir eigentlich ist. Nein, nicht warm – heiß! Meine Haut brennt kribbelnd und ich habe den Eindruck, vor Energie zu platzen.
Wieder in trockenen Klamotten steckend, setze ich mich zu den anderen in den Sand. Wir lassen weiter den Wodka kreisen und ich beginne mir eine Zigarette zu drehen. Jack bietet mir wortlos eine von seinen chinesischen Filterlosen an, welche ich dankend ablehne. Jedes Mal, wenn Jack sich eine Zigarette ansteckt bin ich irritiert, da er trotz seiner fünfundzwanzig Jahre und seinem Job als Banker noch sehr jungenhaft wirkt. Seinem drahtigen Körper und seinen feinen, fast kindlichen Gesichtszügen verleihen lediglich die ernsthaften, wachen Augen etwas Erwachsenes – und die Zigarette. Wir reden wenig. Alle genießen den Blick auf den schier endlosen See, der ein letztes Mal für heute von warmem Licht geflutet wird. Ich kann gar nicht denken, da mein Verstand so damit beschäftigt ist, jede einzelne Facette dieses einzigartigen Naturschauspiels aufzunehmen. Im Sand sitzend und in die rosige Ferne starrend überkommt mich ein Gefühl absoluten Friedens.
„Durak!“, rufen alle lachend. Die Sonne ist untergegangen und langsam kriecht die Kälte der Nacht vom See heran. „Blyat“, antworte ich nur. Ludger reicht mir grinsend den Kartenstapel und ich beginne zu mischen. Wir unterhalten uns heiter weiter über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland, China und Russland und unser Leben daheim. Jack ist seit seinem Start in Wladivostok vor zwei Wochen allein unterwegs und will in weiteren zwei Wochen in Moskau sein, um dann nach China zurückzukehren. Theresa berichtet von ihren Abenteuern in den letzten zwei Monaten in Kasachstan, der Mongolei und von der Nacht, in der sie am Ostufer des Baikalsees gecampt hat – wo wir sie getroffen haben. Während die Temperaturen sinken, steigt unsere Stimmung. Nach geleerter Wodkaflasche öffnen wir die ersten Biere und spielen noch ein paar Runden Durak, bis es zu dunkel ist. Nachdem die Nacht über uns hereingebrochen ist, lege ich mich auf den Rücken und beobachte rauchend das Firmament. Selten konnte ich so viele Sterne in einer solchen Intensität beobachten. Als die erste Sternschnuppe einen weiten Bogen über das Himmelszelt zieht, weiß ich gar nicht, was ich mir wünschen soll.
Titellos
von Matthias Cherek
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text einer spannenden Diskussion zwischen zwei Akteuren entstanden.
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Du hast ein gutes Leben geführt. Alles in allem etwas durchschnittlich, aber du hattest niemals große Ambitionen. Deine beiden Kinder waren schon vor deinem Herzinfarkt erwachsen. Du hast niemanden allein gelassen, indem du gestorben bist. Ich hoffe, das beruhigt dich.
Ich bin tot?
Ja – tot. Du lebst nicht.
Also ist das hier das Jenseits?
Ja und nein.
Was bedeutet das denn?
Dass noch nicht entschieden wurde, welches dein Schicksal wird.
Was kann denn mit mir passieren? Werde ich wiedergeboren?
Vielleicht. Wir werden sehen, wie unser Gespräch verläuft.
Ist das hier eine Art Bewerbungsgespräch?
Ja, aber nicht so, wie du denkst. Hier wird nur untersucht, welchem Zweck du dienen kannst.
Was für einem Zweck soll ich denn noch dienen, wenn ich tot bin?
Der Tod ist nicht permanent. Bisher hat dich niemand gefunden, dein Ableben kann also noch problemlos rückgängig gemacht werden. Aber sogar nachdem dein Körper begraben wurde, gibt es Mittel und Wege, dich zurück unter die Lebenden zu schicken.
Du kannst mich wiederbeleben? Bist du Gott?
Nein, ich bin kein Gott. Ich habe deine Götter erschaffen, wie ich auch dich erschaffen habe.
Also bist du der Gott der Götter.
Nein. Niemand außer dir weiß von mir. Nicht die Menschen und nicht die Götter. Sobald entschieden wurde, was mit dir geschieht, wirst auch du nichts mehr von mir wissen. Es gibt mich gar nicht, dort wo du existierst.
Das verstehe ich nicht.
Ich weiß.
Und was wird jetzt aus mir?
Erzähl du es mir.
Wie kann ich denn entscheiden, was aus mir wird? Ich dachte, du hättest mich erschaffen. Dann musst du auch entscheiden.
Deine Entscheidung ist die Meine. Du und ich, wir sind verbunden. Ohne mich gäbe es dich nicht, aber ohne dich wäre auch ich nicht hier.
Also habe ich mich selbst erschaffen?
Genau.
Aber wo komme ich denn her? Wo war der Anfang?
Der kam von mir. Es muss immer einen Anfang geben. Und ein Ende.
Also, wenn ich entscheiden muss, dann möchte ich weiterleben.
Warum?
Weil tot sein so endgültig ist.
Das genügt nicht. Welchem Zweck dienst du? Welchen Aspekt treibst du voran?
Was? Ich weiß nicht, was du meinst. Das Leben muss doch keinem Zweck dienen. Es ist sein eigener Zweck.
Nein, nicht du. Du lebst – und stirbst – für einen Zweck.
Für welchen Zweck bin ich denn gestorben?
Ich wollte sehen, was du davon hältst.
Vom Sterben? Finden die Leute ihren eigenen Tod denn nicht immer schlecht?
Nein. Es gibt viele gute Gründe für den Tod. Die meisten sehen das ein. Um ehrlich zu sein, frage ich viele gar nicht. Aber du bist anders.
Bin ich etwas Besonderes? Vielleicht muss ich deshalb weiterleben.
Nein, du bist nichts Besonderes. Du bist anders. Aber warum bist du anders? Was ist dein Zweck?
Was weiß ich denn? Das ist ziemlich frustrierend. Dauernd fragst du nach meinem Zweck, aber ich habe doch keinen Schimmer, was ich hier soll.
Was wolltest du denn, bevor du gestorben bist?
Glück, Liebe, Reichtum. Solche Dinge.
Bist du sicher? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich etwas so Langweiliges zulassen würde.
Doch. Du hast doch selbst gesagt, ich hätte keine großen Ambitionen.
Dann lass es uns anders angehen. Erzähl mir von deinem Leben. Wer bist du, woher kommst du?
Also gut. Ich heiße …
Du erinnerst dich nicht an deinen Namen?
Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich an gar nichts.
So ist das also. Ich glaube, ich weiß jetzt, welchem Zweck du dienst.
Welchem denn?
Lebe wohl und danke.
Danke wofür?
Danke fürs Lesen.
Corona-Tagebuch
von Tim Seidel
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Der Wecker klingelt, 8:00 Uhr.
Ich setze meine glänzende Bialetti auf das gleiche Kochfeld wie jeden Morgen und gehe duschen, während sich der herrliche Kaffeegeruch in der ganzen Wohnung verteilt. Man könnte meinen, es sei ein ganz normaler Montagmorgen. Doch nichts ist momentan normal. Ich klappe meinen Laptop auf und starte die erste Zoomsitzung des Tages, die erste, aber bei weitem nicht die letzte.
Die Dozentin ist überaus nett und gibt sich größte Mühe, den Stoff so gut es geht zu vermitteln. Ihre Kopfhörer sind so groß wie die Ohrenschützer eines Forstarbeiters, damit sieht die zierliche Frau eher aus wie eine Pilotin oder Funkerin im Krieg. Eine komische Analogie, die würde Macron mit Sicherheit gefallen.
Die „Vorlesung“ kommt zum Ende mit den Worten: „Bleiben Sie gesund und Zuhause.“ Zum ersten Mal seit Beginn meines Studiums wäre ich um 8:30 Uhr lieber im Audimax statt Zuhause vor meinem Laptop, mit einem lauwarmen Kaffee in meiner Hand.
Die nächste Sitzung geht zu Ende, wieder wird uns viel Gesundheit gewünscht. Irgendwie beginne ich jedes Mal innerlich „Viel Glück und viel Segen“ zu singen, wenn jemand mir Gesundheit wünscht.
Meine Kontaktlinsen fühlen sich trocken, hart an und dabei ist es erst 15:00 Uhr. Wieder wünschte ich im Audimax oder im Büro zu sein, statt zu telefonieren oder E-Mails zu schreiben. Ich wundere mich über mich selbst.
Wie oft ist ein Vorlesungsbesuch daran gescheitert, dass mir der Weg zu weit war oder ich beim Frühstücken so sehr getrödelt habe, dass es sich meine Ansicht nach nicht mehr gelohnt hat und wie oft habe ich mir gewünscht, mich einfach kurz in die Vorlesung oder ins Büro beamen zu können? Der Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen und dennoch wünschte ich, es wäre alles wieder wie früher.
Wie kommt es, dass man immer das haben will, was man nicht haben kann, statt sich zu freuen über das, was man hat? Eine Frage, auf die ich noch keine Antwort weiß, aber zum Glück habe ich momentan genug Zeit, eine zu finden.
Corona-Tagebuch
von Johanna Demory
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Corona – ein Mantra in aller Munde, und seinen Alltag kann man vergessen
Ziemlich viele Gedanken, die sich um dieses Virus gemacht werden. Zu Recht! Es ist gefährlich. Es breitet sich rasend schnell aus. Es gefährdet Menschen, und zwar jeden. Man sieht es nur nicht. Oder doch? Über die Schreckensbilder aus dem griechischen Flüchtlingslager scrollt man schnell hinweg, in Gedanken schiebt man sie einfach zur Seite – man ist ja nicht in Griechenland. Und dann sieht man das Virus wieder nicht. Man spürt es auch nicht, wenn man es selbst noch nicht hatte, und keinen Angehörigen hat, der daran erkrankt ist. Und trotzdem hat sich alles verändert. Einkaufen – oder auch eben nicht einkaufen, wenn es um nichts Lebenswichtiges geht – ist anders. Es ist leerer, kein Gedränge mehr. Es fühlt sich anders an. Die Hände, zum Beispiel, fühlen sich schneller klebrig und dreckig an. Waschbedürftig. Einkaufen riecht anders. Nach Desinfektionsmittel? Geht so. Nicht in jedem Laden wird der Haltegriff des Einkaufwagens, nach Benutzung, mit der antibakteriellen Substanz eingenebelt. Nicht jeder benutzt die angeketteten Fläschchen, die in den Eingängen der Läden bereitstehen. Angekettet deshalb, weil sie sonst jemand mit nach Hause nehmen würde. Zur Sicherheit, und auf Vorrat natürlich. Auch Mundschutzmasken-Klau ist eine anerkannte Sportart geworden.
Irgendwie ist die Corona-Krise überall angekommen, irgendwie aber auch nicht. Wo ist sie angekommen, und wo nicht? Wenn eins feststeht, dann das: Sie ist in den Medien angekommen. Die Medien sind aus der Krise überhaupt nicht wegzudenken. Das Wort Corona steht überall geschrieben. Covid-19 wäre zu kompliziert, das benutzen nur die Virologen. Es muss einleuchtend sein, schnell lesbar, ohne Zahlen. Corona, Corona, Corona … Wie ein Mantra in aller Munde. Sätze wie: „Das darf ja jetzt nicht mehr …“, oder: „Okay, im Moment nicht, wegen Corona …“, sind zum gewohnten Anhängsel eines jeden Gesprächs geworden. In den Gedanken hat sich Corona etabliert, egal, ob man zu Hause vor dem Bildschirm sitzt, eben schnell zur Post möchte, oder beim Spaziergang versucht, eine Corona-freie Liegewiese zu finden. Die Maßnahmen sind klar, die meisten halten sich daran. Einfache Regeln. Aber da ist noch ein Rest-Zweifel in uns. Etwas bleibt jedes Mal übrig. Ungeklärte Fragen, wie lange das alles noch so weitergeht. Und vor allem, wie es danach weiter geht. Ist es irgendwann vorbei? Wird es nie vorbei sein? Manche sagen das Eine, die Nächsten behaupten das Andere. Und dann fühlt man sich unsicher. Unfähig, den Alltag wieder aufzunehmen. Er fällt ganz anders aus, unproduktiver, mit weniger Bewegung. Und man wartet nur darauf, die alten Routinen von vorher wieder aufnehmen zu können, die spannender waren, und mit mehr Bewegung darin. Und dieses Warten bedeutet: Wir sind noch nicht angekommen in der Krise. Denn auf etwas zu warten, ist oft der falsche Weg, um in etwas anzukommen, was man ernst nehmen sollte. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht anders.
Corona-Tagebuch
von Matthias Cherek
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Ich verliere langsam den Überblick. Kontaktsperre ab drei Personen, außer Kernfamilie – was auch immer das bedeutet – Geschäfte öffnen ab wieviel hundert Quadratmetern? Außer Buchhandlungen und Autohäusern – interessant – und tausend Regeln mehr. Wo soll ich nochmal eine Maske tragen? Überlebt das Virus auf Oberflächen? Reichen zwei Meter Abstand beim Joggen? Ich habe da von einer Studie gehört, die besagt, dass während der Corona-Pandemie viel mehr Leute über Studien reden. Hat die denn ein Peer-Review? Ich weiß immer über die neuesten Entwicklungen Bescheid: In New York werden Massengräber angelegt, der Iran lügt, China vielleicht auch, Südkorea hat alles toll gemacht. Bescheid – achja, ums Bafög muss ich mich noch kümmern. Wird meine Regelstudienzeit verlängert? Schnell mal googlen, dann weiß ich … Bescheid. Die neueste Ausgabe von Vox Machina Origins wird wegen Corona nicht veröffentlich. Ich soll mich wegen der andauernden Krise in Geduld üben, ein neues Veröffentlichunsdatum wird bald bekannt gegeben. Warum wird denn die Veröffentlichung von einem digitalen Comic verschoben? Ich mache mir jetzt Waffeln. Schnell schauen, ob alles da ist – Milch, Zucker, Eier, Meh… – Ich bestelle mir jetzt Pizza.
Na toll, jetzt habe ich eine Woche nicht an meinem Corona-Tagebuch gearbeitet und schon ist alles veraltet.
Was wird von der Corona-Krise bleiben?
von Christoph Leuchter
Entstanden ist das Essay als Gastbeitrag für die AZ/AN im Rahmen der Corona-Pandemie.
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Was auch geschieht, wie lange auch immer das alles noch dauert – für viele ist eins längst klar: Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Stimmt das? Vielleicht. Indes mit Gewissheit sagen, kann es niemand. Hat es doch ähnliche Aussagen schon im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008 gegeben. Und mal ehrlich: So wahnsinnig viel hat sich seitdem für die Menschen auf der Straße, die momentan eher zu Hause bleiben müssen, nicht verändert.
Aber – zwischen 2008 und 2020 gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die Krise damals war für die meisten Menschen eine sehr abstrakte. Banken mussten gerettet werden. Rettungsschirme wurden aufgespannt. Aber außer den Finanzexperten und denjenigen, die tatsächlich Aktien von Lehman Brothers gekauft hatten, wusste niemand so recht, was da eigentlich geschah. Die Börsen spürten es und massiv natürlich die Griechen, aber hierzulande war der ganze Spuk für die meisten schnell vorbei. Ein bisschen musste man noch um den Euro bangen, aber das war‘s dann auch: Die wenigsten Deutschen waren existenziell bedroht.
Das ist jetzt anders. Und das Ausmaß lässt sich bislang allenfalls erahnen. Sehen und fühlen kann man aber schon jetzt: Das, was die sogenannte Corona-Krise mit uns macht, betrifft plötzlich die Menschen selbst – ganz real und in Echtzeit. Nicht die da oben, nicht die Mega-Konzerne, nicht irgendwen, nein, uns alle und unmittelbar.
Das Virus ist lebensgefährlich! Und das im doppelten Sinn. Die einen kostet – und das ist am allerschlimmsten – die Krise tatsächlich das Leben. (Dabei ist es im Übrigen völlig egal, wie alt man ist – alles andere ist blanker Zynismus!) Das Leben der anderen wird in irgendeiner Form berührt sein. Corona, so schön der Name auch klingt, scheint sich vor allem zu einer psychologischen und einer wirtschaftlichen Krise auszuwachsen. Aber diesmal trifft es in erster Linie die Friseurin, die ihren Job verliert, den Mechatroniker, der in Kurzarbeit muss, und den mittelständischen Unternehmer, dem die Insolvenz droht.
Die gesundheitliche Gefahr beziehungsweise Dimension des Ganzen ist immer noch schwer zu fassen. Unzweifelhaft erkennt man sie daran, dass in den Medien aktuell die Virologen das Wort führen. Vorher kamen die in den Programmen gar nicht vor. Ansonsten kämpfen die meisten von uns eher mit den Konsequenzen des sogenannten Kontaktverbots als mit der wirklichen Bedrohung. Die Fernsehbilder italienischer Militärkonvois, die Hunderte von Leichen transportieren, wirken nur tausend Kilometer entfernt wie düstere Hollywoodproduktionen, surreal, nicht wie das wahre Leben.
Es fällt auf, dass nicht alle Experten in der Krise immer richtigliegen. Manche Virologen und Wirtschaftsweisen scheinen bei ihren Vorhersagen eher die hauseigenen Glaskugeln zu bemühen. Gleichwohl: Je länger das Ganze dauert, desto häufiger fragen die Menschen schon jetzt nach dem Sinn. Was lernen wir aus der Krise?
Erste Antworten klingen hier und da allerdings, als sei irgendjemand schuld an dem Ausbruch von Covid-19. Als müsse man Systeme oder Handlungsträger dafür zur Rechenschaft ziehen.
Das ist Unsinn! Weder der Kapitalismus hat das Virus losgetreten noch die Globalisierung. Alles andere ist Verschwörungstheorie. Eine Pandemie kommt einfach: die Pest, die Spanische Grippe, Ebola, Corona. Wie sehr sie sich ausbreitet, ist eine andere Frage. Und eine Epidemie ist auch keine Strafe Gottes. Gleichwohl muss man nicht alles in der Welt, wie wir sie kennen, grenzenlos gut finden – nicht den Turbo-Kapitalismus, der uns kurzsichtig und kurzatmig macht, nicht diejenige Globalisierung, die die Menschen vergisst, und erst recht keine Religionen, die von strafenden Göttern träumen.
Es kann nie schaden, darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft leben wollen: Wie können wir – wenn schon nicht total „entschleunigen“ – wenigstens nicht permanent überdrehen? Wie lässt sich die drohende Spaltung der Gesellschaft und der Welt überwinden? Ist es richtig, dass ein Top-Manager zig Mal so viel verdient wie eine Altenpflegerin oder ein Paketzusteller? Hat das eine vielleicht sogar mit dem anderen zu tun? Diese Fragen kann und muss man sich immer stellen. Manche Leute haben nur gerade mehr Zeit zum Denken – und vielleicht ist das gut so.
Spätestens bei der Frage, wie wir unsere Umwelt und damit auch unsere Gesundheit besser schützen, was wir dringend tun müssen, spätestens da lehrt uns die Krise, dass Lösungen nicht so einfach sind wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Weil die Welt eine komplexe ist.
Erste Reaktionen und Kommentare, die bereits jubilieren und das aktuelle „Herunterfahren“ des gesellschaftlichen Lebens als Beweis dafür anführen, dass es „auch anders geht“, darf man getrost als naiv oder ideologisch zurückweisen. Der aktuelle Zustand der Gesellschaft ist sicher weit vom Ideal entfernt – es sei denn, man ist zufällig Misanthrop oder Narzisst.
Aber noch einmal: Was können wir lernen? Müssen wir etwas lernen?
Sicher wird es Neuerungen in der nächsten Zeit des Improvisierens geben, die sich als sinnvoll erweisen; aus der Not Geborenes, das wir, wo es möglich ist, beibehalten können: Homeoffice, Videokonferenzen, Desinfektionsmittel. Manchmal sind es auch Gepflogenheiten, die wir bereits kannten, aber irgendwie vergessen hatten: Lesen, Sinnieren, Spazierengehen.
Wir lernen auch, dass die Krankenhäuser und Pflegeheime demnächst besser mit Masken und Schutzausrüstung ausgestattet sein müssen, logisch. Ach ja, wir lernen – wieder einmal –, dass Geld nicht alles, aber auch nicht unwichtig ist. Und wir lernen gleichzeitig, dass „Durchökonomisieren“ nicht überall das Maß der Dinge sein darf. Und: Alles ist wichtiger als Klopapier!
Bleibt die verwunderte Erkenntnis: Das Leben und unsere Gesellschaft sind immer noch verdammt verletzlich – auch in Zeiten von schnellerem Internet und Operationen am offenen Herzen. Das hätten wir so nicht gedacht. Für unsere Gesundheit gibt es selbst in der hochmodernen Welt keine Garantie. Aber wir leben zum Glück nicht mehr im Mittelalter und unser Gesundheitswesen kann Maßnahmen ergreifen, die bisweilen sogar erfolgreicher sind als Medikamente und Impfstoffe.
Mitte März, kurz vor dem Kontaktverbot, als sich die Entwicklung schon abzeichnete, da sagte meine unerschrockene Friseurin: „Die Krise wird auch eine Chance für uns sein. Selbst die schlimmste Katastrophe ist für irgendetwas gut.“ Mutig. Uneigennützig. Nahezu philosophisch. Aber das wussten wir ja schon immer: dass die wahren Philosophen Steinmetze, Linsenschleifer und Friseurinnen sind.
Und ob wir daraus etwas lernen oder nicht – es zeigt sich: Leben findet auch in digitalisierten Zeiten immer noch vor Ort statt. Dort leisten die kleinen und großen Helden der Krise gerade Bewundernswertes: Die Kassiererin im Supermarkt, der Student, der bei der Telefonseelsorge aushilft, Ärzte und Pfleger in Kliniken und Altenheimen sowieso. Die Liste lässt sich ins Unendliche verlängern. Selbst Politiker machen keine schlechte Figur. Und plötzlich gibt es überall Nachbarn, die sich unterstützen, Spaziergänger, die sich grüßen, Polizisten, die singend durch die Straßen ziehen und für einsame Menschen die Sonne aufgehen lassen. Das tut gut. Das lässt hoffen. Grandios, wenn das auch nach der Krise so bliebe.
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Christoph Leuchter ist Schriftsteller und Musiker und leitet das Schreibzentrum der RWTH-Aachen University.
