Kategorie: ‘Allgemein’
Van Goghs Augen
Text von Hanna Dahl
Entstanden im Ramen des Kurses „Kreatives Schreiben I im Museum“, der am 25. und 26. April im Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen stattfand.
Es ist kühl. Ich fröstele leicht und das einzige Geräusch, das hin und wieder durch den großen Saal hallt, ist ein lautes Piepen. Testweise trete ich näher an Van Gogh heran. Ja, es piept. Eine Diebstahlsicherung. Ganz dicht stehe ich vor ihm. Starre in seine Augen. Grau, ausdruckslos. Wie meine Augen. Neben ihm Nebel, hinter dem einzigen Fenster im Saal, und eine Aussicht, die einem den Atem verschlägt. Ich lehne mich an die kalte, steinerne Fensterbank und spüre unangenehm die Anwesenheit der umherstreifenden Menschen hinter mir. Lautlos schweben sie durch den Raum, mit ihren eigenen Gedanken, andächtig und ängstlich. Bedacht darauf, nicht die Aufmerksamkeit des Museumswärters auf sich zu ziehen. Ich merke schon länger, dass er mich beäugt. Völlig verständlich, denn man sieht mir an, dass ich nicht wegen der Bilder hier bin.
Ich bin ausschließlich zum Warten hier, bis du deine Runde gedreht hast. Du bist traurig, dass ich mich nicht dafür interessiere. Für dich oder die Bilder oder beides. Aber die Bilder sind wie du. Stumm und so distanziert. Nur erwarte ich nichts von Van Gogh. Seine grauen Augen sind nicht vorwurfsvoll, nicht anklagend. Aus ihnen spricht keine Enttäuschung.
Es gab Zeiten, da hatte ich gehofft, dass es im Alter besser wird. Dass du siehst, dass ich Gedanken habe, die dich interessieren könnten. Du hattest gehofft, dass es durch diese Sonntage besser wird. Aber Sonntage bedeuten für mich nur eine Langeweile, die meine Einsamkeit zu verstecken versucht. Ich stehe hier nur so da und sogar dieser Museumswärter merkt, dass ich nicht hierhergehöre. Wieso du nicht?
Mit dem Finger fahre ich die Furchen im Mauerwerk nach. Rauer Stein. Ein wenig bröselt ab. Ich höre Schritte und ich weiß, dass es deine sind. Demonstrativ starre ich weiter nach draußen, in den Nebel. Du stellst dich neben mich und eine Welle unausgesprochener Enttäuschung überrollt mich. Ich kann nicht mal sagen, ob es meine oder deine ist. Als sich unsere Blicke kreuzen, weiß ich, dass auch du es spürst. Aber gefangen in unserem männlichen Stolz, sind wir beide nicht fähig, diese Wand mit Worten einzureißen. Van Gogh vermag es nicht, unsere Beziehung zu retten und es ist absurd, dass du das zu hoffen gewagt hattest.
„Gehen wir“, sagt er.
©Hanna Dahl
Olkhon
von Tim Seidel
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text über eine Reise mit der Transsibirischen-Eisenbahn durch Russland entstanden.
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Ich stehe am Ufer und grabe meine Füße in den noch warmen Sand. Vor mir bietet sich eine Szenerie, die so unfassbar schön ist, dass es fast schon kitschig erscheint. Wir stehen in unserer Lieblingsbucht am Baikalsee unweit unserer Unterkunft. Zu meiner Rechten liegt der Schamanenfels, ein fünfzig Meter hoher, extrem steiler, zerklüfteter Fels, der aussieht wie zwei siamesische Zwillinge, die versuchen, in unterschiedliche Richtungen in den See zu springen. Auf der linken Seite wächst eine Felswand in die Höhe, an der lediglich ein schmaler Ziehweg wie ein Rinnsal hinabführt. Dazwischen und weit darüber hinaus erstreckt sich der Baikalsee, der in der untergehenden Abendsonne in den fantastischsten Rosa- und Orangetönen schillert. Klein und fern sind ein paar mit Schnee bedeckte Berge, die bald den Rest der Sonne verschlucken werden. Knapp hundert Meter entfernt segelt ein Seeadler kreischend über die Wasseroberfläche. Der See strahlt eine mächtige Ruhe und Gleichgültigkeit gegenüber alledem aus.
Ich könnte noch Stunden hier stehen und die ereignislose und zugleich maßlose Szenerie in mich aufnehmen. Doch eine leichte Böe erinnert mich fröstelnd an unsere Mission.
Ich blicke an meinen bis auf die Boxershorts nackten Körper hinab. Neben mir höre ich Ludger rufen und Sekunden später rennt dieser rauschend an mir vorbei in den See und durchschneidet den bisher herrschenden Frieden. Dicht gefolgt von Jack – einem chinesischen Reisenden, den wir in unserer Unterkunft kennengelernt haben. Von hinten ruft Theresa mir zu, die die ganze Operation filmt. Auch ich stürze mich daraufhin an Eisschollen vorbei in das kristallklare Wasser, tauche einige Meter und öffne meine Augen. Alles leuchtet rosa und orange mit Ausnahme von einigen dunklen Schatten, die von den Eisschollen geworfen werden. Das Licht bricht sich traumhaft schön in dem klaren Wasser und ich kann die untergehende Sonne für einen Augenblick durch die Wasseroberfläche sehen. So schön der Moment unter Wasser auch ist, so schmerzhaft ist auch jede Sekunde. Mit einem befreienden Schrei tauche ich wieder auf und schüttle das Wasser aus meinen Haaren. Mit schnellen großen Schritten pflüge ich eilig hinter Ludger und Jack aus dem Wasser. Theresa erwartet uns, mit der bereits geöffneten Wodkaflasche und einem breiten Grinsen. In dem sonnengegerbten Gesicht wirken ihre Zähne so weiß wie von einem Jugendlichen, obwohl sie schon achtunddreißig ist. Wir lassen die Flasche kreisen, während wir im Wind trocknen. Erst jetzt bemerke ich, wie warm mir eigentlich ist. Nein, nicht warm – heiß! Meine Haut brennt kribbelnd und ich habe den Eindruck, vor Energie zu platzen.
Wieder in trockenen Klamotten steckend, setze ich mich zu den anderen in den Sand. Wir lassen weiter den Wodka kreisen und ich beginne mir eine Zigarette zu drehen. Jack bietet mir wortlos eine von seinen chinesischen Filterlosen an, welche ich dankend ablehne. Jedes Mal, wenn Jack sich eine Zigarette ansteckt bin ich irritiert, da er trotz seiner fünfundzwanzig Jahre und seinem Job als Banker noch sehr jungenhaft wirkt. Seinem drahtigen Körper und seinen feinen, fast kindlichen Gesichtszügen verleihen lediglich die ernsthaften, wachen Augen etwas Erwachsenes – und die Zigarette. Wir reden wenig. Alle genießen den Blick auf den schier endlosen See, der ein letztes Mal für heute von warmem Licht geflutet wird. Ich kann gar nicht denken, da mein Verstand so damit beschäftigt ist, jede einzelne Facette dieses einzigartigen Naturschauspiels aufzunehmen. Im Sand sitzend und in die rosige Ferne starrend überkommt mich ein Gefühl absoluten Friedens.
„Durak!“, rufen alle lachend. Die Sonne ist untergegangen und langsam kriecht die Kälte der Nacht vom See heran. „Blyat“, antworte ich nur. Ludger reicht mir grinsend den Kartenstapel und ich beginne zu mischen. Wir unterhalten uns heiter weiter über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland, China und Russland und unser Leben daheim. Jack ist seit seinem Start in Wladivostok vor zwei Wochen allein unterwegs und will in weiteren zwei Wochen in Moskau sein, um dann nach China zurückzukehren. Theresa berichtet von ihren Abenteuern in den letzten zwei Monaten in Kasachstan, der Mongolei und von der Nacht, in der sie am Ostufer des Baikalsees gecampt hat – wo wir sie getroffen haben. Während die Temperaturen sinken, steigt unsere Stimmung. Nach geleerter Wodkaflasche öffnen wir die ersten Biere und spielen noch ein paar Runden Durak, bis es zu dunkel ist. Nachdem die Nacht über uns hereingebrochen ist, lege ich mich auf den Rücken und beobachte rauchend das Firmament. Selten konnte ich so viele Sterne in einer solchen Intensität beobachten. Als die erste Sternschnuppe einen weiten Bogen über das Himmelszelt zieht, weiß ich gar nicht, was ich mir wünschen soll.
Titellos
von Matthias Cherek
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ ist dieser Text einer spannenden Diskussion zwischen zwei Akteuren entstanden.
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Du hast ein gutes Leben geführt. Alles in allem etwas durchschnittlich, aber du hattest niemals große Ambitionen. Deine beiden Kinder waren schon vor deinem Herzinfarkt erwachsen. Du hast niemanden allein gelassen, indem du gestorben bist. Ich hoffe, das beruhigt dich.
Ich bin tot?
Ja – tot. Du lebst nicht.
Also ist das hier das Jenseits?
Ja und nein.
Was bedeutet das denn?
Dass noch nicht entschieden wurde, welches dein Schicksal wird.
Was kann denn mit mir passieren? Werde ich wiedergeboren?
Vielleicht. Wir werden sehen, wie unser Gespräch verläuft.
Ist das hier eine Art Bewerbungsgespräch?
Ja, aber nicht so, wie du denkst. Hier wird nur untersucht, welchem Zweck du dienen kannst.
Was für einem Zweck soll ich denn noch dienen, wenn ich tot bin?
Der Tod ist nicht permanent. Bisher hat dich niemand gefunden, dein Ableben kann also noch problemlos rückgängig gemacht werden. Aber sogar nachdem dein Körper begraben wurde, gibt es Mittel und Wege, dich zurück unter die Lebenden zu schicken.
Du kannst mich wiederbeleben? Bist du Gott?
Nein, ich bin kein Gott. Ich habe deine Götter erschaffen, wie ich auch dich erschaffen habe.
Also bist du der Gott der Götter.
Nein. Niemand außer dir weiß von mir. Nicht die Menschen und nicht die Götter. Sobald entschieden wurde, was mit dir geschieht, wirst auch du nichts mehr von mir wissen. Es gibt mich gar nicht, dort wo du existierst.
Das verstehe ich nicht.
Ich weiß.
Und was wird jetzt aus mir?
Erzähl du es mir.
Wie kann ich denn entscheiden, was aus mir wird? Ich dachte, du hättest mich erschaffen. Dann musst du auch entscheiden.
Deine Entscheidung ist die Meine. Du und ich, wir sind verbunden. Ohne mich gäbe es dich nicht, aber ohne dich wäre auch ich nicht hier.
Also habe ich mich selbst erschaffen?
Genau.
Aber wo komme ich denn her? Wo war der Anfang?
Der kam von mir. Es muss immer einen Anfang geben. Und ein Ende.
Also, wenn ich entscheiden muss, dann möchte ich weiterleben.
Warum?
Weil tot sein so endgültig ist.
Das genügt nicht. Welchem Zweck dienst du? Welchen Aspekt treibst du voran?
Was? Ich weiß nicht, was du meinst. Das Leben muss doch keinem Zweck dienen. Es ist sein eigener Zweck.
Nein, nicht du. Du lebst – und stirbst – für einen Zweck.
Für welchen Zweck bin ich denn gestorben?
Ich wollte sehen, was du davon hältst.
Vom Sterben? Finden die Leute ihren eigenen Tod denn nicht immer schlecht?
Nein. Es gibt viele gute Gründe für den Tod. Die meisten sehen das ein. Um ehrlich zu sein, frage ich viele gar nicht. Aber du bist anders.
Bin ich etwas Besonderes? Vielleicht muss ich deshalb weiterleben.
Nein, du bist nichts Besonderes. Du bist anders. Aber warum bist du anders? Was ist dein Zweck?
Was weiß ich denn? Das ist ziemlich frustrierend. Dauernd fragst du nach meinem Zweck, aber ich habe doch keinen Schimmer, was ich hier soll.
Was wolltest du denn, bevor du gestorben bist?
Glück, Liebe, Reichtum. Solche Dinge.
Bist du sicher? Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich etwas so Langweiliges zulassen würde.
Doch. Du hast doch selbst gesagt, ich hätte keine großen Ambitionen.
Dann lass es uns anders angehen. Erzähl mir von deinem Leben. Wer bist du, woher kommst du?
Also gut. Ich heiße …
Du erinnerst dich nicht an deinen Namen?
Nein. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich an gar nichts.
So ist das also. Ich glaube, ich weiß jetzt, welchem Zweck du dienst.
Welchem denn?
Lebe wohl und danke.
Danke wofür?
Danke fürs Lesen.
Corona-Tagebuch
von Tim Seidel
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Der Wecker klingelt, 8:00 Uhr.
Ich setze meine glänzende Bialetti auf das gleiche Kochfeld wie jeden Morgen und gehe duschen, während sich der herrliche Kaffeegeruch in der ganzen Wohnung verteilt. Man könnte meinen, es sei ein ganz normaler Montagmorgen. Doch nichts ist momentan normal. Ich klappe meinen Laptop auf und starte die erste Zoomsitzung des Tages, die erste, aber bei weitem nicht die letzte.
Die Dozentin ist überaus nett und gibt sich größte Mühe, den Stoff so gut es geht zu vermitteln. Ihre Kopfhörer sind so groß wie die Ohrenschützer eines Forstarbeiters, damit sieht die zierliche Frau eher aus wie eine Pilotin oder Funkerin im Krieg. Eine komische Analogie, die würde Macron mit Sicherheit gefallen.
Die „Vorlesung“ kommt zum Ende mit den Worten: „Bleiben Sie gesund und Zuhause.“ Zum ersten Mal seit Beginn meines Studiums wäre ich um 8:30 Uhr lieber im Audimax statt Zuhause vor meinem Laptop, mit einem lauwarmen Kaffee in meiner Hand.
Die nächste Sitzung geht zu Ende, wieder wird uns viel Gesundheit gewünscht. Irgendwie beginne ich jedes Mal innerlich „Viel Glück und viel Segen“ zu singen, wenn jemand mir Gesundheit wünscht.
Meine Kontaktlinsen fühlen sich trocken, hart an und dabei ist es erst 15:00 Uhr. Wieder wünschte ich im Audimax oder im Büro zu sein, statt zu telefonieren oder E-Mails zu schreiben. Ich wundere mich über mich selbst.
Wie oft ist ein Vorlesungsbesuch daran gescheitert, dass mir der Weg zu weit war oder ich beim Frühstücken so sehr getrödelt habe, dass es sich meine Ansicht nach nicht mehr gelohnt hat und wie oft habe ich mir gewünscht, mich einfach kurz in die Vorlesung oder ins Büro beamen zu können? Der Wunsch ist jetzt in Erfüllung gegangen und dennoch wünschte ich, es wäre alles wieder wie früher.
Wie kommt es, dass man immer das haben will, was man nicht haben kann, statt sich zu freuen über das, was man hat? Eine Frage, auf die ich noch keine Antwort weiß, aber zum Glück habe ich momentan genug Zeit, eine zu finden.
Corona-Tagebuch
von Johanna Demory
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Corona – ein Mantra in aller Munde, und seinen Alltag kann man vergessen
Ziemlich viele Gedanken, die sich um dieses Virus gemacht werden. Zu Recht! Es ist gefährlich. Es breitet sich rasend schnell aus. Es gefährdet Menschen, und zwar jeden. Man sieht es nur nicht. Oder doch? Über die Schreckensbilder aus dem griechischen Flüchtlingslager scrollt man schnell hinweg, in Gedanken schiebt man sie einfach zur Seite – man ist ja nicht in Griechenland. Und dann sieht man das Virus wieder nicht. Man spürt es auch nicht, wenn man es selbst noch nicht hatte, und keinen Angehörigen hat, der daran erkrankt ist. Und trotzdem hat sich alles verändert. Einkaufen – oder auch eben nicht einkaufen, wenn es um nichts Lebenswichtiges geht – ist anders. Es ist leerer, kein Gedränge mehr. Es fühlt sich anders an. Die Hände, zum Beispiel, fühlen sich schneller klebrig und dreckig an. Waschbedürftig. Einkaufen riecht anders. Nach Desinfektionsmittel? Geht so. Nicht in jedem Laden wird der Haltegriff des Einkaufwagens, nach Benutzung, mit der antibakteriellen Substanz eingenebelt. Nicht jeder benutzt die angeketteten Fläschchen, die in den Eingängen der Läden bereitstehen. Angekettet deshalb, weil sie sonst jemand mit nach Hause nehmen würde. Zur Sicherheit, und auf Vorrat natürlich. Auch Mundschutzmasken-Klau ist eine anerkannte Sportart geworden.
Irgendwie ist die Corona-Krise überall angekommen, irgendwie aber auch nicht. Wo ist sie angekommen, und wo nicht? Wenn eins feststeht, dann das: Sie ist in den Medien angekommen. Die Medien sind aus der Krise überhaupt nicht wegzudenken. Das Wort Corona steht überall geschrieben. Covid-19 wäre zu kompliziert, das benutzen nur die Virologen. Es muss einleuchtend sein, schnell lesbar, ohne Zahlen. Corona, Corona, Corona … Wie ein Mantra in aller Munde. Sätze wie: „Das darf ja jetzt nicht mehr …“, oder: „Okay, im Moment nicht, wegen Corona …“, sind zum gewohnten Anhängsel eines jeden Gesprächs geworden. In den Gedanken hat sich Corona etabliert, egal, ob man zu Hause vor dem Bildschirm sitzt, eben schnell zur Post möchte, oder beim Spaziergang versucht, eine Corona-freie Liegewiese zu finden. Die Maßnahmen sind klar, die meisten halten sich daran. Einfache Regeln. Aber da ist noch ein Rest-Zweifel in uns. Etwas bleibt jedes Mal übrig. Ungeklärte Fragen, wie lange das alles noch so weitergeht. Und vor allem, wie es danach weiter geht. Ist es irgendwann vorbei? Wird es nie vorbei sein? Manche sagen das Eine, die Nächsten behaupten das Andere. Und dann fühlt man sich unsicher. Unfähig, den Alltag wieder aufzunehmen. Er fällt ganz anders aus, unproduktiver, mit weniger Bewegung. Und man wartet nur darauf, die alten Routinen von vorher wieder aufnehmen zu können, die spannender waren, und mit mehr Bewegung darin. Und dieses Warten bedeutet: Wir sind noch nicht angekommen in der Krise. Denn auf etwas zu warten, ist oft der falsche Weg, um in etwas anzukommen, was man ernst nehmen sollte. Aber was sollen wir tun? Wir können nicht anders.
Corona-Tagebuch
von Matthias Cherek
Im Rahmen des Kurses „Texte in Arbeit (Oberseminar)“ sind eine Reihe von Texten zur Corona-Pandemie entstanden, in denen die Studierenden die Möglichkeit hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.
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Ich verliere langsam den Überblick. Kontaktsperre ab drei Personen, außer Kernfamilie – was auch immer das bedeutet – Geschäfte öffnen ab wieviel hundert Quadratmetern? Außer Buchhandlungen und Autohäusern – interessant – und tausend Regeln mehr. Wo soll ich nochmal eine Maske tragen? Überlebt das Virus auf Oberflächen? Reichen zwei Meter Abstand beim Joggen? Ich habe da von einer Studie gehört, die besagt, dass während der Corona-Pandemie viel mehr Leute über Studien reden. Hat die denn ein Peer-Review? Ich weiß immer über die neuesten Entwicklungen Bescheid: In New York werden Massengräber angelegt, der Iran lügt, China vielleicht auch, Südkorea hat alles toll gemacht. Bescheid – achja, ums Bafög muss ich mich noch kümmern. Wird meine Regelstudienzeit verlängert? Schnell mal googlen, dann weiß ich … Bescheid. Die neueste Ausgabe von Vox Machina Origins wird wegen Corona nicht veröffentlich. Ich soll mich wegen der andauernden Krise in Geduld üben, ein neues Veröffentlichunsdatum wird bald bekannt gegeben. Warum wird denn die Veröffentlichung von einem digitalen Comic verschoben? Ich mache mir jetzt Waffeln. Schnell schauen, ob alles da ist – Milch, Zucker, Eier, Meh… – Ich bestelle mir jetzt Pizza.
Na toll, jetzt habe ich eine Woche nicht an meinem Corona-Tagebuch gearbeitet und schon ist alles veraltet.
Was wird von der Corona-Krise bleiben?
von Christoph Leuchter
Entstanden ist das Essay als Gastbeitrag für die AZ/AN im Rahmen der Corona-Pandemie.
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Was auch geschieht, wie lange auch immer das alles noch dauert – für viele ist eins längst klar: Nach der Krise wird nichts mehr so sein wie zuvor.
Stimmt das? Vielleicht. Indes mit Gewissheit sagen, kann es niemand. Hat es doch ähnliche Aussagen schon im Zusammenhang mit der Finanzkrise von 2008 gegeben. Und mal ehrlich: So wahnsinnig viel hat sich seitdem für die Menschen auf der Straße, die momentan eher zu Hause bleiben müssen, nicht verändert.
Aber – zwischen 2008 und 2020 gibt es einen fundamentalen Unterschied: Die Krise damals war für die meisten Menschen eine sehr abstrakte. Banken mussten gerettet werden. Rettungsschirme wurden aufgespannt. Aber außer den Finanzexperten und denjenigen, die tatsächlich Aktien von Lehman Brothers gekauft hatten, wusste niemand so recht, was da eigentlich geschah. Die Börsen spürten es und massiv natürlich die Griechen, aber hierzulande war der ganze Spuk für die meisten schnell vorbei. Ein bisschen musste man noch um den Euro bangen, aber das war‘s dann auch: Die wenigsten Deutschen waren existenziell bedroht.
Das ist jetzt anders. Und das Ausmaß lässt sich bislang allenfalls erahnen. Sehen und fühlen kann man aber schon jetzt: Das, was die sogenannte Corona-Krise mit uns macht, betrifft plötzlich die Menschen selbst – ganz real und in Echtzeit. Nicht die da oben, nicht die Mega-Konzerne, nicht irgendwen, nein, uns alle und unmittelbar.
Das Virus ist lebensgefährlich! Und das im doppelten Sinn. Die einen kostet – und das ist am allerschlimmsten – die Krise tatsächlich das Leben. (Dabei ist es im Übrigen völlig egal, wie alt man ist – alles andere ist blanker Zynismus!) Das Leben der anderen wird in irgendeiner Form berührt sein. Corona, so schön der Name auch klingt, scheint sich vor allem zu einer psychologischen und einer wirtschaftlichen Krise auszuwachsen. Aber diesmal trifft es in erster Linie die Friseurin, die ihren Job verliert, den Mechatroniker, der in Kurzarbeit muss, und den mittelständischen Unternehmer, dem die Insolvenz droht.
Die gesundheitliche Gefahr beziehungsweise Dimension des Ganzen ist immer noch schwer zu fassen. Unzweifelhaft erkennt man sie daran, dass in den Medien aktuell die Virologen das Wort führen. Vorher kamen die in den Programmen gar nicht vor. Ansonsten kämpfen die meisten von uns eher mit den Konsequenzen des sogenannten Kontaktverbots als mit der wirklichen Bedrohung. Die Fernsehbilder italienischer Militärkonvois, die Hunderte von Leichen transportieren, wirken nur tausend Kilometer entfernt wie düstere Hollywoodproduktionen, surreal, nicht wie das wahre Leben.
Es fällt auf, dass nicht alle Experten in der Krise immer richtigliegen. Manche Virologen und Wirtschaftsweisen scheinen bei ihren Vorhersagen eher die hauseigenen Glaskugeln zu bemühen. Gleichwohl: Je länger das Ganze dauert, desto häufiger fragen die Menschen schon jetzt nach dem Sinn. Was lernen wir aus der Krise?
Erste Antworten klingen hier und da allerdings, als sei irgendjemand schuld an dem Ausbruch von Covid-19. Als müsse man Systeme oder Handlungsträger dafür zur Rechenschaft ziehen.
Das ist Unsinn! Weder der Kapitalismus hat das Virus losgetreten noch die Globalisierung. Alles andere ist Verschwörungstheorie. Eine Pandemie kommt einfach: die Pest, die Spanische Grippe, Ebola, Corona. Wie sehr sie sich ausbreitet, ist eine andere Frage. Und eine Epidemie ist auch keine Strafe Gottes. Gleichwohl muss man nicht alles in der Welt, wie wir sie kennen, grenzenlos gut finden – nicht den Turbo-Kapitalismus, der uns kurzsichtig und kurzatmig macht, nicht diejenige Globalisierung, die die Menschen vergisst, und erst recht keine Religionen, die von strafenden Göttern träumen.
Es kann nie schaden, darüber nachzudenken, wie wir in Zukunft leben wollen: Wie können wir – wenn schon nicht total „entschleunigen“ – wenigstens nicht permanent überdrehen? Wie lässt sich die drohende Spaltung der Gesellschaft und der Welt überwinden? Ist es richtig, dass ein Top-Manager zig Mal so viel verdient wie eine Altenpflegerin oder ein Paketzusteller? Hat das eine vielleicht sogar mit dem anderen zu tun? Diese Fragen kann und muss man sich immer stellen. Manche Leute haben nur gerade mehr Zeit zum Denken – und vielleicht ist das gut so.
Spätestens bei der Frage, wie wir unsere Umwelt und damit auch unsere Gesundheit besser schützen, was wir dringend tun müssen, spätestens da lehrt uns die Krise, dass Lösungen nicht so einfach sind wie „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Weil die Welt eine komplexe ist.
Erste Reaktionen und Kommentare, die bereits jubilieren und das aktuelle „Herunterfahren“ des gesellschaftlichen Lebens als Beweis dafür anführen, dass es „auch anders geht“, darf man getrost als naiv oder ideologisch zurückweisen. Der aktuelle Zustand der Gesellschaft ist sicher weit vom Ideal entfernt – es sei denn, man ist zufällig Misanthrop oder Narzisst.
Aber noch einmal: Was können wir lernen? Müssen wir etwas lernen?
Sicher wird es Neuerungen in der nächsten Zeit des Improvisierens geben, die sich als sinnvoll erweisen; aus der Not Geborenes, das wir, wo es möglich ist, beibehalten können: Homeoffice, Videokonferenzen, Desinfektionsmittel. Manchmal sind es auch Gepflogenheiten, die wir bereits kannten, aber irgendwie vergessen hatten: Lesen, Sinnieren, Spazierengehen.
Wir lernen auch, dass die Krankenhäuser und Pflegeheime demnächst besser mit Masken und Schutzausrüstung ausgestattet sein müssen, logisch. Ach ja, wir lernen – wieder einmal –, dass Geld nicht alles, aber auch nicht unwichtig ist. Und wir lernen gleichzeitig, dass „Durchökonomisieren“ nicht überall das Maß der Dinge sein darf. Und: Alles ist wichtiger als Klopapier!
Bleibt die verwunderte Erkenntnis: Das Leben und unsere Gesellschaft sind immer noch verdammt verletzlich – auch in Zeiten von schnellerem Internet und Operationen am offenen Herzen. Das hätten wir so nicht gedacht. Für unsere Gesundheit gibt es selbst in der hochmodernen Welt keine Garantie. Aber wir leben zum Glück nicht mehr im Mittelalter und unser Gesundheitswesen kann Maßnahmen ergreifen, die bisweilen sogar erfolgreicher sind als Medikamente und Impfstoffe.
Mitte März, kurz vor dem Kontaktverbot, als sich die Entwicklung schon abzeichnete, da sagte meine unerschrockene Friseurin: „Die Krise wird auch eine Chance für uns sein. Selbst die schlimmste Katastrophe ist für irgendetwas gut.“ Mutig. Uneigennützig. Nahezu philosophisch. Aber das wussten wir ja schon immer: dass die wahren Philosophen Steinmetze, Linsenschleifer und Friseurinnen sind.
Und ob wir daraus etwas lernen oder nicht – es zeigt sich: Leben findet auch in digitalisierten Zeiten immer noch vor Ort statt. Dort leisten die kleinen und großen Helden der Krise gerade Bewundernswertes: Die Kassiererin im Supermarkt, der Student, der bei der Telefonseelsorge aushilft, Ärzte und Pfleger in Kliniken und Altenheimen sowieso. Die Liste lässt sich ins Unendliche verlängern. Selbst Politiker machen keine schlechte Figur. Und plötzlich gibt es überall Nachbarn, die sich unterstützen, Spaziergänger, die sich grüßen, Polizisten, die singend durch die Straßen ziehen und für einsame Menschen die Sonne aufgehen lassen. Das tut gut. Das lässt hoffen. Grandios, wenn das auch nach der Krise so bliebe.
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Christoph Leuchter ist Schriftsteller und Musiker und leitet das Schreibzentrum der RWTH-Aachen University.