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RWTH-Schreibzentrum

Kategorie: ‘Allgemein’

„Außer mir weiß es niemand mehr.“

25. Juli 2016 | von
 Dieses bewegende Portrait des überlebenden jüdischen Widerstandskämpfers, schrieb Simone Hüttenberend im Rahmen unseres Journalistisches Schreiben . Vielleicht habt ihr es auch schon in der letzten Ausgabe der AStA-Zeitschrift „relatif“ gesehen? Danke für diesen tollen Artikel!

Als der junge Siegmund die Männer an seinem Fenster vorbeimarschieren sieht, ist er fasziniert von ihrem imposanten Erscheinungsbild: „Baumlange Kerle, adrett gekleidet und gut genährt.“ Disziplinierte Frontsoldaten in geordneten Reihen. Kein einziger Schuss fällt. Die Gerüchte, die den Besatzern vorausgeeilt sind, scheinen sich  nicht zu bewahrheiten; Deutschland ist eben doch eine Kulturnation und weiß sich zu benehmen. Glaubt man.
3. September 1939, zwei Tage nach Kriegsbeginn. Die Nazis besetzen das polnische Będzin, um es kurzerhand in Bendsburg umzubenennen und es in das Deutsche Reich einzugliedern – inklusive seiner 40.000 Einwohner, unter ihnen 27.000 Juden.
In der Nacht vom 8. zum 9. September ermordet die Wehrmacht im historischen Judenviertel 400 Menschen. Sie werden in die Synagoge getrieben und in ihr verbrannt. Wer zu fliehen versucht, wird erschossen. Von eben jenen baumlangen Kerlen, die der junge Siegmund noch fünf Tage zuvor so bewundert hatte. Mit 15 Jahren muss er  erfahren, was es heißt, wenn einen die bloße Existenz zum Verbrecher macht.
Über dem Sofa hängt ein farbenfrohes Bild von den Gärten von Jerusalem. Dunkelgrüne Palmen und Pinien stehen vor einem tiefblauen Himmel, dazwischen liegen weiße Häuser mit roten Dächern. „Das Bild ist von meinem Sohn“, sagt Siegmund Pluznik stolz. Ihm gegenüber hängt ein ähnlich buntes Gemälde, gemalt von seinen Enkeln. Siegmund Pluznik wohnt heute in der Budge-Stiftung in Frankfurt. Das Ehepaar Henry und Emma Budge hat vor über 90 Jahren die Stiftung gegründet, damit hier Juden und Christen miteinander in Würde altern können. Mit diesem Auftrag ist das Seniorenheim einzigartig in Europa, auch wenn es kaum noch möglich ist, die Zimmer zu gleichen Teilen zu belegen. Im koscheren Esssaal sitzen die letzten Überlebenden der Shoah, beinahe wöchentlich werden es weniger.
„Wir durften nicht auf der Hauptstraße laufen, in den Park gehen, auf der Bank sitzen. Alles nicht ausdrücklich Erlaubte war verboten. Darunter fiel vor allen Dingen der Schulbesuch.“ Die Jugendorganisation Ha‘noar Hazioni fasst den waghalsigen Entschluss, ihre Mitglieder trotz Schulverbots weiter zu unterrichten. Siegmund Pluznik ist einer von ihnen. Die Schüler müssen ihre Bücher zum Unterricht schmuggeln und riskieren für ein bisschen Bildung nicht nur das eigene, sondern auch das Leben ihrer Familien. Einmal erwischt gibt es keine Hoffnung auf Rückkehr. „Auschwitz lag 40 km vor den Toren von Będzin. Wir hörten, dass es immer mehr Gaskammern und Krematorien gab. Ganz einfach: Auschwitz bedeutete langsamen oder schnellen Tod. Mit dieser Gewissheit konnten wir alles riskieren. Sie hat uns geholfen, in den Widerstand zu gehen.“
 Als Siegmund Pluznik vor gut 20 Jahren in den Ruhestand geht, wird die Geschichte des Jüdischen Widerstandes zu seiner Lebensaufgabe. Er hat Archive aufgesucht, Dokumente und Fotos durchforstet sowie eine Ausstellung ins Leben gerufen. Er nennt Namen, von Opfern und von Tätern. „Es ist mir wichtig, dass Sie es wissen. Weil nach Elie Wiesel (Shoah-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, Anm. d. Red.) wird jemand, der dem Zeitzeugen zuhört, auch zum Zeitzeugen. Vom wem sollen Sie es sonst erfahren? Außer mir weiß es niemand mehr.“
Das erste Opfer der Klasse ist Joseph Weinstock. Er wird in ein Arbeitslager geschickt. Ein paar Wochen später kommt die Nachricht von seinem Tod. Monat für Monat verschwinden weitere Menschen, Bendsburg wird  germanisiert. Während die Wehrmacht die polnische Bevölkerung aus der Stadt vertreibt, wird Siegmund Pluznik mit seiner Familie einem „Geschlossenen Judenbezirk“ zugewiesen. „Im Prinzip war es kein richtiges Ghetto. Unter Ghetto versteht man, wenn es umzäunt ist, mit Mauern umgeben oder mit Wachtürmen und Stacheldraht. Das war in Będzin nicht nötig. Um sich zu verstecken oder wegzulaufen, brauchte man Hilfe. Die hatten wir nicht.“
Als am 1. August 1943 der „Judenbezirk“ liquidiert wird, hat sich die ehemals unpolitische Ha‘noar Hazioni zu einer gut organisierten Widerstandsgruppe entwickelt. Mit Verbindung zu Mordechaj Anielewicz und Eliezer Geller, zwei Anführern des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Ihr erklärtes Ziel ist es, zu überleben, um ihre Geschichte weiter erzählen zu können. Von den 60 Menschen, die an diesem Tag in den Untergrund abtauchen, werden 45 den Krieg überstehen.
Siegmund Pluznik ist der reinste Entertainer, wenn er vor Leuten spricht. In einem Moment scherzt er über seine Karriere als Schulschwänzer, im nächsten durchwacht man mit ihm eine Nacht im Luftschutzbunker. Gerade  Schüler fühlen mit dem jungen Siegmund, der ohne Grund von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen wird, und sie fiebern mit, als der 17-Jährige sich auf die Suche nach Schmugglern macht und nicht so recht weiß, wie er das anstellen soll.
In einer zehnköpfigen Gruppe flüchtet Siegmund Pluznik über die Tschechei nach Wien. „Der 1. August 1943 war ein sehr heißer Tag und ich trug ein Sommerjäckchen. Im Winter trug ich noch dasselbe Jäckchen, dieselbe Unterwäsche.“ Im November sinkt die Temperatur in Wien auf unter fünf Grad. Um der Kälte zu entgehen, fährt Siegmund Pluznik lange Strecken Straßenbahn und treibt sich in den öffentlichen Badeanstalten herum. Dabei gilt es, möglichst nicht aufzufallen: Ungepflegte, unbeschäftigte Menschen gelten als suspekt, erst recht in Kriegszeiten. „Wenn Sie obdachlos sind, wo wollen Sie sich rasieren?“
Am Opernring, direkt neben dem Naturhistorischen Museum, steht zu jener Zeit ein Toilettenhäuschen. Im Morgengrauen, wenn es die Männer vor lauter Kälte nicht mehr aushalten, können sie sich hier ein wenig aufwärmen, sich waschen und rasieren. Nur die Toilettenfrau wird Zeugin des Geschehens. Siegmund Pluznik gibt ihr statt 10 Pfennig 20 Pfennig. „Nach ein paar Tagen fand ich eine Rasierklinge beim Waschbecken. Gebraucht
zwar, aber sie war besser als meine. Die Frau hätte mich der Gestapo ausliefern können, stattdessen machte sie mir ein Geschenk. Um jemanden in Not zu helfen, muss man keine Titel, keine Diplome besitzen, man muss nur das Herz an der richtigen Stelle haben.“
Heute spricht Siegmund Pluznik nicht mehr zu Klassen. Er hat seine Ausstellung an den HEIMATSUCHER e.V. weitergegeben. Damit die Geschichte nicht mit den letzten Überlebenden verstummt, hat der Verein das Konzept der Z(w)eitzeugen entwickelt. Die Zeugen der Zeitzeugen veranstalten Ausstellungen und besuchen Schulen. Sie tragen die Geschichten der Shoah weiter und stoßen bei den Schülern auf viel Empathie und Tatendrang. Als frisch gebackene Z(w)eitzeugen können die Schüler schließlich Briefe an die Überlebenden schicken, solange es sie noch gibt.
Siegmund Pluznik sitzt an seinem Küchentisch neben der Durchreiche. Eine große Lupe in der einen, sein Telefon in der anderen Hand. Vorsichtig drückt er die Ziffern und wartet auf das Freizeichen. Am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Stimme und Siegmund Pluznik geht in die Charme-Offensive. Am liebsten sucht er Unterstützer für den HEIMATSUCHER e.V. und schmiedet Pläne für neue Ausstellungen und Lesungen. Auch wenn er seit einigen Jahren kaum selbst noch Vorträge hält, den Kampf gegen das Vergessen wird er niemals aufgeben. Es ist ein unerbittlicher Kampf mit einem hartnäckigen Gegenspieler – der Zeit.
„Ich bin 15 Jahre alt und eigentlich ein wenig kalt manchmal, aber du hast mich zum Nachdenken gebracht. Ich sehe jetzt alles mit anderen Augen. Ich finde es gut, dass du deine Erfahrung und dein Wissen mit uns teilst. Mit uns meine ich alle Menschen, die deine Geschichte mitbekommen haben, denn alle Menschen sind gleich. Danke, dass du da bist, Siegmund.“
– Brief einer Schülerin (15 Jahre)

Auf geht’s ins Blätterdach

28. Juni 2016 | von

Eifelbäume

 

Was machen zwei Studierende nachts im Wald? Für ihre Reportage hat Christine Hendriks die beiden bei ihren Forschungen in den Wäldern der Region begleitet.

Ein weiterer interessanter Artikel aus unserem Seminar Journalistisches Schreiben, der auch in der AZ / AN erschienen ist. Herzlichen Glückwunsch!

 

Wie und warum Vanessa Bursche und Klara Krämer Eifelwälder unter die Lupe nehmen. Vom Wert der Bäume.

Es regnet nicht. Seit etwa einer Stunde ist es dunkel. Durch die Baumkronen scheint fahles Mondlicht und wirft bizarre Schatten auf den Waldboden. Ein Käuzchen schreit. Dann ist es wieder still. Niemand ist um Mitternacht im Wald unterwegs – sollte man meinen. Zwei junge Frauen schleppen eine Obstbaumleiter durch das Unterholz und richten sie unter einer Buche auf. Klara drückt die Verankerungen tief in den Boden, während Vanessa ihr Messgerät überprüft. „Das sollte halten“, sagt Klara. Vanessa grinst und klettert die frei stehende Leiter vier Meter hoch bis ins Blätterdach.

Ein RWTH-Projekt

Vanessa Bursche und Klara Krämer sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Umweltforschung der RWTH Aachen. Als Promotions-Stipendiatinnen der Dr.-Axe-Stiftung untersuchen sie den Einfluss verschiedener Waldmanagement-Strategien auf die Entwicklung der Rotbuchenwälder in der Eifel. Silvaluta, ihr Projekt, läuft seit 2010. Ziel ist es, die ökologischen Prozesse zu verstehen, denn neben dem Rohstoff Holz liefern die Wälder einen wichtigen Beitrag zum Klima und dienen als Lebensraum für viele Tierarten.

„Es gibt viele alte Bestände schon von vor den Wetteraufzeichnungen, und man weiß nicht, wie die Leute den Wald damals bewirtschaftet haben. Manchmal führen sogar Römerstraßen durch den Wald“, erzählt Martina Roß-Nickoll, Leiterin der Arbeitsgruppe „Ökologie und Ökotoxikologie der Lebensgemeinschaften“. Die Erforschung der unterschiedlich bewirtschafteten Waldflächen im Landkreis Ahrweiler bringt viele Herausforderungen mit sich. „Bäume leben sehr lange. Ein Menschenleben beträgt nur circa ein Fünftel des Lebens eines Baumes.“ Deshalb könne man Wälder nur in Momentaufnahmen untersuchen. Eine komplexe Aufgabe, die für die Ökologin auch eine persönliche Bedeutung besitzt. „Ich möchte die Wälder so naturnah wie möglich gestalten, und durch die Aufklärung der Prozesse vermitteln, wie wertvoll sie für uns sind.“

In einem gesunden Wald ist es im Sommer kühler und feuchter als auf dem freien Feld. Die klimatischen Bedingungen stehen in engem Zusammenhang mit der Photosynthese der Blätter. Ein zentraler biologischer Prozess, den Vanessa Bursche untersucht,um die Vitalität der Bäume zu bestimmen. Denn mit Hilfe von Sonnenlicht, Kohlendioxid (CO2) aus der Luft und Wasser produziert ein Baumsein organisches Baumaterial. Für einen Kubikmeter Holz bindet er eine Tonne CO2 und bildet gleichzeitig 750 Kilogrammlebenswichtigen Sauerstoff – ein echter Beitrag zum Klimaschutz.

Für die Freilandarbeit muss man spontan sein. „Manchmal fahre ich zwei Stunden zum Wald, weil der Himmel klar ist, und kaum bin ich da, fängt es an zu regnen“, sagt Vanessa Bursche und lacht. Ihr Messgerät bestimmt die Photosyntheseleistung der Blätter, indem es sie mit Licht bestrahlt, und „das geht nur, wenn es keine  ungewünschte Reflexion durch Regentropfen gibt und die Blätter eine Stunde vorher nicht mehr dem Sonnenlicht ausgesetzt waren“, erklärt sie.

Deshalb unternahm sie mit Klara Krämer und der Obstbaumleiter bereits diverse lange nächtliche Streifzüge durch die Eifeler Waldgebiete. Das Klettern im Dunkeln ist kein gewöhnlicher Job, aber an Übung mangelt es nicht: Bei zehn Blättern pro Baum und drei Bäumen pro Fläche untersuchte sie 360  Blätter. „Am Anfang hatte ich wirklich ein bisschen Bammel, aber die Leiter ist sehr stabil.“

Nachhaltiges Management

Die Forstwirtschaft hat in Deutschland lange Tradition, und „es wirkt sich langfristig aus, wie die Förster den Wald behandeln“, sagt Martina Roß-Nickoll. Im naturnahen Plenterwald gibt es Bäume verschiedenen Alters, das heißt, es werden nur einzelne Bäume entfernt. Anders der Altersklassenwald: Hier werden die Bäume gruppenweise ab einem bestimmten Alter gefällt. „Ursprünglich war nahezu die gesamte Landesfläche mit   Rotbuchenwäldern bedeckt“, so die Ökologin. Doch durch die intensive Nutzung und die Einführung von schnellwachsenden Fichten und Douglasien sind die Rotbuchenbestände heute auf weniger als fünf Prozent geschrumpft. Nachhaltiges Waldmanagement ist nötig, um diese Wälder für kommende Generationen zu erhalten.

Ein Mikroskop, daneben eine Glasschale mit toten schwarzen Käfern, die säuberlich angeordnet auf dem Rücken liegen – Klara Krämer kennt sie alle. „Ich untersuche, wie sich die verschiedenen Waldwirtschaftsformen auf die Vielfalt der Käferarten auswirken“, sagt die Doktorandin. Dazu hat sie Käfer in Bodenfallen gefangen und 10 000 Liter Waldboden durchsiebt.

Eine gewisse Sehnsucht

Sie holt ein Foto aus ihrem Ordner. „Das ist ein Holzrüssler“, eine seltene Art, die für ihre Arbeit besonders aufschlussreich ist. Der nur zwei Millimeter große Bewohner alter Wälder ernährt sich von Totholz und ist flügellos. Deshalb bewegt er sich nur wenige Meter pro Jahr und kann vor äußeren Einflüssen nicht fliehen. Wenn sie ihn findet, hat Krämer ein wichtiges Indiz, dass es sich um einen alten naturbelassenen Wald handelt.

„Wälder sind etwas Besonderes“, da sind sich die drei Wissenschaftlerinnen einig. „Vielen Leuten ist heute nicht mehr klar, dass diese Ökosysteme ganz ohne den Menschen funktionieren, weil die Konkurrenz um Nahrung und Lebensraum zu balancierten Systemen führt“, sagt Martina Roß-Nickoll. Für die Untersuchung dieser komplexen Prozesse erfahren die Forscherinnen viel positive Resonanz von der Öffentlichkeit. Das sei vor 30 Jahren noch nicht so gewesen, erinnert sich die Gruppenleiterin. „Ich glaube, die Menschen sehnen sich heute nach etwas Dauerhaftem, und finden im Wald Erholung vom hektischen Alltag.“ Ein Grund mehr, wieder in die Eifel zu fahren, finden Klara Krämer und Vanessa Bursche – Ökologinnen aus Leidenschaft.

Das Projekt Silvaluta des Instituts für Umweltforschung der RWTH Aachen läuft seit 2010 bis voraussichtlich Ende 2016. In diesem Zeitraum werden in der Eifel im Landkreis Ahrweiler unter anderem die Auswirkungen verschiedener Waldbewirtschaftungsformen auf die Vitalität der Bäume und die Lebensgemeinschaften der Tiere und Pflanzen untersucht. Ziel ist es, durch die Forschungsergebnisse ein tieferes Verständnis für die ökologischen Prozesse zu erlangen, um die heimischen Rotbuchenwälder zukünftig naturnah zu gestalten. Förderer sind die Dr.-Axe-Stiftung und die Gemeinde Hümmel.

Aachen sehen … und bleiben?

22. Juni 2016 | von

LisaSchubert_relatif

 

Was macht Aachen schön und liebenswert? Für ihre Reportage hat Lisa Schubert mit drei Studierenden und einem Unternehmensgründer gesprochen, die für ihr Studium in die Karlsstadt gezogen sind. Können sie sich vorstellen, sich nach dem Abschluss in Aachen niederzulassen?

Ein toller Text aus unserem Seminar Journalistisches Schreiben, der auch in der AStA-Zeitschrift „relatif“ zu lesen ist. Vielen Dank!

 

 

 

 

Aachen ist eine der beliebtesten Studienstädte des Landes. Aber können sich junge Studierende vorstellen, ihr ganzes Leben in der Kaiserstadt zu verbringen?

Die goldenen Zeiger des Aachener Rathauses zeigen viertel nach eins. Die steinernen Könige an dessen Nordfassade wachen über den Marktplatz. Der Karlsbrunnen schimmert im Sonnenlicht. Postkartentauglich! Und vor dieser historischen Kulisse, mitten auf dem Aachener Markt tummeln sich unzählige Leute – bunt, laut und vor allem jung.

Jährlich strömen tausende Studierende aus vielen verschiedenen Nationen in die Karlsstadt. Auch Jana, Moritz und Lisa gehören zu denjenigen, die sich für ein Studium in Aachen entschieden haben. Hinter ihnen liegen mittlerweile mehrere Jahre in der Stadt am Dreiländereck.

Die „Hidden Champions“
Als Lars Lambrecht vor fünfzehn Jahren die Leidenschaft für das Segelfliegen nach Aachen trieb, ahnte er noch nicht, dass er sich hier einmal eine Zukunft aufbauen würde. Als junger Bursche stand für ihn zunächst nur fest: „Irgendwas mit Flugzeugen soll es sein!“ Daraus wurde ein Maschinenbaustudium mit dem Schwerpunkt Luftfahrt; und so steuerte er den Überfliegern der RWTH Elite-Universität entgegen.

Ruhig und gelassen sitzt er in einer gemütlichen Sitzecke seiner Firma. Ein großer Raum mit einer überschaubaren Anzahl an Mitarbeitern, direkt am Bahnhof Schanz gelegen. „Engidesk“ stellt Ingenieuren
eine Software zur Verfügung, die ihnen hilft, sehr viel produktiver und kreativer zu arbeiten. Zufrieden erzählt Lambrecht von der Entscheidung, Aachen als Standort für sein Unternehmen gewählt zu haben: „Durch das Studium war genug Zeit, sich hier ein breites Netzwerk aufzubauen, und außerdem gibt es hier viele Unternehmen und ‚Hidden Champions‘.“ Laut Lambrecht wirkt das Jobangebot in Aachen vordergründig begrenzt, schaut man aber genauer hin, finden sich jedoch auch einige Weltmarktführer.

Aufgeschlossen noch und (n)Öcher
Auf dem Aachener Campus tummeln sich mittlerweile etwa 58.000 Studierende. Darunter überwiegend Männer. Einige von ihnen eher schmal und etwas blässlich; als Kleidungsstück dominiert das Karohemd. Klischee erfüllt! „Man trifft eigentlich nur einen Schlag Mensch hier – Ingenieure“, findet Moritz. Als ehemaliger Elektrotechnikstudent fügte er sich eine Zeit lang selbst in die Reihe der Unauffälligen; seit etwa drei Jahren geht er als Doktorand seinen eigenen Weg.

Außerhalb der technischen Universität, fernab von Karohemden und Unscheinbarkeit, begegnet einem das bunte Leben. Lambrecht genießt seinen heterogenen Bekanntenkreis, den er und seine Frau sich über die Jahre aufgebaut haben. „Die meisten sind sehr aufgeschlossen und man spürt die Kreativität. Es begegnen einem vermehrt Leute mit festen Plänen und Zielen, die eine Geschichte zu erzählen haben und unternehmenslustig sind.“

Von allem ein bisschen
Für Aachen finden die meisten zwei Worte: Gemütlich, überschaubar. Die Innenstadt direkt vor der Haustür, die Natur zum Greifen nahe. Der Aachener Wald, das Dreiländereck, der Lousberg; ideale Rückzugsorte für den Naturfreund, der die gelegentliche Flucht aus dem Stadttrubel sucht.

Die Studentin Jana hat etwa drei Jahre in einer Wohngemeinschaft in der Aachener Innenstadt verbracht. Als Geographiestudentin liebt sie die Ferne, Abwechslung und das Reisen. Viele Städte hat sie schon gesehen, darunter Großstädte wie Stockholm, Hamburg und Berlin. Trotzdem hat sie zu Aachen eine ganz besondere Verbindung. „Aachen ist für mich eine ganz besondere Stadt. Sie bietet viel Abwechslung und trotzdem ist zu Fuß fast alles erreichbar.“

Alles Wasser kommt von oben
Der Ursprung des Namens Aachen wird in dem altgermanischen Wort „Ahha“ vermutet, das so viel wie „Wasser“ bedeutet. Noch vor einigen Jahren war Aachen Anlaufpunkt für zahlreiche überarbeitete Geschäftsmänner aus der Umgebung, die nach Erholung in den heißen Quellen suchten. Das heilende Thermalwasser, ein Aushängeschild der Stadt.

Dennoch vermissen viele das Wasser. Denn einen See oder einen Fluss hat das kleine Städtchen nicht zu bieten. „Das Einzige, was in Aachen fehlt, ist ein Gewässer“, findet auch Hobbysegler Lambrecht. Um zum Wasser zu gelangen, muss er mindestens eine Stunde Fahrt zum Rursee oder nach Roermond in Kauf nehmen.

Zu wenig Wasser am Boden, zu viel Wasser von oben. Nicht selten sind die Öcher dem monotonen Plätschern des Regens ausgesetzt. „Das Wetter in Aachen ist eine Katastrophe!“, bemerkt auch Geisteswissenschaftlerin
Lisa. Sie stammt aus Nürnberg, der zweitsonnigsten Stadt Deutschlands. Dabei schneidet Aachen insgesamt mit durchschnittlich 1552 Sonnenstunden im Jahr und auf Platz 19 der sonnigsten Städte Deutschlands gar nicht so schlecht ab.

Bis dass der Studienabschluss uns scheidet?
„Ich bin noch nie so lange an einem Ort gewesen wie jetzt in Aachen“. Für Lambrecht steht fest, dass er das kleine Städtchen so schnell nicht mehr verlassen wird. Können sich die drei Studierenden ebenfalls vorstellen, in Aachen zu bleiben?

Jana ist für das Masterstudium aus Aachen weggegangen, da sie sich nach einer neuen Umgebung gesehnt hat. „Generell könnte ich mir aber schon gut vorstellen, irgendwann wieder hierherzuziehen.“ Doktorand Moritz zieht es nach über zehn Jahren in der Karlsstadt in eine größere Stadt wie Köln. Und Geisteswissenschaftlerin Lisa ist sich noch nicht sicher, kann sich aber durchaus eine Zukunft in Aachen vorstellen.

Zurück auf dem Marktplatz. Mittendrin fällt jetzt auch vereinzelt der ein oder andere Rentner auf, der seine Füße behutsam über das Kopfsteinpflaster hebt. Vielleicht wird in vielen Jahren einer der dreien unter ihnen sein; gealtert, zufrieden und umgeben von Studierenden.

Genug genutzt

14. Juni 2016 | von

ZKS - Story (logo)

Das Internet – etwas, worauf wir uns alle verlassen. Doch was passiert, wenn es plötzlich und mit der nötigen kriminellen Energie abgeschaltet wird?
Eine äußerst kreative Kürzestgeschichte aus der Feder von Lukas Cremer aus unserem Oberseminar. Vielen Dank!

 

Martin legte den Hebel um, öffnete die Abdeckung über dem großen, roten Buzzer und drückte zu. Wenigstens kam es ihm so vor. In der realen Welt betätigte er lediglich die Enter-Taste.
“Das Internet ist aus, Chef!“
Auf dem Hauptschirm war zu sehen, wie Knoten für Knoten starb.

Frankfurt, Amsterdam, London, Moskau.
Der Verkehr über die anderen Knoten stieg an, als sie sinnloserweise versuchten, die weggebrochenen Kapazitäten zu kompensieren.

Zürich, Seoul, Tokio, Stockholm.
Martin konnte förmlich spüren, wie überall auf der Welt Techniker zu rotieren begannen. Die Endnutzer hatten noch nicht die geringste Ahnung, was kommen sollte.

Madrid, Budapest, Warschau, Ashburn.
Asche war schon immer der beste Dünger.

Hongkong, New York, Paris, Prag.
Irgendwo auf der Welt saß jemand vor seinem Computer und ärgerte sich, weil irgendein Dienst nicht lud.

Seattle, Düsseldorf, Wien, Mailand.
Martin rieb sich nervös die Hände. Auf diesen Moment hatten sie jahrelang hingearbeitet.

Bukarest, Oslo, Helsinki, Brüssel.
Stück für Stück eroberten sie die Welt. Etliche Knoten waren schon als unauffindbar gemeldet; die verbliebenen hoffnungslos überlastet.

Berlin, Ljubljana, Athen, Taipeh.
Nun funktionierte kein überregionaler Dienst mehr.

Videos, Landkarten, Nachrichten, Musikstreaming.
Sein Leben lang hatte Martin sich unterlegen gefühlt. Doch in diesen Sekunden war er wie im Rausch. Er war der mächtigste Mensch der Welt. Mehr noch, er war Gott!

Kliniken, Kraftwerke, Raffinerien, Wasserversorgungen verloren als Nächste ihre Netzwerke.
Martin weinte vor Ergriffenheit.

Gaswerke, Verkehrssysteme, Nahrungsmittelproduktion, Geldautomaten.
Das war der Moment, in dem Martin starb. Für seinen Chef war er nur ein Rädchen im Getriebe.

Auf Mission – jenseits von Monschau

13. April 2016 | von

Wir gratulieren Aline Jansen zur Veröffentlichung ihrer Reportage über einen gebürtigen Monschauer, den eine Missionsreise nach Tansania geführt hat. Der Text entstand im Rahmen unseres Seminars Journalistisches Schreiben und wurde in der Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten publiziert.

Screenshot_Jansen

Von Aline Jansen

Er ist Schreiner, Schlosser, Automechaniker und Gärtner. Er ist Ausbilder, Bauunternehmer, Firmenchef und Manager. Alles in einer Person. Und das nicht einmal in Deutschland, wo Computer und Maschinen einen großen Teil der Arbeit übernehmen. Ja nicht einmal in Europa, sondern in Afrika. Sein Job? Afrika-Missionar. Sein Name? Bruder Theo Call – der Mann für alle Fälle.

Auch in seiner alten Heimat vergisst den Missionar niemand. Im Gegenteil. Seit ein paar Jahren liegt in der Eifel fast so etwas wie ein „Theo-Fieber“ in der Luft. 2008 besucht das Ehepaar Elke und Martin Krings aus Konzen Bruder Theo in Kabanga. Und sie sind so begeistert von seiner Arbeit, dass sie den Förderverein „Bruder Theo Call, Weißer Vater der Afrika-Missionare“ zu seiner Unterstützung gründen. Seitdem rühren sie kräftig die Werbetrommel und sammeln Spenden.

Geboren wird er am 31. März 1938 in Konzen bei Monschau in der Eifel. Dort besucht er die Volksschule und beginnt mit 16 Jahren eine Lehre als Huf- und Wagenschmied in einer Konzener Schlosserei- und Schmiedewerkstatt. „Theo war ein ganz normaler Jugendlicher“, erzählt seine Schwester Regina. „Er ist gerne tanzen gegangen und hat mit seinen Freunden auch den einen oder anderen Streich gespielt.“ Außerdem ist er im Dorfleben aktiv: im Turnverein, beim Ortsverein des Deutschen Roten Kreuzes und als zweiter Bass im Kirchenchor.

Doch in dem jungen Mann schlummert ein Traum. Ein Traum, den er nur seiner Mutter verrät: Missionar möchte er werden und nach Afrika gehen, da ist er sich schon im dritten Schuljahr sicher. Seine Mutter behält das erst einmal für sich, vielleicht ist es ja nur das Hirngespinst eines Zehnjährigen.

Heute lebt Theo Call 7600 Kilometer von Monschau entfernt in Tansania, genauer: in Kigoma, der westlichsten Region des Landes, in der Nähe des Tanganjika-Sees. Die Diözese ist so groß wie die Niederlande und zählt mehr als zwei Millionen Einwohner. Hier hat Bruder Theo seine neue Heimat gefunden; in einer Missionsstation im Dorf Kabanga, 40 Kilometer von der Grenze zu Burundi entfernt. „Im afrikanischen Busch“, wie er sagt.

Er baut Kirchen, saniert Gebäude, legt Brunnen an, installiert Pumpen und Solaranlagen. Und das in der ganzen Diözese. Alles, was gebaut wird, läuft über ihn. Von den Zeichnungen über die Berechnungen bis hin zur Ausführung: In Kigoma macht das alles das staatlich anerkannte „Ein-Mann-Unternehmen“ Bruder Theo.

Kabanga entwickelt sich durch ihn zu einem Schwerpunkt für die ganze Region, denn hier steht eines der wichtigsten Häuser. Weiß gestrichene Fassade, ein großes Eingangstor, zu dem sechs Stufen führen, davor eine grüne Wiese und ein paar schattenspendende Bäume: das Krankenhaus mit Chirurgie, Geburtsstation, Zahnarztpraxis und einem separaten Gebäude für Leprakranke. Und mit Strom und fließendem Wasser. Eine Seltenheit in dieser Einöde fast ohne Technik.

Eine Turbine versorgt Missionsstation, Krankenhaus, Werkstätten und die Schule in Kabanga seit 17 Jahren mit Strom. 1984 heben der „starke Mann“, wie die Einheimischen Call nennen, und seine Arbeiter einen Stausee aus – mit Spaten. Ihn speist das Regenwasser und der kleine Karunga-Bach. Die Wasserkraft treibt eine Turbine an und vier Kilometer lange Hochspannungsleitungen transportieren den Strom ans Ziel. Rund um den See sind 50.000 Bäume angepflanzt worden, „die ziehen den Regen an und der Boden kann das Wasser besser speichern“, erklärt der 77-Jährige. Fast 15 Jahre vergehen, bis das erste große Projekt vollendet ist.

Calls Glaubensweg beginnt 1960 mit einem Postulat und einem anschließenden Noviziat. 1967 bildet er sich mit einem Fernkurs über Statik und Bautechnik weiter. Außerdem schickt der Orden ihn für drei Monate nach London, um Englisch zu lernen. Denn in Afrika spricht niemand Deutsch, und erst recht kein „Eifeler Platt“.
Aufbruch in ein neues Leben

Am 4. Dezember 1967 ist der große Tag gekommen: Aufbruch in ein neues Leben in einem fremden Land, unter fremden Menschen, mit einer fremden Sprache und Kultur. Von Düsseldorf über Amsterdam und Rom nach Uganda und weiter nach Tansania. Nach vier Tagen erreicht der 29-Jährige sein Ziel: Ujiji, knapp 100 Kilometer von Kabanga entfernt.

Dort arbeitet er in der Autowerkstatt eines Mitbruders, Pater Fulgens Hirt aus Konstanz. 1970 besteht Call die Prüfung als Kfz-Mechaniker in Köln, übernimmt nach Pater Fulgens‘ Tod die Werkstatt und zieht mit ihr nach Kabanga um. Zusätzlich baut er eine Schreinerei, eine Schlosserei und ein Sägewerk auf, die er bis heute mit seinen Arbeitern betreibt.

Das neueste Vorhaben des Missionars entpuppt sich als Mammutprojekt: der Bau eines 125 KW-Wasserkraftwerks zur Stromerzeugung für das „Bischöfliches Knabenseminar St. Josef“ in Iterembogo, 80 Kilometer von Kabanga entfernt. 600 junge Männer werden dort unterrichtet und auf die Priesterlaufbahn vorbereitet. Zum Priester geweiht werden aber nur vier oder fünf aus jedem Jahrgang. „Aber das ist in Ordnung. Hauptsache, die jungen Leute erhalten eine gute Bildung“, findet Call.

Die Idee, auch dort eine Turbine zu installieren, ähnlich der in Kabanga, geistert bereits seit Jahren in seinem Kopf herum. Jetzt nimmt das Projekt langsam Form an: In den vergangenen drei Jahren haben 50 Arbeiter einen 600 Meter langen, 2,10 Meter breiten und 1,50 Meter hohen Kanal mit Hacke und Schaufel ausgehoben. Wirkliche Handarbeit. Die Männer stehen barfuß auf Geröllhaufen, völlig verstaubt. Acht Stunden am Tag bei sengender Hitze, nur mit Shorts bekleidet. Meter für Meter graben sie sich voran. Einzige Gemeinsamkeit mit deutschen Baustellen: die gelben Schutzhelme.

Die Afrika-Missionare kommen aus Europa, Amerika und mittlerweile auch aus Afrika selber, zum Beispiel aus Schulen wie St. Josef. 1405 von ihnen leben in 20 Ländern Afrikas und 13 übrigen Ländern der Welt. Neben Bruder Theo arbeiten 33 Mitbrüder in Tansania, davon vier Deutsche. Das typische lange, weiße, wallende Gewand bringt ihnen schon bei der Ordensgründung 1868 den Beinamen „Weiße Väter“ ein. Heute verzichten sie lieber darauf, denn er wird – fälschlicherweise – oft mit der Hautfarbe der Mitglieder gleichgesetzt.

Theo Call möchte den Menschen Hilfe zur Selbsthilfe geben. „Glaubensverkündung durch praktische Arbeit“ nennt er das. Manchmal braucht er dafür aber viel Geduld, denn die Menschen mögen keine Veränderungen. Deshalb sind Fortschritte schwer zu erreichen. „Hier will kaum mal einer etwas anderes tun als die anderen. So wie es der Großvater gemacht hat, so machen es auch noch die Jungen“, erzählt der Eifeler.

Ein anderes großes Problem: Korruption. Das ist auch bei einem aktuell brisanten Thema zu spüren: der Verfolgung der Albinos. Albinos sind Menschen, denen durch einen seltenen Gendefekt das Pigment Melanin fehlt. Ihre Haut ist nicht dunkel, sondern hell, genau wie ihre Haare. Sie werden regelrecht gejagt und verstümmelt oder umgebracht, denn selbsternannte Medizinmänner verbreiten einen schrecklichen Aberglauben. Die „Heiler“ brauen aus Körperteilen und Organen der Albinos kannibalische Zaubertränke, die Glück und vor allem Reichtum versprechen.

Seit 2000 sind mindestens 75 Albinos ermordet worden; und das ist nur die offizielle Zahl. Besonders bedroht sind Kinder: Mörderbanden entführen sie aus den Hütten ihrer Eltern und töten sie brutal. Manchmal werden sie sogar von Nachbarn, Freunden oder der eigenen Familie gegen Bezahlung verraten, denn wenn es um Albinos geht, winkt bares Geld. Ein Fuß oder eine Hand sollen umgerechnet 3500 Euro, ein ganzer Körper 70.000 Euro einbringen. Sehr viel Geld, denn das Durchschnittseinkommen in Tansania liegt bei 500 Euro im Jahr.

Sichere Anlaufstellen für Albinos gibt es in Tansania nur sehr wenige. Eine davon liegt in Kabanga. Seit Jahren kommen Albinos zu Bruder Theo, der sie in einer Blindenschule unterbringt – schon lange bevor die Regierung das Problem ernstnimmt.

Heute platzt die Schule aus allen Nähten: Blinde und Behinderte plus 70 Albinos. 150 Kinder. Eigentlich viel zu viele, aber: „Hier sagt man nicht, wir haben Platz für 40 oder 50 Kinder. Nein, hier sagt man, wir haben Platz für alle“, meint Call. Weitere Schlafsäle hat er bereits gebaut, denn die Kleinkinder kommen meistens mit ihren Müttern. Manchmal liefern die Eltern ihr Albino-Kind auch einfach ab und verschwinden.

Die Kinder können in Kabanga zur Schule gehen, ansonsten bleibt ihnen keine Freiheit. Sie leben hinter hohen Wänden mit eingemauerten Scherben, damit niemand herüberklettert, gesichert durch ein Eisentor, das abends verschlossen und von Polizisten bewacht wird. Wenn die Kinder volljährig sind, verlassen sie die Schule und machen Platz für die nächsten. Manche kehren in ihre Dörfer zurück. Wie lange sie dort überleben? Das weiß niemand.

Mut und unermüdliche Kraft für seine kleinen und großen Projekte schöpft Bruder Theo aus seinem Glauben. Er ist überzeugt, dass Jesus letzter Satz im Matthäus-Evangelium zutrifft: „Seit gewiss, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“ Er glaubt daran, dass Gott ihm auch in schweren Zeiten zur Seite steht.

Zweimal hat er bereits die tückische Malaria überlebt, und mit seinen 77 Jahren ist er immer noch ziemlich fit – in einem Land, in dem die Lebenserwartung bei knapp 61 Jahren liegt.

Schreiben, Sprache, Kreativiät – zwei Wochen Praktikum beim ZKS

22. Januar 2016 | von

Anna-Maria Cipetic hat bei uns zwei Wochen lang hinter die Kulissen geschaut und in ihrem Schulpraktikum viel erlebt. Was alles passiert ist, erzählt sie euch exklusiv in einer kleinen Reportage.

Anna-Maria Cipetic

Anna-Maria Cipetic

Schreiben, Sprache,  Kreativiät – zwei Wochen Praktikum beim ZKS

von Anna-Maria Cipetic

Es ist Montag. Zwei Studierende plaudern miteinander vor einem Raum in der Uni. Der Flur ist noch ziemlich leer. Wie viele werden wohl noch kommen? An einen Hörsaal mit tausend Sitzplätzen und Massen von Studierenden erinnert dieser Kurs wohl kaum. Denn diese Veranstaltung ist auch an der RWTH Aachen etwas Besonderes. Wo sonst Mathe, Technik und Maschinenbau gelehrt werden, dreht sich heute alles ums Schreiben. Dozent Christoph Leuchter schließt die Tür auf. Knapp vor Kursbeginn kommen die letzten Studierenden mit Thermosbecher in der Hand in den Raum. Nun ist die Gruppe komplett. Leuchter begrüßt alle und der Kurs beginnt.

Training Schriftsprache ist nur einer von vielen Kursen, die das Zentrum für Kreatives Schreiben der RWTH Aachen anbietet. Im Zentrum für Kreatives Schreiben (ZKS) haben Studierende die Möglichkeit, ihre Texte und Schreibkompetenz zu verbessern: Das Kursangebot reicht von wissenschaftlichen Arbeiten bis hin zu journalistischen Texten. Die Studierenden kommen dabei aus allen Fachbereichen. Christoph Leuchter leitet das ZKS seit 2012. Vorher arbeitete er als Lektor in Verlagen und als Texter für Agenturen – außerdem schreibt er gerade an seinem dritten Roman.

Und ich – ich bin auch in Training Schriftsprache mit dabei. Anna-Maria Cipetic ist mein Name, ich bin Schülerin der 9. Klasse und ich mache ein zweiwöchiges Praktikum am ZKS. Ich habe mich bewusst für ein Praktikum entschieden, das mit dem Schreiben zu tun hat. Schreiben ist für mich wie eine Befreiung. Wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, eine Struktur in meine Gedanken zu bekommen. Deshalb kann ich mir auch gut vorstellen, später einmal mit Sprache zu arbeiten. Doch wo? Es gibt so viele Berufsmöglichkeiten und am ZKS lerne ich verschiedene Schreibstile kennen.

Halbzeit in Training Schriftsprache. Christoph Leuchter hat in der letzten Stunde journalistische Schreibtechniken besprochen. Wie baue ich den Text auf? Wie bringe ich meine Beobachtungen anschaulich für die Leser aufs Papier? Diesen Fragen stellen sich die Studierenden im Kurs. Und nehmen auch für wissenschaftliche Texte mit, dass es immer gut ist, sich kurz zu halten.

Doch natürlich gibt es auch große Unterschiede zwischen den Textsorten. Cornelia Czapla ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZKS und ihr Spezialgebiet ist das wissenschaftliche Schreiben. Doch warum sollten Erwachsene noch etwas über das Schreiben lernen, nachdem sie ihr Abitur bereits gemacht haben? „Texte spielen auch für den späteren Beruf der Studierenden eine immer größere Rolle “, sagt Christoph Leuchter. Deshalb sei es wichtig, die Fähigkeit, gute Texte zu schreiben, immer weiter zu verbessern.

Es ist Mittwoch. Ich fahre mit dem Bus und steige an der Unibibliothek aus. Gespannt warte ich vor dem Eingang auf Cornelia Czapla. Wir betreten schließlich gemeinsam das Gebäude und fahren mit dem Aufzug in den dritten Stock. Ein Rundgang durch die Bibliothek: Bücherreihen voll mit Maschinenbauliteratur – ein Thema, womit ich mich in der Schule nie beschäftige. Und selbst die älteren Computer – in Kastenform – werden noch genutzt. Das hätte ich nie gedacht. Aber an anderen Ecken ist die Bibliothek modern. Vor allem im neuen Bibliotheksgebäude haben die Studierenden mehr Möglichkeiten, sich in Lesesäle zurückzuziehen und können sogar ihre Bücher über ein Online-Verfahren ausleihen.

Aber in meiner Praktikumszeit habe ich nicht nur Kurse, wie Training Schriftsprache oder Wissenschaftliches Schreiben, besuchen können. Genauso habe ich das Zentrum bei täglichen Arbeiten kennengelernt und unterstützt: Ich habe E-Mails und Briefe geschrieben; war bei Homepage-Meetings und Social-Media-Treffen mit dabei; habe Texte mitlektoriert und gelernt, wie man die Angst vorm leeren Blatt überwindet. Sogar Einzelcoachings zum Journalistischen Schreiben und zur Textüberarbeitung habe ich bekommen und die Unterschiede beim Schreiben in Wissenschaft, Journalismus und PR kennengelernt.

Während der Zeit beim Zentrum für Kreatives Schreiben fühlte ich mich wirklich wie ein Teil des Teams. Am Anfang war ich ziemlich gespannt und aufgeregt, da ich als Schülerin das erste Mal an einer Uni war, aber zum Schluss habe ich mich gut eingelebt und hatte vor allem viel Spaß. Die Zeit beim ZKS war für mich ein tolles Erlebnis und ich werde viele Erfahrungen mit in die Schule nehmen.

Morgens, halb acht, in Deutschland

07. September 2015 | von

Kippe

 

 

Irgendwo zwischen Kippen, Kraftlosigkeit und Konsum. Katharina Schäfers Kurzgeschichte  erzählt von  „ganz normalen“ Impressionen aus dem Studentenleben. In unserem Oberseminar: Texte in Arbeit ist folgender Text entstanden.

 

 

 

„Morgens, halb acht, in Deutschland“

Heute ist Mittwoch. Hoffe ich. Ich reibe mir die verschlafenen Augen. Kriege sie einfach nicht richtig auf. Obwohl es noch früh ist, scheint die Sonne erbarmungslos auf mich herunter. Nur auf mich. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass alle anderen dem Wetter entsprechend gekleidet sind. Hier sieht man Shorts. Da ein Kleidchen. Viele Sandalen – zum Glück ohne Socken. Gestern war es noch nicht so warm. Aber gestern war eben gestern. Was gestern gut war, muss es heute nicht mehr sein. Vor allem keine schwarze Hose mit schwarzem Tanktop. Ich rieche an mir, erwarte schon das Schlimmste. Werde nicht enttäuscht: Mir schlägt ein süßlicher Geruch entgegen. Eine Mischung aus Rauch, viel Schweiß und … „Zucker“? So genau will ich es dann doch nicht wissen. Verstohlen blicke ich mich um. Hat es noch jemand gerochen? Muss ich flüchten? Bisher scheine ich unbemerkt zu sein. Bisher.

Trotzdem entschließe ich mich, nicht den Bus zu nehmen. Sicher ist sicher. Es ist halb acht. Noch eine halbe Stunde, bis ich da sein muss. Das schaff’ ich locker zu Fuß. Als ich loslaufe, merke ich, warum ich eigentlich den Bus hätte nehmen sollen. Knie und Füße schmerzen. Damit meine ich nicht das unangenehme Ziehen, das man manchmal hat. Nein. Damit meine ich die Art Schmerzen, bei denen die Muskeln zucken. So als würden sie nach einer Erholungspause betteln. Kein Wunder, wirklich gesessen habe ich heute Nacht nicht. Zum Glück ändert sich das bald. Also werde ich sitzen, egal was bei den Übungen erwartet wird. Sollte jemand überhaupt etwas erwarten. Vielleicht komme ich gar nicht dran bei den motivierten Mitstreitern. Man wird sehen.

Mein Weg führt mich an Bäckereien, Outlets, Sportgeschäften, zwei Beate-Uhse Läden und noch weiteren Konsumhöllen vorbei. Ich kann die dekorierten Schaufenster förmlich rufen, schreien, betteln hören: „Du brauchst mich! Nimm mich! Für 19,99 € bereichere ich dein Leben!“ – Kurz bin ich versucht ihnen zu glauben. Dabei habe ich diesen Monat, wenn’s hochkommt, nur noch hundert Euro zur Verfügung. Und es ist erst der Zehnte. Von dem Geld muss ich als brave Bürgerin noch meine Versicherung bezahlen. Ach ja, und Essen. Auch wenn ich mich zurzeit gar nicht nach Essen fühle. Erscheint mir ewig her, dass ich Essbares überhaupt gesehen habe. Außer meinem Zucker. Als ich noch jünger gewesen bin, dachte ich … Nun, um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht so recht, was ich dachte. Dass Kippen, Cocktails und Härteres zauberhaft sind wahrscheinlich. Nun weiß ich es auf jeden Fall besser, aber gebessert hat sich dadurch nichts. Kleider, Essen, Drogen … Wer will schon auf Konsum verzichten?

Kurz vor acht taucht dann endlich mein Ziel am Horizont auf. Fraglich, ob dieses Bild passt, aber ich mag den Gedanken. Hat etwas Romantisches und Abenteuerliches, dieser Horizont. Es macht die Realität schöner. Während ich die letzten Meter mehr schlecht als recht laufe, durchzuckt mich ein Gedanke. Bin ich überhaupt auf das, was folgt, vorbereitet? Kann ich das? Viel wichtiger: Will ich das überhaupt? Wenn es dunkel ist, kann man diese Gedanken leicht in den Hintergrund drängen wie einen Haufen dreckiger Wäsche. Sie scheinen dann nicht mehr Teil von einem selbst zu sein. Man ist dann selbst jemand anderes. In diesen Momenten ist es leicht, davon zu sprechen, dass man etwas Bestimmtes „will“. Vielleicht ja deshalb Konsum. Immer und immer mehr Konsum. Intensiver, harter Konsum. Ich muss niesen. Fühl´ mich schwach. Nicht jeder Konsum ist gesund. Aber er hilft. Man bleibt bei Atem. Man hält durch. Natürlich vergisst man auch. Zumindest manchmal.

Vor der Tür bleibe ich stehen. Mein Kopf quillt über vor Zweifel. Scheint gleich zu explodieren. Alles, was jeder will, ist Freiheit. Oder? In diesem Moment geht die Tür auf. Es kommen junge, fröhliche, sich laut unterhaltende Leute raus. Ich schaue in ihre unbeschwerten Gesichter. Plötzlich fühle ich mich besser, leichter.

Brüder und Schwestern

03. August 2015 | von

Kücken

Pfannkuchen, Nudeln, Torten oder einfach als schlichtes Spiegelei. In unheimlich vielen Lebensmittelprodukten sind Eier verarbeitet. Doch woher kommen diese Eier eigentlich? Und was passiert mit den männlichen Kücken, die keine Eier legen können? Steckt vielleicht doch mehr hinter dem so oft als „Hippstergehabe“ verpöhntem veganen Lebensstil? Constanze Schreck hat in unserem Oberseminar: Texte in Arbeit diese gesellschaftskritische Debatte einmal aufgegriffen. Sie erzählt von:

Brüder und Schwestern

„Will er dann auch mit meinen Sachen spielen, wenn er da ist?“, fragt Pia, die auf der Rückbank sitzt, während sie an ihrem Apfel nagt.

„Das sehen wir alles, wenn er bei uns ist, mein Schatz. Du kannst ihm dann zeigen, was du schon kannst. Aber zuerst hast du ab nächster Woche Sommerferien und da fahren wir zu Oma auf die Insel.“

Sie scheint, mit dieser Antwort zufrieden zu sein. Wir sind da. Pias Lieblingserzieherin Katja begrüßt uns mit einem herzlichen Lächeln auf dem Flur der Kita. Auch ich habe sie sehr gerne. Sie hat uns in schweren Zeiten schon viel geholfen.

„Guten Morgen ihr Zwei. Alles gut bei Euch?“

Ich nicke zögerlich und blicke ihr in die Augen.

„Gibt es Probleme?“, fragt sie und zeigt besorgt auf meinen Bauch.

„Nein, nein! Das nicht. Es ist nur… Pia, geh doch schon rein. Ich hole dich nach der Arbeit ab!“

Ich nehme sie in die Arme, drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und sehe ihr noch kurz nach, wie sie zur Tür ihrer Gruppe reingeht. Ihre grün-gelben Gummistiefel sind ihr eigentlich schon viel zu klein. Aber für neue reicht das Geld zurzeit nicht.

„Ich weiß nicht, wie ich es noch länger auf der Arbeit aushalten soll. Es wird immer anstrengender, aber ich kann es ihnen nicht sagen. Sonst bin ich raus.“

„Irgendwann musst du es aber tun, Linda. Die Fabrik ist kein Ort für eine Frau, die ein Kind erwartet.“

„Du hast ja Recht, Katja. Wir werden sehen. Bisher geht es noch.“

„Wirst schon wissen, was du tust“, sagt sie achselzuckend.

„Bis später!“ Nachdenklich gehe zu meinem Wagen und fahre weiter.

 

Angekommen auf dem riesigen Parkplatz stelle ich fest, dass ich schon vor zehn Minuten hätte da sein müssen. Während der gesamten Fahrt war ich mit meinen Gedanken woanders. Ich krame meine Handtasche aus dem Kofferraum und gehe eilig zum großen Eingangstor. Der Mann an der Pforte muss neu sein, zumindest habe ich ihn hier noch nie gesehen. Er wirft einen kurzen Blick auf meine Karte und nickt, bevor er sich wieder seiner Bild-Zeitung zuwendet. Nach dem Umziehen schließe ich meine Tasche im Spind ein.

„Nicht nachdenken, Linda“, sagt eine Stimme in meinem Kopf.

Durchatmen.

Gedankenlos steuere ich auf die erste Schleuse zu. Duschen, desinfizieren. Die zweite Schleuse. Duschen, desinfizieren. Helge sieht mich und kommt auf mich zu.

„Moin, Lisa. Du bist spät. Du bist heute in Halle 4.“

Die dritte Schleuse. Duschen, desinfizieren. Dann stehe ich in Halle 4. Das Rattern der Fließbänder kann ich mittlerweile ganz gut ausblenden.

Ich schaue mich um, und eine grauhaarige Frau zeigt mir mit einer Kopfbewegung, wo heute mein Platz ist. Direkt neben ihr. Ich habe ihren Namen vergessen. Ich bin selten in dieser Halle. Zum Glück!

„Wie war das nochmal?“, frage ich sie.

„Die Guten nach links, die Schlechten nach rechts.“ Die Schlechten? Mir wird kurz übel bei diesem Gedanken. Ich lege meine Hand auf den Bauch und schließe die Augen. Nur für einen kurzen Moment. Hoffentlich hat es niemand gesehen.

„Kann‘s losgehen?“, brüllt Helge von oben. Wir nicken. Dann geht es los. Schweigend stehen wir nebeneinander und machen unsere Arbeit. Was anderes ist es nicht. Nicht mehr und nicht weniger. Zumindest dann nicht, wenn es mir gelingt, an etwas anderes zu denken. In Gedanken richte ich das Zimmer meines ungeborenen Sohnes ein.

 

Am Anfang fiel es mir schwer, mit einem Blick zu erkennen, ob das, was ich in der Hand halte, nach links oder nach rechts geworfen werden muss. Außerdem habe ich mich zunächst geweigert, sie zu werfen.

„Anders geht es aber nicht“, meinte Helge damals kopfschüttelnd, „sonst dauert es viel zu lange. Das können wir uns nicht leisten.“

Als ich zum ersten Mal durch die Hallen geführt wurde, blieb ich in Halle 5 wie angewurzelt stehen, als ich sah, was mit denen passiert, die sie die ‘Schlechten‘ nennen. Sie werden von riesigen rotierenden Messern geschreddert. Dann werden sie mit Schaufeln wie Schnee auf einen Haufen geschoben und in Müllcontainer verladen. Das war meine Aufgabe am ersten Tag. Von diesem Moment an, habe ich nie wieder ein Ei geschweige denn Fleisch gegessen. „Einer muss es ja machen“, heißt es hier immer. Und in der Mittagspause essen sie wie immer ihre Brathähnchen und Spiegeleier in der Kantine.

 

Wie in Trance ziehen acht Stunden und das Fließband an mir vorüber. Meine Füße schmerzen. Keine Ahnung wie viele Wochen ich noch durchhalten kann. An der frischen Luft geht es schon wieder besser und ich werde zum ersten Mal an diesem Tag hungrig.

In der Kita kommt Pia direkt auf mich zu gerannt, als ich zur Tür reinkomme.

„Mama, Mama! Heute Mittag haben wir Pfannkuchen gegessen. Ich liebe Pfannkuchen! Die haben aber ganz anders geschmeckt als zu Hause.“

Ich lege meine Stirn in Falten und ziehe meine Augenbrauen hoch. Katja, die direkt neben uns steht, sieht mich überrascht an.

„Was ist los, Linda?“

„Katja, du weißt zwar wo ich arbeite, aber ich denke, dir ist nicht klar, was wir dort tun.“

Verwirrt schüttelt Katja den Kopf.

„Pia, holst du bitte deinen Rucksack?“

Sie verschwindet.

„Jeden Tag, werden in der Fabrik neunzigtausend weibliche Küken über Fließbänder in große Kisten verfrachtet und ‘versandfertig‘ gemacht. Ihre neunzigtausend Brüder werden gehäckselt. Nur wenige Stunden nach dem Schlüpfen. Für sie gibt es keine Verwendung. Ich will nicht, dass das für mich getan wird. Zu Hause essen wir keine Eier und kein Fleisch. Nicht mehr, seitdem ich das gesehen habe.“

Katja stutzt und sieht mich mit großen Augen an.

„Das… das wusste ich nicht. Aber Kinder brauchen das doch. Zum Wachsen!“

„Du siehst ja, dass es auch anders geht.“

Pia kommt zurück und hält mir ihren blauen Schmetterlings-Rucksack entgegen. Ich klemme ihn mir unter den Arm, nehme Pias Hand, und wir verabschieden uns.

Und Katjas Blicke folgen uns bis sich die Tür hinter uns schließt.

Fragen an: Bernd Büttgens, Pressesprecher der Stadt Aachen

09. Juni 2015 | von

IMG_1349Die erste Veranstaltung unserer hauseigenen Reihe „Fragen an…“ war ein voller Erfolg. Bernd Büttgens hat uns am 21. Mai in der BIB II erzählt, wie die Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Aachen funktioniert. Es wurde aus dem Nähkästchen geplaudert, aber auch der Beruf im Bereich PR kritisch hinterfragt.

Was haben wir mitgenommen?

1.  Journalistische Kenntnisse sind für jeden guten PRler eine wichtige Sache!

 

2.  Wer gerne mit Menschen arbeitet und einen vielseitigen Beruf haben möchte, ist im PR Bereich genau richtig.

3. Ein guter Pressesprecher schafft es Themen so interessant zu verkaufen, dass sie auch in die Zeitung kommen.

4. Das Wichtigste ist: immer bei der Wahrheit bleiben (…und zur Not einfach nicht alles erzählen 😉 ).

Im nächsten Semester haben wir wieder einen neuen Experten für euch eingeladen. Mehr dazu gibt`s bald.

Regenzeit – ZKS Story

27. April 2015 | von

regen II

 

Draußen regnet’s und ihr habt Lust auf Pizza? Da haben wir jetzt genau das Richtige für euch: eine Kurzgeschichte aus unserem Oberseminar: Texte in Arbeit.

Christine Hendriks versteht wie man unsere Gesellschaft durch eine scheinbar subtile Alltagssituation kritisieren kann. Taucht ein in die Zukunft mit quadratischer Paprikapizza und gefährlichem Regen und/oder gefährlichem Reden…

 

 

 

Regenzeit

 

Fira ist mit ihrer Mutter in der Innenstadt unterwegs. Es ist warm und regnet in Strömen wie jedes Jahr an Weihnachten. Graue Rinnsale umspülen ihre Gummistiefel.

Gut, dass ich dein Kleid eben noch imprägniert habe. Firas Mutter hat es eilig.

Mama, ich hab Hunger. Keine Antwort. Fira versucht mit den großen Schritten mitzuhalten. Eine Windböe weht ihr beinahe den Regenhut vom Kopf.

Seufz. Ihre Mutter bleibt stehen, drückt ihr den Hut fest auf den Kopf und macht den Gummizug einhändig fest. Der Regen ist ungesund.

Ich weiß. Mama, ich hab HUNGER!

Quälgeist.

Fira lacht zufrieden. Sie lassen sich zu einer kleinen Pizzeria führen. Es ist voll und der Boden bedeckt mit Pfützen. An der Theke sind noch drei Hocker frei. Fira betrachtet die Abbildungen und sucht sich eine Pizza mit Paprika aus. Die hatte ihre Oma früher immer gebacken, mit roten Paprika von ihrem Balkon. Leider war sie vor zwei Jahren bei einem Unwetter gestorben und den Balkon gab es auch nicht mehr. Fira bestätigt ihre Wahl. Vielen Dank für ihre Bestellung. Noch 15 Minuten bis zum Servieren.

Kind, du musst was trinken.

Fira nickt und schlürft die Cola durch einen dicken Strohhalm. Dabei zeigt sie ihrer Mutter die Ergebnisse vom letzten Test in Rechtschreibung.

Fast kein Fehler, sehr schön. Daumen hoch.

Fira freut sich.

Noch 10 Minuten bis zum Servieren. Sie schaut aus dem Fenster auf die Straße. Die Wassermassen sammeln sich in einer Rinne in der Mitte der Straße und fließen von da aus in den großen Kanalschacht. Menschen laufen mit gelben Plastikrucksäcken am Fenster vorbei. Es kribbelt in Firas Händen.

Schau mal. Ein alter Mann steht in der Tür der Pizzeria. Er trägt ein unförmiges Regencape und schüttelt einen Stock mit einer Halbkugel aus Stoff, sodass Regentropfen in alle Richtungen spritzen. Die Leute rümpfen die Nase und drehen sich weg. Er faltet das Ding zusammen und lässt seine glänzenden Augen über die Tische gleiten. Schließlich fällt sein Blick auf den letzten freien Hocker neben Fira. Er lächelt und setzt sich.

Mama, ich hab Angst.

Das ist nur ein Stummer. Und vor dem Schirm brauchst du keine Angst zu haben. Fira betrachtet ihn aus dem Augenwinkel, während er den Plastikumhang ablegt. Darunter kommen oben ein weißes Shirt mit hohem Kragen mit zwei spitzen Ecken und unten eine grobe blaue Hose zum Vorschein. Das sieht komisch aus.

Mama, er imprägniert nicht. Warum?

Er ist zurückgeblieben.

Noch 5 Minuten bis zum Servieren. Fira spürt das Grummeln in ihrem Bauch, aber der alte Mann hat ihre Neugier geweckt. Sie will ihn kontaktieren. − Er hat keine Nummer! Ihr Blick fällt auf seine leeren Hände und Fira zuckt zusammen. Er ist wirklich stumm. Der Mann schaut die Bedienung an und macht merkwürdige Gesten. Fira versteht nicht, was er meint, aber die Frau scheint ihn zu kennen. Sie stellt ihm mit der rechten Hand einen großen Bierkrug hin. Er nimmt ihn in beide Hände und hebt ihn direkt an den Mund. Igitt. Fira schüttelt sich. Kann er denn nicht das Trinkrohr benutzen? Sie schlürft an ihrer Cola.

Hier ist deine Pizza. Die Bedienung balanciert einen Teller vor sie hin. Darauf ist die viereckige Paprikapizza, in handliche Quadrate geschnitten. Fira entkoppelt ihre rechte Hand vom Sel-phone, nimmt sich ein Stück und beginnt zu essen.

„Guten Appetit, Kleine.“ Fira schielt zu dem alten Mann hoch, als sie die merkwürdigen Laute hört. Seine Augen schauen sie aus tiefen Höhlen an und er bewegt die Lippen.

Mama, ich mag keine Stummen.

Er tut dir nichts. Lass es dir schmecken.